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Der Raubzug

von Wolfgang Bauer
ZEITmagazin vom 02.05.2024

Die Reportage begleitet eine Gruppe philippinischer Fischer, die inmitten des eskalierenden Konflikts zwischen einem zunehmend aggressiv auftretenden China und allen Nachbarstaaten als Blockadebrecher am Scarborough-Atoll im südchinesischen Meer nach Zier- und Speisefischen jagen. Das Leben der Fischer ist geprägt von Alkohol, Wettschulden, zunehmender Überfischung und einem lebensgefährlichen Job (Taucherkrankheit), aber auch von der Expansion Chinas, das ihnen den Zugang zu Fischereigründen verwehrt, militärische Drohgebärden vollführt und rund um Taiwan Atolle zu künstlichen Inseln als Basis für Störsender ausbaut. Nach Meinung der Philippinen sei ein Krieg unvermeidbar.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt. Tabellen und Grafiken werden in einem separaten PDF zugänglich gemacht.

Der Raubzug

"Es gibt drei Arten von Menschen.
Die Lebenden,
die Toten
und die, die zur See fahren."
Aristoteles

Der Plastikstrick, der scharfkantig ist und spröde, schneidet sich in das Fleisch ihrer Hände. Fest umgreifen ihn die beiden Männer und ziehen, Zug um Zug, bis das Meer den rostigen Stahl preisgibt, zwei verschweißte Stangen, ein Kreuz, der Anker der La Salvia, was "die Erlöserin" heißt.
Das Schiff dreht sich mit der Strömung zum offenen Meer. Es ist spät geworden, viel zu spät, sie hatten die Dunkelheit meiden wollen. Doch jetzt senkt sich die Sonne über die Bucht. "Wo bleibt ihr?", brüllt der Schiffseigner Jeofrey Elad zum Strand hinüber. Ein großer Mann, der alle anderen Männer überragt. Kurz vor der Abfahrt ist ihm aufgefallen, dass die Besatzung noch nicht vollzählig ist. Er ruft lautstark. Er wartet, fassungslos mit hängenden Armen, und sieht zum Strand.
Nur schwer lösen sich an diesem Tag die Männer vom Land. Torkelnd erscheinen sie im letzten Licht der Dämmerung am Ufer. Dante, der Schiffskoch, betrunken. Ein anderer, betrunken. Vier, fünf weitere Nachzügler setzen schwankend auf kleinen Booten zum Schiff über. Ihre Frauen im Dorf wollten sie nicht gehen lassen. Die kleinen Kinder haben geweint. Bis zur letzten Minute haben die Männer ihr Leben zur Gänze fühlen wollen, auf ihre Art, mit Suff und Kartenspiel. Jeder trägt eine Plastiktüte mit wenigen Habseligkeiten. Sie wissen: Wo diese Fahrt hinführt, brauchen sie nicht viel Gepäck.
Auf ein Zeichen von Jeofrey wirft der Kapitän den Motor an. Er heißt Biany Mula, aber alle nennen ihn Dong, klein und kräftig, 53, die ergrauenden Haare orange gefärbt. Er steuert das Boot aus der Bucht von Masinloc, einer kleinen Hafenstadt an der Westküste der Philippinen. Vulkane steigen im Landesinneren auf. Von ihren Hängen ziehen sich grüne Wälder bis hinunter zur Küste. Dong steht nicht wie andere Kapitäne hinter dem Steuer, er schwebt über ihm, in einem Netz, das er in die offene Dachluke des Ruderhauses gespannt hat. Darin sitzt er wie in einer Hängematte, den Kopf über dem Dach, mit Sicht nach allen Seiten, die Füße auf dem Steuer.

Die Abfahrt

Das Schiff, das auf dem offenen Meer zerbrechlich wirkt, ist 20 Meter lang, zwei Meter breit, hat flache Ausleger zu beiden Seiten, ähnelt mehr einer Spinne als einem Boot, aus ihm ragen zehn Beine aus Holzstämmen, die ein Deck aus Bambusbrettern tragen. Bangkas nennen die Philippiner Boote dieser archaischen Bauweise. Die Konstruktion besteht fast nur aus Holz und existiert mit nur wenigen Änderungen seit Jahrtausenden. Die Polynesier, das erste Volk, das die Inselwelt Asiens besiedelte, haben sich mit ähnlichen Modellen über die Ozeane bewegt.
Mit einer Crew von 19 Männern steuert Kapitän Dong Kurs Südsüdwest. Es ist der Beginn eines Fischzuges, von dem sie sich reiche Beute versprechen. Sie alle wissen, dass sie dafür ein hohes Risiko eingehen. Ihr Ziel liegt 16 Stunden entfernt, 240 Kilometer draußen im Meer. Sie steuern eine einsame Erhebung im Meeresboden an, auf der sich über Jahrtausende Korallen angesiedelt haben. Hartnäckig, Schicht um Schicht, wuchsen sie dem Licht entgegen. Ein Triumph des Lebens. Ein Atoll. Das Scarborough Shoal.
Für die Fischer ist es einer der letzten reichen Fischgründe. Und für die internationale Diplomatie das mögliche Epizentrum des nächsten großen Bebens, das bald die Welt erschüttern könnte.
Der Ozean, der vor ihnen liegt, hat viele Namen. Die Briten, als sie noch Asien dominierten, nannten ihn den dangerous ground. Die Chinesen nennen es das Südchinesische Meer, die Philippiner die Westphilippinische See. Die Vietnamesen sagen ihrerseits Ostsee. Indonesiens Regierung hat große Teile erst kürzlich in Nordsee umgetauft. Sie ist um ein Drittel größer als das Mittelmeer. Ein Gewässer, das nur kleine und kleinste Inseln birgt, ein paar Quadratmeter groß, manche nur fußballgroße Felsen, die aus dem Wasser ragen. Doch wer dieses Meer kontrolliert, kontrolliert den Zugang zu Taiwan, das nördlich liegt. Wer die Atolle dieses Meeres beherrscht, beherrscht eine der wichtigsten Achsen der Globalisierung – die Schifffahrtswege zwischen Asien, Europa und Amerika.
Viele Nationen reklamieren die Macht über diese Welt der Atolle für sich, doch ein Land ist besonders gierig: die Volksrepublik China. In den vergangenen Jahrzehnten ist China mit Küstenwachschiffen immer tiefer in das Gewässer vorgedrungen, hat ein Eiland nach dem anderen besetzt. Chinas Schiffe blockieren die Schiffe anderer Nationen, rammen sie, tun alles, um ihnen den Zugang zu den Atollen zu verwehren – nur schießen tun sie noch nicht.
"Wir werden nicht einen Zentimeter Land aufgeben, den uns unsere Vorfahren hinterlassen haben", erklärte Chinas Staatspräsident. Doch bleibt er Beweise schuldig, dass die alten Kaiser die winzigen Eilande jemals für sich beansprucht haben. Nirgendwo zeigt sich China so aggressiv wie auf diesem Meer. Nirgendwo ist die Gefahr größer, dass sich der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen China und den USA zu einem Krieg ausweiten könnte.
"Jeder Angriff auf ein philippinisches Flugzeug, Schiff oder Militär", warnte der US-Präsident Joe Biden seinerseits, werde den Bündnisfall des Verteidigungspaktes mit den USA aktivieren.
Die La Salvia fährt hinaus in die Nacht. Schiffseigner Jeofrey hat sich neben Kapitän Dong aufs Dach des Ruderhauses gelegt. Dante, der Schiffskoch, hager und still, steht am Heck, wo in einem Holzkabinett der Gaskocher untergebracht ist. In zwei Alutöpfen garen Reis und Gemüse. Die meisten Männer kauern im Heck, eingehüllt in Jacken und Plastikplanen, um dem Wind zu trotzen. Die La Salvia dient ihnen als Mutterschiff. Huckepack trägt sie sechs kleinere Boote, drei links, drei rechts. Vor der Abfahrt haben sie die Boote an Seilen hinauf auf das Deck gehievt. Es sind hüftschmale Bangkas, gebaut wie das Mutterschiff, aber nicht viel größer als ein Einbaum. Draußen in Scarborough werden sich die Fischer auf sie aufteilen und ins Atoll ausschwärmen. Niemand von ihnen weiß, ob sie Scarborough je erreichen.
Der Chef der Unternehmung, Jeofrey Elad, der Präsident der lokalen Fischereikooperative, hat wie die meisten Fischer kaum Schulbildung. Er schlug sich durchs Leben, soff hemmungslos, sagt er, prügelte sich, wurde manches Mal verhaftet. Starb einmal fast, als jemand ihn in einer Kneipe in Rücken und Bauch stach. Die Narben blieben bis heute. Seine Frau ist zehn Jahre älter, sie rettete ihn, sagt er. Ihr gehört der größte Aufzuchtbetrieb für Aquarienfische im Dorf, was nach mehr klingt, als es ist. In zwei armseligen Hütten kümmern sich drei knochendürre Arbeiter um halb tote Tropenfische, die in kleinen Wasserbeuteln gehalten werden. Die Arbeit gab Jeofrey eine Struktur, einen neuen Anfang. Er hörte mit dem Trinken (fast) auf, entsagte aber einem Laster nicht: dem Hahnenkampf.
Am Tag vor der Abfahrt nach Scarborough hat Jeofrey dabei 20.000 Pesos verloren, mehr als 300 Euro, ein kleines Vermögen.
Es ist die große Plage der Fischer: Fast alle wetten sie auf Kampfhähne, die sie im Dorf züchten. Überall um ihre Hütten, in denen sie unter Wellblechdächern wohnen, sitzen Hähne auf Holzpfosten. In Masinloc, der Hafenstadt, kommen sie alle paar Tage im "Cockpit" zusammen, wörtlich übersetzt "Hahnenschacht", einer Arena für Tausende Zuschauer, auf deren Sandboden die Hähne aufeinander losgelassen werden. Sie bekommen scharfe Metallklingen an ihre Krallen gebunden, um die Kämpfe noch blutiger zu machen. Blut ist in der Arena überall – und noch mehr vergeudete Hoffnung.
Jeofrey wettet mit hohem Einsatz, liebt das Risiko, "ein Scarborough-Fischer", sagen sie in der Hahnen-Arena anerkennend. "Er soll das machen", sagt seine Frau. "Wir haben getrennte Konten. Nur wenn er sein Geld irgendeiner Hure gibt, braucht er nicht wieder nach Hause zu kommen." Er ist scheu. Er schaut einem selten in die Augen. An Land wirkt er verloren, fast lethargisch. Der eine Schritt aber, vom Land aufs Schiff, macht aus ihm einen anderen Menschen, selbstbewusst, bemüht um jeden Einzelnen. Die Metamorphose des Jeofrey Elad.
Nur noch wenige philippinische Fischer wagen es, das Riff anzusteuern. Seit Jahrhunderten hatten sie es als Fischgrund genutzt, hier gab es Fische in Mengen. Doch vor zwölf Jahren erschienen Schiffe der chinesischen Küstenwache. Sie enterten das Boot von Jeofrey, erklärten, er habe illegal in ihren Hoheitsgewässern gefischt, und beschlagnahmten den gesamten Fang. Jeofrey ging bankrott und fuhr lange nicht mehr hinaus. Jahrelang blockieten die Chinesen philippinischen Fischern den Zugang. Bis heute verhindern sie die Patrouillen der philippinischen Küstenwache.
Diese Fahrt ist nach der Kaperung seines Schiffes eine der ersten, die Jeofrey wieder wagt. Die Stadtverwaltung von Masinloc hat seiner Fischereikooperative zwei hochseetaugliche Boote finanziert, die La Salvia 1 und die La Salvia 2. Die Regierung in der Hauptstadt Manila will das Atoll nicht preisgeben. Die Küstenwache, den Chinesen technisch völlig unterlegen, ist nicht in der Lage, in das Gebiet vorzudringen. Die einzigen Philippiner, die es derzeit nach Scarborough schaffen, sind Männer wie Jeofrey Elad. Die Fischer werden zu Blockadebrechern.
Wir, der Reporter und die Fotografin [des Mediums], und ein Übersetzer sind mit an Bord. Jeofrey hat uns mitgenommen unter einer Bedingung: "Die Chinesen dürfen euch nicht sehen." Er hat Angst, dass sie die Anwesenheit von Journalisten als zusätzliche Provokation verstehen. Auf der Fahrt tragen wir Gesichtsmasken, die nur Augen und Nase freilassen, um die Blässe unserer Haut zu verbergen.
Es ist auf diesem winzigen Boot ein seltsames Gefühl, auch für etliche der Fischer, die noch nie so weit draußen waren: sich von der Küste zu entfernen. Als würde man aus dem Magnetfeld der Erde hinaus in die Weite des Alls treiben.
Drei Ringe aus Licht passiert das Schiff auf seinem Weg. 20 Kilometer vor der Küste liegt das gleißende Band der Tintenfischjäger. Ihre Lampen locken die Tiere an. In vielen Booten sitzt nur ein Mann, völlig auf sich allein gestellt.
40 Kilometer vor der Küste ein zweites Lichtband, weniger dicht, weniger hell als das erste. Hier sammeln sich Fischer, die größere Boote und stärkere Motoren haben. Auch sie jagen Tintenfische. Die Ausbeute hier draußen ist reicher.
60 Kilometer – Berge aus Lichtern rasen hier auf geraden Bahnen. Containerfrachter, zehn Stockwerke hoch. Kapitän Dong ist angespannt; diese Schiffe weichen ihm nicht aus. Wir passieren die internationale Schifffahrtsstraße. Sie ist eine der wichtigsten der Welt. 35 Prozent des globalen Handels wird darauf bewegt. Plötzlich ist unser Schiff, das an seinem Mast nur über zwei trübe Positionslichter verfügt, zu einem Zwerg geschrumpft. Die Containerfrachter peitschen das Meer auf; jeder Frachter, dessen Bahn wir queren, bringt unserem Schiff einen Sturm aus Bugwellen.
Nur noch schier endlose Schwärze dann. Kein Schiff mehr für Hunderte Kilometer. Kein Licht außer dem der Sterne.
Kapitän Dong hat kein Radar, dafür ein GPS-Gerät und einen Kompass, zur Orientierung dienen ihm auch zwei Sterne. Wenn kurz vor Mitternacht der eine Leitstern verschwindet, erscheint ein anderer am Zenit, der Dong den Weg weist.
Uns folgt das zweite Mutterschiff der Kooperative, die La Salvia 2, mit 15 Fischern an Bord. Ihre Abfahrt hat sich noch mehr als unsere verzögert. Seit Stunden gibt es keinen Funkkontakt. "Warum antwortet ihr nicht?", ruft Jeofrey immer wieder ins Mikrofon. "Seid ihr zu besoffen?"

Der Durchbruch

Grau ist das Meer am nächsten Morgen. Kapitän Dong ist fast die ganze Nacht durchgefahren, die Füße auf dem Steuer.
Gegen neun Uhr werden am Horizont Antennen sichtbar, dann die Kuppel eines Radars. "Da sind sie", sagt Jeofrey. "Chinesen." Chinesen bald von allen Seiten. Sie kommen näher, bis die Schiffe groß vor uns aufragen. Chinesische Küstenwache – 30 Kilometer vor dem Atoll.
Es ist unklar, welche Fischer Chinas Kapitäne durchlassen. Manche stoppen sie, manche nicht. Manchen werde immer noch ihr Fang abgenommen, weiß Jeofrey. Noch nie seien Fischer verhaftet worden, doch sie alle hätten Sorge. Fast wöchentlich eskaliere die Lage. Die meisten Männer haben sich im Heck versammelt, kauern sich auf den Boden. Zum ersten Mal müssen wir, die Reporter, uns verstecken. Eines der Schiffe hält auf die La Salvia zu. Das Schiff aus Stahl überragt das Boot aus Bambus um viele Stockwerke.
Chinas Küstenwache, die bis vor zwölf Jahren noch relativ unbedeutend war, gilt heute als mächtigste der Welt. Ihre Flotte wird jedes Jahr weiter ausgebaut. Sie operiert mit Schiffen, die leistungsfähiger sind als die aller anderen Nationen. Es sind keine Patrouillenboote mehr, die einfache Polizeiaufgaben erfüllen, sondern ehemalige Kriegsschiffe, von grau auf weiß umgespritzt. Sie sind schwer bewaffnet mit Bordkanonen und Raketenwerfern.
Ein Motorboot wird zu Wasser gelassen, es umkreist uns. Eine Gruppe Uniformierter sieht herüber, sie filmen. Dante, der Koch, scheinbar unberührt, stellt einen Topf Reis auf den Herd und einen Topf voll Hühnerkrallen, auf den Philippinen eine Delikatesse. Das Schnellboot dreht wieder ab. Achtsam manövriert Kapitän Dong durch das Spalier an Küstenwachschiffen, ein Tor aus chinesischem Stahl.
Das Scarborough-Atoll – das die Chinesen 黄岩岛 nennen, Huangyan, was Gelber Fels bedeutet, und die Philippiner Bajo de Masinloc –, hat aus der Luft betrachtet die Form eines Herzens. Die Briten hatten es nach einem havarierten Handelsschiff benannt. Es ist das größte Atoll im Südchinesischen Meer. 13 Kilometer lang, 19 Kilometer breit. In sein Inneres führt nur ein Durchbruch, keine 400 Meter breit. Die fischreiche Lagune. "Da kommen wir nicht hinein", sagt Jeofrey. Mit Glück würden die Chinesen dulden, dass sie an den Außenrändern des Atolls fischten. Wochen zuvor, als sich ein Schiff der philippinischen Küstenwache Scarborough näherte, hatten die Chinesen den Zugang mit einer Barriere aus Plastiktonnen versperrt. In einer geheimen Kommandoaktion entfernten philippinische Marinetaucher die Barriere wieder, auf Anordnung des Präsidenten.
Es wimmelt bereits von Fischerbooten. Sie ankern alle in einer langen Reihe. Große Boote aus Stahl, die meisten fabrikneu. Auf allen weht die rote Flagge. Es vergeht keine halbe Stunde, da nähert sich ein chinesisches Fischerboot und wirft seinen Anker wenige Meter entfernt. Dong ist das zu nah. "Der Ozean ist so groß. Warum ankern die hier?" Er fürchtet, dass das Schiff sie beobachten und Informationen über sie sammeln soll. Er startet noch einmal den Motor und fährt etwas weiter nach Süden.
Vom Riff ist bei diesem Wasserstand so gut wie nichts zu sehen. Nur einzelne Felsen sprenkeln die See. Das Meer färbt sich über dem Riff von heidelbeerblau zu türkis. Weiter hinten, in der Lagune, im Herzen des Atolls, ist das Wasser milchig blau. Der Himmel ist fast wolkenlos, es ist beinahe windstill. Das Meer ist spiegelglatt. Das Auge tut sich schwer, Wasser von Luft zu trennen. Nur mühsam kann der Horizont Himmel und Meer voneinander scheiden.

Das Opfer

Die Männer, die sich, eingewickelt in Plastikplanen, bisher ihrem Schicksal ergeben hatten, erwachen aus der Erstarrung. Sie lassen die Beiboote zu Wasser. Die La Salvia wird zu einem schwimmenden Hafen. Die Fischer reiben sich mit Öl ein. Einige ziehen Hosen aus Neopren an, die meisten nur enge Stoffhosen, T-Shirts mit langen Ärmeln. Irgendetwas, von dem sie hoffen, dass es sie gegen die Kälte schützt. Sie können in den Klüften des Riffs nicht mit Netzen fischen. Sie tauchen und lassen sich auf den tiefen Grund sinken, wo sie sich mit Harpunen auf die Jagd begeben.
Die Harpunen haben sie selbst gebaut: ein grob geschnitzter Holzrahmen. Ein langer Pfeil, der auf dem Holzrahmen aufliegt. Ein Gummiband, das den Pfeil unter Spannung hält. Lösen sie den Gummi, schnellt der Pfeil nach vorne.
Dante, der Koch, bereitet den Männern ein letztes Mahl. Es ist wichtig, vor den Tauchgängen nicht hungrig in die Tiefe zu gehen. Jahrelang musste er selbst mit hinab. Er kennt die Gefahren. Jede Nacht vor dem Einschlafen, sagt er, bete er zu Maria Magdalena, der Heiligen, damit alle Taucher den nächsten Morgen erleben. Es gibt auf der Welt nur wenige so gefährliche Jobs wie die der Taucher von Scarborough.
David Delegencia, 26, große Augen, rot geäderte Augen, zu viel Hasch in der Nacht, er grinst schuldbewusst, bindet sich die Ärmel seines T-Shirts ab, damit sie sich später im Wasser nicht aufblähen. "David ist einer unserer Besten", hatte Jeofrey vor der Abfahrt gesagt. David wohnt im Dorf direkt am Strand, wie die meisten hier, fünf Gehminuten von Jeofrey.
Er taucht, seit er sieben ist. Sein Vater hat ihm das Tauchen beigebracht. Fast jeden Tag waren sie gemeinsam vor der Küste unterwegs. Der Vater tauchte, David blieb im Boot und bediente den Kompressor, eine Maschine, die Luft ansaugt und in einen Plastikschlauch pumpt. Der Schlauch, dünn wie eine Nabelschnur, oft Hunderte Meter lang, ist die einzige Verbindung zum Taucher in der Tiefe. Der Taucher beißt auf das Ende des Schlauchs; nicht mehr als der Druck seiner Zähne hält den Schlauch fest und ihn dort unten am Leben.
Sie waren ein gutes Team. Doch im vergangenen Jahr starb der Vater, mit 53. In letzter Zeit sei er immer kurzatmiger geworden, erzählt David. Hatte über immer mehr Schmerzen in den Muskeln geklagt. "Ich bin sicher, das hatte mit dem Tauchen zu tun." Seither ist es David, der in die Tiefe muss. Er hat eine kleine Familie zu ernähren, Freundin und Kind. Vor allem muss er Schulden tilgen, sein Haus abbezahlen, Wettschulden auch – die Hahnenkämpfe. Jede Woche ist er der Bank gegenüber verpflichtet, 2.500 Pesos zu zahlen, etwa 40 Euro, ein Viertel seines Einkommens. Wenn er ein Einkommen hat. Er taucht an der Küste zweimal täglich; er leidet unter permanenten Kopfschmerzen. So habe es auch bei seinem Vater begonnen.
Es ist Nachmittag geworden, das zweite Boot, die La Salvia 2, ist mittlerweile ebenfalls angekommen, ankert neben uns.
Dante bereitet in seiner kleinen Küche eine Opfergabe vor. Ein Ritus vorchristlicher Tradition. Etwas Reis, etwas Mango, Zigaretten, ein Schokoriegel. Die Gabe wird auf einen Karton ausgebreitet und am Bug vorsichtig ins Wasser gelassen. Es soll die Geister der Ahnen gnädig stimmen. Lange schauen die Fischer dem Karton nach.

黄岩岛– Das verbotene Atoll

Nummer 3065 erscheint am frühen Abend und hält auf der Höhe der beiden Fischerboote. Wie alle Schiffe der chinesischen Küstenwache trägt auch dieses eine Registriernummer am Bug. Jeofrey späht mit dem Feldstecher hinüber. Die Decks sind menschenleer, die Fenster der Kommandobrücke dunkel. Jeofrey ist sich dennoch sicher, dass wir beobachtet werden.
Selten wurde ein so großes Gebiet ohne einen großen Krieg errungen. Die kommunistischen Führer begründeten in den vergangenen Jahren ein Reich, das die Küsten eines halben Kontinents umspannt, quasi aus dem Nichts. China musste dabei kein Land erobern. Es schuf Land. Die Fischer der La Salvia sind Zeugen eines der erstaunlichsten Eroberungsfeldzüge der jüngeren Menschheitsgeschichte.
1974 – China besetzt die Paracel-Inseln im Norden des Südchinesischen Meeres, bisher von Vietnam kontrolliert.
1988 – China besetzt die Atolle Fiery Cross und Cuarteron, Teile der Inselgruppe der Spratlys im Süden des Meeres.
1995 – China besetzt das Mischief-Riff, das die Philippinen für sich beanspruchen.
2012 – China besetzt Scarborough.
2014 – China beginnt auf dem Mischief-Riff mit Sandaufspülungen. Ein Marinehafen wird auf dem neuen Land gebaut, eine knapp drei Kilometer lange Landebahn sowie Raketensilos.
2014 – Sandaufspülungen auf dem Gaven-Riff, einem Atoll der Spratlys. Bau eines Hafens, Radaranlagen und Raketensilos.
2014 – Sandaufspülungen auf dem Hughes-Riff, einem Atoll der Spratlys, Bau eines kleinen Hafens und von Flakstellungen.
2014 – Johnson-South-Riff, ebenfalls in den Spratlys. Sandaufspülungen. Bau eines Hafens und von Raketensilos.
2015 – Subi-Riff, Spratlys, Sandaufspülungen. Bau eines Marinehafens, einer Landebahn sowie von Kasernen.
Bis 2016 hat die Volksrepublik insgesamt dreizehn Quadratkilometer Land entstehen lassen, sieben Atolle der Spratlys zu künstlichen Inseln ausgebaut und drei Landebahnen errichtet. Sein neues Reich fasst Peking zu zwei neuen Provinzen zusammen.
Seither rüsten die chinesischen Sicherheitskräfte ihre Basen weiter auf. Die Volksrepublik stationierte Kampfjets, errichtete machtvolle Störsender, sogenannte Jammer, die elektronische Signale unterdrücken. Sie können im weiten Umkreis Navigationssysteme von Flugzeugen und Schiffen behindern. Im Falle eines Krieges um Taiwan, so warnen US-Generäle, könnten sie den Einsatz der US-Flotte massiv stören. Taiwan wäre größtenteils auf sich allein gestellt.
Die Stützpunkte, die andere Nationen in dem Gewässer unterhalten, werden routinemäßig durch Chinas Küstenwache blockiert. China beansprucht nahezu das gesamte Meer und alle Untiefen. Es behauptet, dass jene Untiefen bereits im Jahr 1279 von Chinesen entdeckt worden seien. Ein Astronom des Kaiserhofs habe sie damals kartiert. Die Karte ist jedoch hochumstritten. Die Führung in Peking ignoriert Urteile des Internationalen Seegerichtshofs in Den Haag, der die Ansprüche der Volksrepublik zurückgewiesen hat.
Scarborough gilt als Kronjuwel in der Welt der Atolle, es ist der vorläufige Schlussstein für Chinas Expansion. Ohne Scarborough wäre der Ring um Taiwan nicht komplett. Mit einer militärischen Anlage auf Scarborough lägen die großen US-Basen auf den Philippinen in Reichweite. Offenbar hatte China vor, auch Scarborough in einen Flottenstützpunkt zu verwandeln. 2016 soll Barack Obama in Gesprächen mit Xi Jinping den Ausbau von Scarborough als "rote Linie" für die USA bezeichnet haben. Obama hat diese Berichte nie dementiert. Die Pläne wurden danach gestoppt – bis heute.
Redtail Fusilier – 34 kg
Spanische Makrele – 24 kg
Papageienfisch – 8 kg
Zackenbarsch – 4 kg
Mit einer magereren Ausbeute als erhofft, kehrt David Delegencia am späten Nachmittag zurück. Er und seine dreiköpfige Crew sind erschöpft. Sie binden ihr Beiboot an, klettern aufs Deck. An Bord wird der Fang sofort von Jeofrey gewogen. Eine Quelle ewigen Streites. Nach jedem Tauchgang stehen die Fischer um eine grüne, rostige Waage aus Taiwan. Die Augen aller fixieren die Skala. "Wiegt euren Fisch doch selbst, wenn ihr mir nicht glaubt", pflegt Jeofrey zu sagen, wenn jemand murrt. 70 Kilo lautet das Urteil der Waage. David nimmt es klaglos hin. Jeofrey zahlt für jedes Kilo je nach Fisch zwischen 50 und 100 Pesos, macht bei Davids Crew 6.000. Von diesen 6.000 müssen sie die Hälfte an den Besitzer des Beibootes abgeben, denn es ist nur geliehen. Bleiben 3.000 Pesos.
3.000 Pesos ÷ 3 = 1.000 Pesos
1.000 Pesos sind circa 16 Euro, was auf den Philippinen nicht wenig ist. Der Durchschnittsverdienst eines Taxifahrers in Masinloc liegt bei 300 Pesos am Tag, circa fünf Euro. Auf Scarborough können Fischer an guten Tagen bis zu 9.000 Pesos machen. Aber von den guten Tagen gibt es immer weniger.
"Ich bin noch nicht fit", sagt David. Nie sollte man ohne ausreichend Schlaf tauchen, das weiß er, trotzdem hat er letzte Nacht kaum geschlafen. "Morgen wird es besser." Für die nächsten Tage ist das seine Routine: Zwischen sieben und zwölf Uhr fängt er mit einem Kescher Aquarienfische. Eine Stunde Pause auf dem Mutterschiff. Zwischen eins und 18 Uhr jagt er mit der Harpune Speisefische.
Abends, wenn sich kurz nach Sonnenuntergang alle im schnabelförmigen Heck des Schiffes versammeln, kreist eine Flasche Gin, die ihnen Kapitän Dong verkauft. Kapitän Dong hat einen erstaunlich großen Vorrat an Gin. Der Handel mit Gin ist auf jeder Reise nach Scarborough sein Nebenverdienst.

Die Geisterflotte

Die Nacht auf Scarborough ist lauter als der Tag. Es tuckert und röhrt und hämmert wie auf einer Großbaustelle. Nachts schwärmen Motorboote mit Tauchern aus, die in der Dunkelheit jagen. Die meisten sind Chinesen. Die Nacht erstrahlt von Hunderten Scheinwerfern und Positionslichtern. Immer in den Abendstunden wiederholt sich das Spektakel. An die hundert Schiffe ankern am Rande des Atolls in einer langen Reihe. Über fast allen weht die rote Flagge.
Sie sehen von Weitem aus wie Fischerboote, sind es aber oft nicht. Viele der Schiffe gehören einer Miliz an, den "Minbing", einem paramilitärischen Ableger der regulären Seestreitkräfte. Diese Schiffe sind mit bis zu 80 Metern Länge größer, als sie eigentlich sein müssten. Sie haben weniger Besatzung, als sie haben müssten. Sie haben hohe Kräne, sie ähneln Industrieschiffen. Vor allem fischen sie kaum.
Jede Waffengattung Chinas unterhält ihre eigene Miliz. Die Armee, die Luftwaffe, die Marine. Miliz-Angehörige gehen ihrer zivilen Arbeit nach, werden aber, wenn es das Militär befiehlt, zu Diensten herangezogen. Sie trainieren mit regulären Sicherheitskräften. Die Besitzer der Schiffe sind offiziell Fischereiunternehmen in diversen südchinesischen Häfen. Tatsächlich aber war der Staat am Bau der Schiffe beteiligt. Ihre Ausrüstung schreibt der Staat vor. Die Regierung subventioniert Betrieb und Gehälter. Eine gewaltige Flotte hat Peking in das Südchinesische Meer entsandt, mehrere Hundert sollen es sein. An fast jedem Atoll, das China besetzt hat, ankern sie in großen Gruppen.
Sie sind es häufig, die der philippinischen Küstenwache den Weg abschneiden. Sie sind es, die mit Wasserkanonen Schiffe traktieren. Im März werden drei Männer der philippinischen Küstenwache verletzt, als Wasserwerfer die Scheiben der Brücke eindrücken.
Auf den Philippinen formt sich Widerstand, fordern immer mehr Menschen, gegen die Chinesen vorzugehen. Ein neuer Nationalismus entsteht. Die politische Linke verbündet sich mit Vertretern des Sicherheitsapparats, eigentlich eingeschworene Gegner. Auf gemeinsamen Veranstaltungen skandieren sie auf Tagalog, der Nationalsprache: "Westphilippinisches Meer? – Atin Ito!" – "Es gehört uns!"
"Wenn die Regierung mir eine Waffe geben würde", sagt Jeofrey mit Blick auf die StahlUngetüme, "dann würde ich kämpfen. Das ist unser Meer. Das sind unsere Fische! Früher waren wir die Herren, und die anderen mussten sich fügen. Jetzt sind es die Chinesen, und wir leben von ihrer Gnade."
Die Hafenbehörde von Masinloc teilt Kapitän Dong über Funk am nächsten Morgen mit, dass sich ein Versorgungsschiff der philippinischen Fischereibehörde auf den Weg nach Scarborough gemacht habe. Für die Fischer soll es Diesel und Lebensmittel an Bord haben. Sie brauchen keinen Diesel, keine Lebensmittel, sagt Jeofrey. Aber er schätzt die Geste.
Den letzten Durchbruchsversuch haben die philippinischen Behörden im Dezember unternommen. Wie immer waren sie in der Unterzahl. Ein Schiff gegen fünf. Die Chinesen kreuzten ihren Kurs, ein Schiff rammte sie beinahe, zwei andere beschossen sie mit Wasserkanonen. Die Philippiner kehrten um, um eine Eskalation zu vermeiden, denn niemand kann die Folgen abschätzen, eine Protestnote oder Krieg?
"Für den Fall, dass auch nur ein Angehöriger des philippinischen Staates bei einem Angriff einer ausländischen Macht getötet wird", erklärte kürzlich Präsident Ferdinand Marcos Jr. in Gegenwart des US-Verteidigungsministers, "ist es Zeit, den Bündnisfall auszurufen." Auf den Philippinen halten viele einen Krieg für unvermeidbar.
Im Laufe des Tages sammeln sich die Mutterschiffe, um gemeinsam auf die Ankunft des Versorgungsschiffs zu warten. Die Kapitäne diskutieren aufgeregt über Funk. "Ich glaube nicht, dass sie durchkommen", sagt Dong. Die Gruppe besteht nun aus sechs Fischerbooten von unterschiedlichen Häfen der westphilippinischen Küste.
"Seht mal", sagt Dante, der Koch, und zeigt auf einen kleinen Vogel am Mast. "So einen habe ich noch nie gesehen." Auch neue Vogelarten reisen mit den Schiffen aus China.
Den ganzen Tag über werden Plastikwannen mit Fischen aufs Deck der La Salvia gehievt. Die Crews der Beiboote kommen und gehen. Amerikanische Countrymusik aus dem Laptop des Kapitäns liegt über allem. Jeofrey, mit Krempenhut in Tarnfarbe, beaufsichtigt die Waage. Choi, der Lademeister, Statur eines Sumoringers, schüttet den Fang in mit Eisblöcken gefüllte Styroporboxen.
Welche Wunder dieses Meer birgt. Auf Deck liegen Fische, die in einem fast durchsichtigen Blau schimmern. Es sind Fische, die glänzen, als seien sie in Kupfer getaucht, Fische mit strahlend gelben Streifen, mit hellorange aufleuchtenden Schwanzflossen, mit roten Flossen, rot wie Feuer. Im Eis verwandelt sich die farbenprächtige Schönheit rasch in grauen Tod. Mit jeder Stunde im Eis verblassen die Farben. Das Wunder wird zu Ware, Gewicht, messbar in Kilogramm.
Die Männer haben für diese Pracht kaum einen Blick. Die Not zwingt sie nach Scarborough – und die Gier. Die Küsten sind fast leer gefischt. Zu viele gibt es, die fischen. Die Küstengewässer werden immer schmutziger. Zwischen 1960 und 2022 ist die Bevölkerung der Philippinen von 28 Millionen auf 115 Millionen gewachsen. Die Städte, zu Molochen herangewachsen, pumpen Abfälle ins Meer, Exkremente, Verdauungssäfte, Ströme aus Kloaken. Das Meer riecht in der Nähe von Städten längst nicht mehr nach Salz. Es stinkt nach Fäulnis und Verwesung.

Das Versorgungsschiff

Die Motorboote der Chinesen, die die La Salvia jeden Tag umschwirren, sind aus Fiberglas und nicht aus Holz wie die der Philippiner. Ihre Besatzungen tragen keine Uniformen, sehen aber fast uniform aus mit ihren konischen Strohhüten und in ihren roten Shirts. Während die Philippiner in ihren kleinen Booten hocken, stehen die Chinesen demonstrativ aufrecht, mit durchgestreckten Rücken, die Haltung der Überlegenheit.
"Früher", sagt Choi, der Lademeister, "haben wir uns zugewinkt. Wir haben uns gegenseitig eingeladen. Wir haben ihnen unseren Fisch gegeben und sie uns Gemüse und Schnaps." Seit einigen Jahren sei das alles vorbei. Die Chinesen grüßten sogar kaum mehr.
Das Versorgungsschiff lässt weiter auf sich warten. Es gibt nur Gerüchte, die per Funk von Kapitän zu Kapitän weitergetragen werden. Es soll, sagt Dong am Abend der Mannschaft, noch hundert Kilometer entfernt sein.
Als Dong später wieder den Gin freigibt, ist das Deck der La Salviabedeckt mit zappelnden, sterbenden Fischen. Die Tiere weiten die Kiemen, springen noch einmal hoch, sammeln alle Kraft, in der Hoffnung, sich ins Meer zu retten. Das Ende kommt für sie nicht rasch. Es zieht sich qualvolle Minuten hin, bis schließlich aus vielen aufgerissenen Mäulern blutiger Schaum quillt.
Inmitten der toten und sterbenden Tiere liegt Randy in seinen nassen Kleidern. In Masinloc ist er der Nachbar von Kapitän Dong. Er zittert am ganzen Leib, seine Beine zucken. Mit den Armen klammert sich der 43-Jährige an eine Styroporbox. "Es geht schon", flüstert er. Er drückt seinen Körper so eng es geht an das Styropor, von dem er sich etwas Wärme erhofft. "Ich kann meine Beine nicht fühlen", klagt er. Die anderen Männer beachten ihn kaum. Sie kennen das. Randy ist beim letzten Tauchgang zu schnell aufgetaucht.
Die Fischer besitzen weder Tiefenmesser noch Taucheruhren. Sie bleiben zu lange in zu großer Tiefe. Unter dem Druck wandelt sich Gas und wird flüssig. Es tritt als Atemluft über die Lungenbläschen in den Blutkreislauf ein. Nimmt der Druck beim Auftauchen ab, wandelt sich die Luft wieder zu Gas. Steigen die Fischer zu schnell auf, hat der Körper keine Zeit, das Gas zu absorbieren. Es entstehen Luftbläschen im Blut, im Gewebe, in den Muskeln, im Hirn. Sie führen zu Herz- und Schlaganfällen, verursachen Krämpfe und Lähmungen. So viele Gelähmte gibt es im Dorf der Fischer. Sie liegen dort auf Pritschen und werden von ihren Frauen versorgt.
"Es geht schon", wiederholt Randy.
Das Versorgungsschiff trifft auch am nächsten Tag nicht ein. Noch knapp 60 Kilometer sei es entfernt, sagt Dong. Die chinesische Küstenwache ist plötzlich verschwunden, vermutlich eilen sie dem philippinischen Regierungsschiff entgegen. Am Nachmittag erfahren die Fischer, dass die Mission gescheitert ist. Für mehrere Stunden lagen sich das Versorgungsschiff und drei Boote der Chinesen gegenüber. Dann beschlossen die Philippiner abzudrehen.
"Zum wiederholten Male ist die philippinische Küstenwache illegal in die Gewässer der chinesischen Insel Huangyan eingedrungen", erklärt später in Peking der Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums. "Unsere Reaktion vor Ort war vernünftig, legal, professionell und zurückhaltend."
Am Abend kehren die Chinesen zurück und ankern nah an der kleinen Flotte philippinischer Fischer. Sie haben die sechs Bangkas in ihre Mitte genommen, in die Zange. Wieder ist das Meer voller roter Flaggen, nur die Philippiner hissen ihre Flagge nicht. "Wir wollen nicht provozieren", sagt Jeofrey. In den letzten Monaten haben die Chinesen Fischer zum Verlassen des Atolls gezwungen, willkürlich, scheinbar ohne System. Sie müssen nur per Lautsprecher zu ihnen hinüberrufen: "Go home, Filipino man!" Ein Satz, eine Drohung eines chinesischen Kapitäns würde reichen, um zu Hause viele Existenzen zu zerstören.
Die Planken des Decks beginnen am dritten Tag zu bersten. Jeder Schritt muss mit Bedacht gesetzt werden. Mit jedem Tag mehr riecht es stärker nach Fisch und Urin. Es gibt kein Bad an Bord und kein Klo. Es gibt einen Balken am Heck, auf den sich die Männer hocken, nur eine Armlänge entfernt von Dantes Kochnische.

Der Druck

Der Wind nimmt zu. Noch drohe kein Sturm, vermeldet der meteorologische Dienst der philippinischen Marine, aber das Wetter wendet sich. Jeofrey will die Rückreise erst antreten, wenn genügend Aquarienfische gefangen und die zwölf Styroporboxen voll sind.
Unter Wasser ist die Strömung jetzt stärker als zuvor. Erschöpft fallen die Taucher nach ihrer Rückkehr aufs Deck. Wickeln sich in Plastikplanen und schlafen ein. "Die Fische sind im Vorteil", David lächelt müde. Die Flossen, die er sich aus Plastikkanistern geschnitten hat, reißen blutig seine Füße ein. Mit Schlaufen aus Tüten hat er sie an seine Knöchel gebunden.
Im letzten Jahr ist Davids jüngerer Bruder auf Scarborough gestorben, mit 21. Der Schlauch am Kompressor hatte sich gelöst. Sein Bruder bekam keine Luft mehr, stieg aus der Tiefe auf, viel zu schnell, ohne Dekompressionspause. Als er aus Angst vor dem Erstickungstod an die Oberfläche schnellte, sei seine Lunge zerplatzt.
"Ich versuche, nicht daran zu denken", sagt David. "Ich brauche das Geld."
Die Fischer, die sich an ihren Schläuchen hinabsinken lassen, schweben über den Trümmern einer zerstörten Welt. Die Landschaft aus Korallen, die rot war, blau und gelb, in allen Farben spross, ist braun und grau. Die meisten Korallen sind abgestorben, geblieben sind ihre Skelette.
Das Ringen um die Herrschaft in der Südchinesischen See ist eine Katastrophe für die Natur. Die massiven Sandaufspülungen. Die Überfischung durch Industrieschiffe, vor allem durch die chinesische Flotte. Die Fangmengen sind in den letzten zwei Jahrzehnten um 75 Prozent zurückgegangen. Die Hälfte aller Fischerboote der Welt fischt in diesem Meer.

Der Sturm

Wenn die Erträge weiter schrumpfen, will Jeofrey in neue Fischgründe ausweichen, etwa im Norden der Philippinen. Wo es natürlich auch schon Fischer gibt. Oder aber, sagt er, er geht zu seiner Schwester in die Türkei. Die hat dort einen Türken geheiratet. In der Türkei gebe es Arbeit. Das Fischen würde er nicht vermissen, die große Freiheit, von der manche Fischer sprechen. "Wo sind wir da frei?", sagt Jeofrey. "Das Meer ist unser Gefängnis. Die Tiefe ist unsere Kerkergrube."
"Soll er doch in die Türkei gehen!", hat seine Frau im Dorf vor der Abfahrt gesagt. "Vielleicht findet er da eine bessere Frau." Und fügte hinzu: "Er geht sowieso nicht."
Die Beutel der Aquarienfische bedecken immer größere Areale des Decks. Die Männer bringen sie in ihren Keschern aufs Mutterschiff, knipsen ihnen dort mit Nagelscheren die Stachel und Kämme ab. Sie portionieren die gefangenen Tiere in die Plastiktüten, füllen diese zur Hälfte mit Seewasser, zur anderen Hälfte mit Luft aus Sauerstoffflaschen. Rote Sunburst-Fischchen. Der Blaue Korallenfisch, leuchtend wie Lapislazuli. Besonders die Sunbursts sind auf den Märkten begehrt, sie erzielen schon in Manila pro Stück sechs Euro.
Das internationale Geschäft mit den sogenannten Zierfischen ist einer der grausamsten Industrien: 80 Prozent von ihnen sterben auf dem Weg in die Aquarien. So schätzt das UN-Umweltprogramm. Unbekannt ist, wie viele Menschen jährlich dabei umkommen. Unbekannt ist das Ausmaß der Schäden an den Riffen, die dabei entstehen. Doch immer noch ist der Handel auch in Deutschland nicht verboten.
Zwei Drohnen nähern sich uns am fünften Tag. Sie schweben über uns. Noch nie, sagen die Fischer, haben sie hier Drohnen gesehen. Eine weitere Eskalation im Nervenkrieg.
Kapitän Dong drängt am sechsten Tag zum Aufbruch. Die Vorhersage prognostiziert Sturm. Früher konnten sie bei Unwettern im Innern des Atolls Schutz suchen, das verhindern nun die Chinesen. Kapitän Dong zieht es auch aus einem anderen Grund zurück in sein winziges Haus, das direkt am Hafen in Masinloc liegt. Seine Frau ist zu Besuch und wird in wenigen Tagen wieder abreisen. Sie arbeitet als Haushaltshilfe in Hongkong, es ist ihr erster Urlaub seit zwei Jahren. Vermutlich wird es zwei weitere Jahre dauern, bis sie wieder die Familie besuchen kann.
Noch einmal stehen die Schiffe der chinesischen Miliz und Küstenwache Spalier, als die La Salvia das Atoll verlässt. Zwei der stählernen Riesen begleiten den Bambuswinzling, mal näher, mal ferner, bis sie sich zurückfallen lassen.
Die Wellen sind höher, als der Wetterdienst vorhergesagt hatte. Gischt schlägt über das Boot. Fünf Meter hohe Wellen. Das Holz ächzt. Die Seile, die das Boot zusammenhalten, knarzen. Dante beginnt Wasser aus dem Motorraum zu pumpen. Viel mehr, sagt der Kapitän, verkraftet die Konstruktion nicht. Er bricht die Wellen nicht, fährt sie seitlich an, bleibt so lange wie möglich auf ihrem Kamm, um dann auf der anderen Seite wieder sanft hinabzugleiten.

Schwarzes Blut

In der Nacht erreichen sie nach sechs Tagen auf See die Bucht ihres Dorfes. Noch im tiefen Wasser werfen sie den Anker. Ein Nachbar, der auf seinem Nachen vom Strand zu ihnen herübereilt, begrüßt sie betrunken. Andere eilen zu ihnen hinaus. Die Ladung, die sie an Bord haben, das hat Jeofrey inzwischen grob überschlagen, hat einen Wert von umgerechnet knapp 6.000 Euro, ein Vermögen.
Am nächsten Morgen geht es im Hafen ganz schnell. Trauben von Fischhändlerinnen warten am Kai. Frauen dominieren dieses Gewerbe. Eine lange blaue Plastikbahn wird auf dem Boden ausgerollt. Arbeiter tragen die Fische in großen Wannen heran und schütten sie auf die Plane. Im gleichen Moment erhebt sich Geschrei, Rufe, Gebote, Angebote, greifen Dutzende Hände aus, die Hände der Käuferinnen, rasch, entschieden und kundig, sie greifen von allen Seiten zu, bis die Plane leer ist. Die Pracht des Atolls ist in wenigen Minuten abverkauft. Am Ende, wenn die Plane wieder eingerollt wird, bleibt nur schwarzes Blut, das zurück ins Meer rinnt.
Jeofrey beginnt am selben Tag mit der Rekrutierung von Männern, die zum nächsten Fischzug mitkommen. In wenigen Tagen will er aufbrechen. Einer von ihnen, den er zur Mitfahrt überredet, wird die Reise nicht überleben. Er heißt Julius Dumaran Tatoy und kommt am ersten Tag beim Tauchen um, 30 Jahre alt. Er hinterlässt eine Freundin und eine zweijährige Tochter.
Sie alle, die auf der La Salvia waren, werden bei der Beerdigung vor seinem offenen Sarg stehen. David, der über schlimmer gewordene Kopfschmerzen klagt und das Geld, das er verdient hat, bald wieder verspielen wird. Jeofrey, der erneut mit dem Trinken angefangen hat. Jeofreys Frau, die sich sorgt, dass Elad im Suff wieder anfangen könnte, gewalttätig zu werden. Dante, der noch schweigsamer geworden ist.
Das ist die Verheißung von Scarborough Shoal, das die Chinesen Huangyan nennen und die Philippiner Bajo de Masinloc und das eines der Wunder des Lebens ist.