Tickende Zeitbombe "Rentensystem"
von Carsten Korfmacher
Nordkurier vom 02.05.2023
Die Serie diagnostiziert eine Überemotionalisierung und Ideologisierung der Rentendebatte, die eine rationale Entscheidungsfindung verunmögliche und von dem strukturellen Problem einer fehlenden Kopplung der Rente an die steigende Lebenserwartung ablenke. [AutorIn] spricht sich für diese Kopplung ohne fixe Regelaltersgrenze aus. Höhere Löhne, Zuwanderung und eine jetzt eingeführte Aktienrente könnten die Rentenlücke alleine nicht schließen, letztere sei aber als flankierende Maßnahme sinnvoll.
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Tickende Zeitbombe „Rentensystem“
Teil 1: Die Wut muss raus aus der Renten-Debatte
Teaser: Altersarmut, Aktienrente oder Schuften bis 70? Die Debatte über die Rente wird hochemotional geführt. Der Politik fehlt auch deshalb der Mut, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Die Bundesrepublik hat seit mehr als einem halben Jahrhundert ein Rentenproblem, das sich mit jedem Jahr weiter zuspitzt. Wenn ein Problem so lange besteht, gibt es gewisse Gewöhnungseffekte. Es wächst der Eindruck, dass es unglaublich schwierig wäre, das Problem zu lösen, schließlich lebt es schon so viele Jahre mit uns. Vielleicht ist es sogar naturgegeben, ein Phänomen unserer Zeit, dem wir als Gesellschaft schicksalhaft unterworfen sind?
All dies ist falsch. Die Lösung des Rentenproblems ist ganz einfach. Doch sie wird nicht umgesetzt, weil in der öffentlichen Diskussion um den richtigen Weg vor allem eines herrscht: eine unkontrollierbare Wut, sobald jene Vorschläge unterbreitet werden, die das Rentenproblem effektiv lösen würden. Und in der Politik fehlt seit Jahrzehnten der Mut, sich dieser Wut zu stellen.
In den kommenden Tagen werden wir das Rentensystem einer detaillierten Analyse unterziehen, um herauszufinden, wie sich das Problem lösen lässt. Beginnen müssen wir mit der Frage, warum es politisch überhaupt so schwierig ist, die Systemfehler zu beheben. Im Weg steht das Zusammenspiel zweier Faktoren.
Wut und Machtkalkül behindern die Lösung
Erstens ist die Debatte an sich hochemotional, weil sie die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Menschen betrifft: Viele Senioren kommen mit ihrer Rente kaum über die Runden. Arbeitnehmern in der Blüte ihrer Schaffenskraft wird ständig das Gespenst der längeren Lebensarbeitszeit an die Wand gemalt. Und junge Menschen bewegt die Frage, ob für sie am Ende überhaupt noch etwas vom Kuchen übrigbleibt. Das hat zur Folge, dass die Debatte leicht einer Hyper-Emotionalisierung zum Opfer fällt, die eine vernünftige, nüchterne und lösungsorientierte gesellschaftliche Diskussion erschwert.
Zweitens haben liberale Demokratien gegenüber autoritär regierten Staaten zwar viele Vorteile, aber einen entscheidenden Nachteil: Es ist nahezu unmöglich, äußerst unpopuläre, aber notwendige Reformen anzugehen, deren Erfolge erst langfristig sichtbar werden. Entscheidungsträger, die unbeliebte Entscheidungen zur Debatte stellen, können sich fast sicher sein, dass sie das politische Ruder zukünftig nicht mehr in der Hand halten werden. Stoßen sie der größten und aktivsten homogenen Wählergruppe in der Bundesrepublik, nämlich Wählern über 60, vor den Kopf, beginnt mit der nächsten Wahl wohl ihr eigener politischer Ruhestand.
Politische oder gesellschaftliche Gegenspieler schlagen daraus Kapital: Sie mobilisieren die Emotionalität des Themas und stellen sich gegen die unpopuläre Maßnahme, unabhängig davon, ob sie sinnvoll ist oder nicht. Es entsteht eine fundamental unehrliche Debatte, in der es nicht um Wahrheit, sondern um politische Vorteile geht, und in der sich die Entscheidungsträger von einer fieberhaft erregten Masse aus Politikern, Interessensverbänden und Bürgern vor sich her treiben lassen.
Bei der Rente wird viel Augenwischerei betrieben
Das ist das Problem hinter dem Rentenproblem. Und es lässt sich nur lösen, wenn das wilde Renten-Gezanke der vergangenen Jahrzehnte aufhört und von einer nüchternen Problemanalyse gepaart mit einer rein lösungsorientierten Debatte abgelöst wird. [Das Medium] will mit dieser Serie die Basis dafür liefern. Wir wollen wissen: Was ist eigentlich das Problem, was sind vernünftige Lösungen, welche Vorschläge zur Rettung des Rentensystems sind ideologie-getriebene Augenwischerei und wo werden zukünftig Kompromisse notwendig sein?
In der morgigen Ausgabe betrachtet der Text „So lässt sich das Rentenproblem lösen“ das umlagefinanzierte Rentensystem strukturell. Aus den Überlegungen folgt, dass es nur eine Lösung des Rentenproblems gibt, zu dieser aber verschiedene, und verschieden gute, Wege führen. Der dritte Teil – „Warum die Rente mit 70 sozial gerecht ist“ – beschäftigt sich mit einer möglichen Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies ist ein hochemotionales Thema und wird kaum sachlich diskutiert. Längeres Arbeiten wird oft als Rentenkürzung für zukünftige Generationen verstanden. Wenn das so ist, dann muss eine gleichbleibende Lebensarbeitszeit bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung als Rentenkürzung für derzeitige Rentner verstanden werden. Das wirft große Fragen auf: Was ist sozial gerecht, nicht nur mit Blick auf zukünftige Rentner, sondern auch gegenüber der heutigen Rentnergeneration? Und wie ist es überhaupt möglich, hier einen gesellschaftlichen Kompromiss zu finden? Schließlich ist völlig klar, dass Pflegekräfte, Polizistinnen oder Dachdecker ihre Lebensarbeitszeit nicht beliebig verlängern können.
Kann das Rentensystem überhaupt kollabieren?
Teil 4 widerlegt ein politisch sehr beliebtes Argument und stellt fest: „Gute Arbeit kann die Rente nicht retten“. Der Text sieht sich die Möglichkeit an, das Rentensystem über Arbeitsmarkt-Maßnahmen wie Lohnerhöhungen, flächendeckende Tarife oder eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu lenken. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Möglichkeiten alleine das Rentenproblem nicht lösen können und deshalb nur flankierend wirksam sind. Im fünften und letzten Teil dieser Serie stellen wir die Frage, wie das Rentensystem zusammenbrechen könnte, wenn sich die Politik weiterhin weigert, eine ernsthafte Reform ins Auge zu fassen. In der Debatte wird häufig vom „Kollaps des Rentensystems“ gesprochen. Dieser wird schlicht nicht eintreten, solange die Bundesrepublik nicht kurz vor der Staatspleite steht.
Doch das ist nicht die eigentliche Gefahr, die von einem immer schwieriger zu finanzierenden Rentensystem ausgeht. Die Gefahr ist vielmehr, dass sich das Problem tief in den Staatshaushalt frisst und andere Bereiche infiziert. Als Folge fehlt Geld für überlebenswichtige Investitionen in die Zukunft des Landes. Also: Die Wut muss raus aus der Renten-Debatte. Das ist der Anfang. Morgen stellen wir uns die Frage, wie sich das Rentenproblem lösen lässt.
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Teil 2: So lässt sich das Rentenproblem lösen
Teaser: Über die Rente wird so hitzig diskutiert, dass manchmal der Blick für das Wesentliche verloren geht. Dabei ist die Rechnung eigentlich ganz einfach: Das Rentensystem hat einen strukturellen Fehler, der sich beheben lässt, wenn man denn will.
Das deutsche Rentensystem ist chronisch klamm. Mehr als 100 Milliarden Euro, und damit deutlich mehr als ein Viertel der jährlichen Ausgaben der Deutschen Rentenversicherung, müssen aus Steuergeldern zugeschossen werden, sonst könnte der Staat schon heute keine Rentenzahlungen mehr leisten. So viel ist bekannt. Nun könnte man sagen: Wo ist das Problem? Wir zahlen viele Dinge aus Steuern, warum nicht auch die anhaltende Subventionierung der Rente?
Der Grund dafür ist einfach: Ein umlagefinanziertes Rentensystem ist eigentlich so konzipiert, dass es sich selbst trägt und nicht auf Zuschüsse angewiesen ist. Renten sind Sozialausgaben, die verbraucht werden, und somit nicht als Investitionen in Infrastruktur, Bildung, das Gesundheitswesen oder die innere oder äußere Sicherheit fließen können. Somit wäre es wünschenswert, die steuerliche Bezuschussung des Rentensystems zumindest zu reduzieren.
Damit kommen wir zum strukturellen Kernproblem der deutschen Rente: Denn durch den demografischen Wandel nimmt die Notwendigkeit der steuerlichen Renten-Subventionierung im Laufe der Zeit nicht ab, sondern zu. In Deutschland wird die Rente rollierend über Generationen finanziert. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Wie in einem Schneeballsystem zahlen heutige Arbeitnehmer die Rente heutiger Senioren, und sie erhalten ihre Rente aus den Beiträgen zukünftiger Arbeitnehmer.
Mehr als ein Viertel der Deutschen ist bald über 65
Ein solches System funktioniert, wenn die Größenordnungen stabil bleiben. Doch das ist gerade nicht der Fall: Die Zahl der Arbeitnehmer nimmt im Verhältnis zur Zahl der Rentner kontinuierlich ab. Während im Jahr 1981 noch 2,9 Arbeitnehmer einen Rentner finanzierten, werden es nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2045 nur noch 1,54 Arbeitnehmer sein. Je weiter diese Entwicklung voranschreitet, desto unterfinanzierter ist das Rentensystem.
Der Hauptgrund für die Verhältnisverschiebung ist eine an sich positive Entwicklung, nämlich dass die Menschen in Deutschland immer älter werden. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes lag die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1960 für Frauen bei 72,4 und bei Männern bei 66,9 Jahren. Heute werden Frauen 83,4 und Männer 78,5 Jahre alt, im Jahr 2060 werden diese Werte bei 87,3 und 83,5 Jahren liegen.
Dadurch hat sich der Anteil der Über-65-Jährigen in Deutschland zwischen 1960 und 2021 von 12 auf 22 Prozent nahezu verdoppelt. Bis 2060 soll der Anteil nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung auf 27 Prozent ansteigen. Noch dramatischer ist der Anstieg der Zahl der Hochbetagten: Hatten im Jahr 1960 nicht einmal 2 Prozent der Bevölkerung das 80. Lebensjahr erreicht, sollen es im Jahr 2060 bereits 10 Prozent sein. Derzeit sind rund 7 Prozent der Bevölkerung über 80 Jahre alt.
Das Renten-Problem kann ganz einfach gelöst werden
Das bedeutet, dass das Rentenproblem aus einem Systemfehler resultiert: Das Rentensystem ist darauf ausgelegt, dass sich die Zahl der Rentner und die Zahl der Arbeitnehmer die Waage halten. Verschieben sich die Größenordnungen, gerät das System in eine Schieflage. Ist die Verschiebung anhaltend, bricht das System irgendwann zusammen.
Mathematisch betrachtet ist die Lösung des Rentenproblems deshalb ganz einfach. Ein Verhältnis wird durch einen Bruch ausgedrückt: Oben im Zähler stehen die Rentner, unten im Nenner die Beitragszahler, das Ergebnis ist der sogenannte Quotient. Je kleiner dieser Rentnerquotient ausfällt, desto stabiler ist das Rentensystem. Verringert werden kann der Quotient, wenn der Zähler (die Zahl der Rentner) verkleinert wird oder der Nenner (die Zahl der Arbeitnehmer) vergrößert wird.
Nun muss eine Ungenauigkeit ausgemerzt werden: Einige Senioren haben sehr hohe und andere sehr niedrige Renten, gleichzeitig zahlen einige Arbeitnehmer sehr niedrige und andere sehr hohe Beiträge in die Rentenversicherung. Das zeigt, dass die tatsächliche Anzahl an Rentnern und Beitragszahlern weniger relevant ist als die Gesamtsummen, die sie erhalten und zahlen. Grundsätzlich gibt es also nur zwei Wege, um das Rentenproblem zu lösen: Erstens, das gesamte Rentenvolumen wird reduziert. Oder zweitens, das gesamte Beitragsvolumen wird erhöht.
Der beste Vorschlag ist effektiv, aber unpopulär
An diesem Punkt wird deutlich, warum die Rentendebatte so schwierig zu manövrieren ist und damit auch so viel Raum für Wut, Missverständnisse oder ideologische Geiselnahmen lässt: Das Rentensystem steht in einem äußerst komplexen und dynamischen Verhältnis insbesondere zum Arbeitsmarkt, so dass Entwicklungen in der Arbeitswelt immer auch Auswirkungen auf das Rentenproblem haben.
Somit gibt es zahllose Stellschrauben, um auf das Rentensystem einzuwirken: Zum Beispiel führen höhere Löhne ebenso zu höheren Rentenbeiträgen wie eine direkte Anhebung der Beitragssätze; eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine stärkere Nettozuwanderung führen potenziell zu mehr Arbeitnehmern; wenn die Löhne stärker steigen als die Renten, sinkt das Rentenniveau, was wiederum die gesetzliche Rentenkasse weniger stark belastet. Und so weiter.
Wie wir noch sehen werden, wirken diese vermeintlichen Lösungen aber immer nur kurzzeitig, und können deshalb maximal als flankierende Maßnahmen betrachtet werden. In der Tat gibt es nur eine einzige Möglichkeit, den strukturellen Fehler des Rentensystems zu beheben. Dieser Vorschlag beeinflusst sowohl den Zähler als auch den Nenner des relevanten Verhältnisses gleichermaßen positiv und würde das Rentensystem langfristig stabilisieren. Diese Maßnahme ist so effektiv wie unpopulär: nämlich die Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung. Im nächsten Text sehen wir uns diesen Text genauer an.
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Teil 3: Warum die Rente mit 70 sozial gerecht ist
Teaser: Um das Rentensystem zu stabilisieren, gibt es nur eine effektive Lösung: eine Erhöhung des Rentenalters. Viele empören sich, dass dies eine versteckte Rentenkürzung sei. Das mag sein. Doch nichts zu tun, ist auch eine versteckte Kürzung – und zwar für alle heutigen Rentner.
Die mögliche Erhöhung des Renteneintrittsalters ist ein heikles Thema. Die Diskussion wird in Deutschland mit harten Bandagen geführt, in Frankreich brennen die Bürger deshalb halbe Stadtviertel nieder. Wer die Rente mit 70 fordert, riskiert einen öffentlichen Spießrutenlauf, weshalb der Vorschlag meist aus Wirtschaft oder Wissenschaft kommt. Das Problem hinter dem Rentenproblem, die unehrliche Debatte, die wir im ersten Teil dieser Serie kennenlernten, wird hier ganz besonders deutlich. Tatsächlich gibt es in Deutschland kaum einen Politiker, der proaktiv ein höheres Renteneintrittsalter fordert.
Das ist höchst kurios. Denn mathematisch betrachtet ist eine längere Lebensarbeitszeit und eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung die effektivste Lösung des Rentenproblems. Diese Maßnahme löst nämlich das strukturelle Problem des demografischen Wandels, das uns im zweiten Teil dieser Serie begegnete und das zu einem immer ungünstigeren Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern führt.
Dabei wirkt die Erhöhung der Lebensarbeitszeit direkt an zwei Hebeln: Sie reduziert die Zahl der Rentner und erhöht gleichzeitig die Zahl der Arbeitnehmer. Die Koppelung an die Lebenserwartung wiederum fixiert das Verhältnis in einer finanziell tragbaren Größenordnung.
Ist ein höheres Rentenalter sozial ungerecht?
Da der demografische Wandel ein unaufhaltbarer Prozess ist, wirkt er ebenfalls doppelt: Schon jetzt ist das Rentensystem alleine nicht finanzierbar, so dass Justierungen notwendig sind. Darüber hinaus nimmt die Unfinanzierbarkeit mit der Zeit immer weiter zu. Eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung ist somit der einzige Weg, um zumindest die Beschleunigung des drohenden Kollapses aufzuhalten. Mit flankierenden Maßnahmen könnte eine höhere Regelaltersgrenze das Rentensystem langfristig sogar stabilisieren.
Das große Problem ist, dass niemand gerne gezwungen wird, länger zu arbeiten. Und nicht nur das: Wer körperlich harte oder seelisch belastende Arbeit macht, der kann seine Lebensarbeitszeit nicht nach Belieben verlängern. Überhaupt: Was körperlich hart oder seelisch belastend ist, ist meist eine ganz persönliche Sache und geht niemanden etwas an – ganz besonders nicht den Staat. Daher ist es vollkommen verständlich, dass viele Menschen in Deutschland überhaupt nichts von diesem Vorschlag halten und sich mit gutem Recht empören, sobald er seinen Weg in die Debatte findet.
Doch an diesem Punkt ist ein kühler Kopf gefragt. Wir haben es hier mit einem Konflikt zu tun, in dem die Unausweichlichkeit der Mathematik der würdevollen Entfaltung des Individuums gegenübersteht. Erstere begrenzt das Machbare, letztere beschreibt das Wünschenswerte. Die Frage ist: Wie weit lassen sich diese beiden Punkte miteinander vereinbaren? Und was ist überhaupt wünschenswert? Auf Antworten stoßen wir, wenn wir die Lebensarbeitszeit nicht isoliert betrachten, sondern sie ins Verhältnis zur "Lebensfreizeit" setzen – eben jener Zeit nach dem Renteneintritt, die sich ein Bürger durch seine Arbeitsjahre erwirtschaftet hat.
Dauer des Rentenbezugs hat sich verdoppelt
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter im Jahr 1960 bei 64,7 Jahren, heute liegt es bei 64,1 Jahren. Arbeitnehmer gehen heute also ein gutes halbes Jahr früher in Rente als damals. Durch eine Reform fiel das durchschnittliche Renteneintrittsalter in den 1980ern und 1990ern zeitweise auf bis zu 62,1 Jahre, stieg nach 1997 aber wieder an. Man kann also über einen Zeitraum von über 60 Jahren von einer mehr oder weniger stagnierenden Lebensarbeitszeit sprechen.
Gleichzeitig ist die Lebenserwartung und mit ihr die durchschnittliche Rentenbezugsdauer massiv angestiegen. Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung lebten Rentner im Jahr 1960 im Schnitt noch 9,9 Jahre im Ruhestand, im Jahr 2021 waren es 20,5 Jahre. Das bedeutet: Die Zeitspanne der wohlverdienten Altersruhe ist für heutige Rentner mehr als doppelt so lang wie für Senioren, die im Jahr 1960 in Rente gingen.
Die Sozialverbände sehen in einer höheren Regelaltersgrenze eine Rentenkürzung für zukünftige Rentner. Mit ähnlichen Worten hat auch die SPD ihre Ablehnung der Rente mit über 67 in ihrem Partei-Programm verankert. Das kann man so sehen. Doch dann muss man ehrlich genug sein, um eine Stagnation der Regelaltersgrenze bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung ebenfalls als Rentenkürzung zu bezeichnen – nämlich für heutige Rentner.
Warum ist das so? Im Jahr 2001 lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer für Männer bei 13,8 Jahren, im Jahr 2021 lag sie bei 18,8 Jahren. Das bedeutet, dass ein männlicher Rentner im Jahr 2021 bei gleicher Lebensarbeitsleistung einen um 36 Prozent höheren Anspruch auf Lebensfreizeit erworben hat als ein Rentner im Jahr 2001.
Individuelle Lösungen verzweifelt gesucht
Extrapoliert man dies in die Zukunft, bedeutet das, dass ein heute 45-Jähriger sich im Laufe seines Arbeitslebens ebenfalls einen deutlich höheren Rentenanspruch erwirbt als eine Person, die heute mit 65 in Rente geht. Bei einer Brutto-Standardrente von gut 1600 Euro monatlich würde eine um fünf Jahre gestiegene Lebenserwartung ohne Berücksichtigung von Inflation und Rentenerhöhungen einen Unterschied von knapp 100.000 Euro machen. Eine solch massive Leistungsausweitung ohne Mehraufwand ist im Rentenrecht schlicht nicht vorgesehen.
Wenn wir also von sozialer Gerechtigkeit sprechen, dann gehört auch dies zur Wahrheit: Bei steigender Lebenserwartung ist eine stagnierende Lebensarbeitszeit gleichbedeutend mit einer Rentenkürzung für die heutige Rentnergeneration. Dies setzt sich in die Zukunft fort: Bei einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung wird jede Generation gegenüber ihrer Nachfolge-Generation sozial benachteiligt, weil die Nachfolger bei gleicher Arbeitsleistung einen höheren Rentenanspruch erwerben.
Was bedeutet das? Es bedeutet nicht, dass der richtige Weg die mechanische Erhöhung des Rentenalters für alle ist. Niemand, wirklich niemand, verlangt, dass Menschen in körperlich oder seelisch stark belastenden Berufen auch mit 70 noch schuften müssen. Eins ist doch klar: Ganz egal, in welchem Job jemand arbeitet, der eine stößt nach 30 Arbeitsjahren an die Grenze des Machbaren, der andere will nach dem 65. Geburtstag noch mal Vollgas geben. In der Sache ist das weder verurteilens- noch lobenswert, denn die Gründe, warum jemand am Ende der Fahrt noch Saft im Tank hat, sind so unterschiedlich wie tiefgreifend persönlich. Und so unterschiedlich und persönlich muss auch die Lösung des Rentenproblems sein.
Das bedeutet, dass die Gesellschaft eine offene Debatte um den richtigen Weg in dieser Frage braucht, ohne dass bestimmte Vorschläge von vornherein als "asozial", "würdelos" oder als "Respektlosigkeit vor der Lebensleistung von Menschen" abgebügelt werden. Wenn wir uns als Gesellschaft den Raum geben würden, offen und vernünftig anstatt wütend und dogmatisch über diese Frage zu diskutieren, dann würden wir vielleicht auch auf Lösungen stoßen, die sich viel individueller an die Lebensentwürfe der Bürger schmiegen als es eine fixe Regelaltersgrenze für alle kann.
Lebenserwartung könnte noch massiv steigen
Schließlich entwickeln sich die westlichen Industrienationen zusehends zu sogenannten „silbernen Gesellschaften“, in denen immer mehr Menschen auch mit 70 oder 80 mental und körperlich robust sind und wichtige Säulen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens darstellen. Diese Entwicklung wird sich mit Blick auf die Fortschritte in Medizin und Biotechnologie fortsetzen. Wenn revolutionäre, noch experimentelle Therapiemethoden wie die Gen-Schere Crispr/Cas9 zur Krebsheilung oder Vorbeugung von Herzinfarkten in Serie genutzt werden, könnte die Lebenserwartung in den Industriestaaten noch einmal sprunghaft ansteigen.
Was für ein Leben wollen wir den Senioren der Zukunft bieten? Älteren Menschen, die immer fitter, immer robuster, immer aktiver werden? Ein sinkendes Rentenniveau, steigende Altersarmut und immer größere Vermögensunterschiede? Oder ein solides, gesundes Rentensystem? Ohne eine Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung wird letzteres aber nicht gelingen. Denn viele Vorschläge, die in der öffentlichen Debatte als Lösungen des Rentenproblems gepriesen werden, sind ideologische Nebelbomben, wie wir im nächsten Teil dieser Serie sehen werden.
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Teil 4: Gute Arbeit kann die Rente nicht retten
Teaser: Es wäre zu schön, um wahr zu sein: Aus der Politik kommt oft der Vorschlag, das Rentenproblem durch faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen für alle zu lösen. Leider ist das ideologie-getriebenes Wunschdenken
Keine Frage: Deutschland braucht gute Löhne. Die hohe Inflation frisst das Einkommen der Beschäftigten auf, der Fachkräftemangel belastet die Unternehmen. Und auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit wäre es besser bestellt, wenn die Bundesrepublik im globalen Wettstreit um die klügsten Köpfe und innovativsten Mitarbeiter gute Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne vorweisen könnte. Die Frage ist: Hilft das auch dem Rentensystem?
Aus der Politik lautet die Antwort auf diese Frage meistens: "Ja – und es ist der einzige gerechte Weg, um das Rentensystem zu stabilisieren". Besonders jene Parteien, die sich den Arbeitskampf auf die Fahne geschrieben haben – Linke, SPD, teilweise die Grünen – befürworten diesen Weg. Unterstützt werden sie dabei von Gewerkschaften und Sozialverbänden, die sich ebenfalls für gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen einsetzen. All dies ist wichtig, gut und gerecht. Das Problem ist allein: Es hilft nicht. Gute Arbeit kann aus rein mathematischen Gründen das Rentenproblem nicht lösen.
Um das zu verstehen, muss man zunächst zwischen zwei unterschiedlichen Vorschlägen unterscheiden, die meist im Paket gehandelt werden: erstens höhere Löhne und zweitens eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit, zum Beispiel, indem eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr Frauen den Weg in die Arbeitswelt ebnet.
Auf den ersten Blick trägt beides zur Besserung bei. Erinnern wir uns zurück an das Kernproblem des Rentensystems aus dem zweiten Teil dieser Serie, nämlich dass das Verhältnis zwischen der Zahl der Rentner und der Zahl der Arbeitnehmer immer ungünstiger wird. Um das Rentenproblem zu lösen, muss entweder die Gesamtsumme der Renten sinken oder die Gesamtsumme der Rentenbeiträge steigen.
Höhere Löhne führen zu einem Renten-Dilemma
Sowohl höhere Löhne als auch eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit scheinen also zu einer Problemlösung beizutragen, denn beide Vorschläge erhöhen die Gesamtsumme der Rentenbeiträge. Das Verhältnis zur Gesamtsumme der Renten entwickelt sich also positiv.
Tatsächlich ist dieses Argument aber eine Nebelbombe, weil sie das sich über die Zeit entfaltende Wechselspiel zwischen Löhnen, Renten und der Inflation ignoriert. Letzten Endes läuft der Höhere-Löhne-Vorschlag auf ein Dilemma hinaus: Entweder verschärft er das Rentenproblem oder die Renten reichen am Ende kaum noch zum Leben.
Warum ist das so? Wenn ein heute 37-jähriger Durchschnittsverdiener im Jahr 2023 einen Rentenpunkt sammelt, erwirbt er damit bei Rentenbeginn im Jahr 2053 einen Anspruch in Höhe von 37,60 Euro im Westen und 35,52 Euro im Osten. Bei 45 Rentenpunkten ergäbe dies eine Bruttorente von 1692 Euro im Westen und 1598,40 Euro im Osten.
In 30 Jahren wird diese Summe aber eine deutlich geringere Kaufkraft besitzen, weil die Inflation auf sie wirkt. Gehen wir von einer optimistischen Schätzung von zwei Prozent pro Jahr aus, dem langfristigen Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. In diesem Fall hätten die 1692 Euro Bruttorente im Jahr 2053 nur noch eine Kaufkraft von 934,10 Euro. Deutlich zu wenig, um im Alter davon zu leben.
Selbstverständlich bleibt es dabei nicht, denn die Rente wird jedes Jahr an die Lohnerhöhungen angepasst. Nach dem Gute-Arbeit-Vorschlag sollen die Löhne kräftig steigen, was auch zu kräftigen Rentenerhöhungen führen würde.
Doch genau an diesem Punkt entfaltet sich das Dilemma: Entweder die Renten steigen stärker beziehungsweise ebenso kräftig wie die Löhne. In diesem Fall würde das Problem des demografischen Wandels erst gar nicht adressiert, geschweige denn gelöst. Mehr noch: Das Rentenproblem würde sogar noch verschärft, weil nicht nur die Zahl der Rentner demografiebedingt zunähme, sondern nun auch der erworbene Rentenanspruch pro Rentner.
Im schlimmsten Fall drohen Armutsrenten
Oder aber die Renten steigen deutlich unterhalb der Lohnerhöhungen. In dem Fall würde sich die Lage im Rentensystem mit zunehmender Zeit entspannen. Doch gleichzeitig würde das Rentenniveau so stark sinken, dass langfristig die Altersarmut massiv zunähme. Warum? Weil die Rentenerhöhungen damit automatisch unter die Inflationsrate rutschen würden. Als Faustregel lässt sich nämlich sagen, dass die Reallöhne, also die inflationsbereinigten Löhne, langfristig immer nur knapp über der Inflationsrate steigen. Mal liegen sie knapp drunter, meistens liegen sie knapp drüber, Ausreißer nach oben oder unten gibt es zwar, aber eher selten. Deutlich größere Lohn- als Rentenerhöhungen würden also dazu führen, dass die Renten nachhaltig unterhalb der Inflationsrate ansteigen würden, was zu einem Jahr für Jahr größeren Kaufkraftverlust für Rentner führen würde.
Höhere Löhne können das Rentenproblem also prinzipiell nicht lösen. Das ist nicht überraschend, weil das umlagefinanzierte Rentensystem eine Art Schneeballsystem ist. Dabei wird jede Lohnerhöhung zeitversetzt nahezu vollständig in eine Rentenerhöhung umgewandelt, wodurch die problemlösende Wirkung auf das Rentensystem aufgehoben wird.
Der demografische Wandel bleibt dabei vollständig unberücksichtigt. Da die Renten immer mit den Löhnen mitziehen, muss deshalb etwas anderes die immer weiter steigende Zahl an Rentnern ausgleichen. Im Endeffekt bedeutet das: Bei einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung muss sich die Erwerbstätigkeit ständig ausweiten. Da die Arbeitnehmer von heute die Rentner von morgen sind, dürfen weder Lohnerhöhungen noch die Ausweitung der Erwerbstätigkeit ausbleiben, sonst gerät das System in eine Schieflage.
Die Erwerbstätigkeit hat natürliche Grenzen
Das grundsätzliche Problem dabei ist, dass der Steigerung der Lebenserwartung bisher keine natürliche Grenze gesetzt ist, während die Erwerbstätigkeit nicht beliebig ausgeweitet werden kann. Für den Menschen ist schlicht kein biologisches Maximalalter bekannt. Und durch Fortschritte im medizinischen und insbesondere biotechnologischen Bereich ist es wahrscheinlich, dass es gelingen wird, derzeitige Altershöchstgrenzen über die Generationen hinweg immer weiter in die Zukunft zu schieben. Fantastische Aussichten für die Menschheit, aber katastrophale für das Rentensystem.
Auf der anderen Seite sind der Ausweitung der Erwerbstätigkeit natürliche Grenzen gesetzt. Wo sollen die ganzen Arbeitnehmer in Zeiten eines massiven Fachkräftemangels denn herkommen?
Erstens hat Deutschland schon heute bei Frauen und Älteren eine der höchsten Erwerbsquoten Europas. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) liegen im europäischen Vergleich bei Frauen nur Schweden und die Niederlande vor der Bundesrepublik, in der Altersgruppe zwischen 50 und 64 landet Deutschland ebenfalls in der Spitzengruppe.
Zweitens ist die Geburtenrate in Deutschland zu gering, um den demografischen Wandel auszugleichen, geschweige denn für eine kontinuierliche Erweiterung der Erwerbstätigkeit zu sorgen. Auch die Zuwanderung wird nicht ausreichen, um die Lücke zu schließen, da kaum zu erwarten ist, dass die Rekordeinwanderungsjahre der jüngeren Vergangenheit beliebig wiederholbar sind. Das IW rechnet deshalb damit, dass ein Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen bis 2030 nicht verhindert werden kann.
Drittens fehlt in Deutschland der politische Wille, deutliche Arbeitsanreize zu schaffen. Die Wirkung des demografischen Wandels auf das Rentensystem eskaliert, wenn Menschen im erwerbsfähigen Alter keine Rentenbeiträge zahlen, sondern auf Sozialtransfers angewiesen sind. Es ist zweifelhaft, dass Sozialleistungen wie das Bürgergeld dies wirkungsvoll verhindern. Ebenso zweifelhaft ist es, dass schlechte Arbeit in Minijobs oder dem Niedriglohnsektor Bezieher von Sozialleistungen langfristig in Arbeit lockt.
Ohne Wachstum stürzt das Rentensystem ein
Viertens kommen auf lange Sicht Faktoren wie Fläche und Infrastruktur ins Spiel: Immer mehr Arbeitnehmer müssen irgendwo wohnen, zum Arzt gehen, ihre Kinder in die Schule schicken, Straßen benutzen oder Bahn fahren. Auch hier gibt es natürliche Grenzen.
Und fünftens wird ein anhaltend starkes Wirtschaftswachstum benötigt, um die Erwerbstätigkeit kontinuierlich auszuweiten. Nicht nur, dass es hier berechtigte Zweifel gibt, dass der deutschen Wirtschaft das überhaupt gelingt: Wir stehen zudem vor dem klassischen Wachstumsdilemma. Klimaschonendes Wirtschaftswachstum oder gar "grünes Schrumpfen" werden kein Thema mehr sein können, wenn sich die Politik weigert, ein Rentensystem zu reformieren, das auf Gedeih und Verderb der Notwendigkeit des knallharten Wirtschaftswachstums ausgeliefert ist.
Wenn der Gute-Arbeit-Vorschlag das Rentenproblem so offensichtlich nicht lösen kann, warum wird er dann politisch so rigoros vertreten? Ganz einfach: Weil es populärer ist, höhere Löhne als eine längere Lebensarbeitszeit zu fordern. Faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen sind absolut berechtigte Forderungen, mit Blick auf die Stabilität der Rente aber ideologische Nebelbomben.
Dass die Entscheidungsträger das Kernproblem des Rentensystems auf diese Weise seit einem halben Jahrhundert verschleppt und verschärft haben, ist die fahrlässig akzeptierte Folge. Im letzten Teil dieser Serie werden wir uns die Fragen stellen, ob das Rentensystem tatsächlich zusammenbricht oder ob es nicht externe Maßnahmen gibt, die das System stabilisieren können.
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Teil 5: Wie bricht das Rentensystem zusammen?
Teaser: Irgendwann kollabiert das Rentensystem, heißt es oft. Doch was ist damit überhaupt gemeint? Stellt der Staat dann seine Rentenzahlungen ein? Nein. Doch es ist ein langes Siechtum zu erwarten, das irgendwann existenzbedrohend für den Staat wird. Auch die Aktienrente oder die Zusammenlegung der gesetzlichen Rente mit dem Pensionssystem für Beamte können das nicht verhindern.
Häufig wird vom Kollaps des Rentensystems gesprochen. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als könnte es einen tatsächlichen Zusammenbruch geben, wie bei einem maroden Haus, das irgendwann in sich zusammenfällt. Diese Sichtweise ist falsch. Das Rentensystem ist praktisch bis zu einer Staatspleite der Bundesrepublik "sicher": Keine Regierung würde die monatlichen Rentenleistungen kürzen oder streichen, nur um die Lage des Staatshaushalts aufzubessern.
Eine solche Maßnahme würde direkt zu einer Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung führen, im schlimmsten Fall zu einer Hungerskrise oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass die Kosten für die Behebung dieser Folgen in keinem Verhältnis stehen würden zur einfachen Weiterzahlung der Rente – auch wenn diese nur noch auf Pump möglich wäre.
Deshalb ist es besser, nicht von einem Kollaps, sondern von einer Degeneration des Rentensystems zu sprechen, von einem kontinuierlichen Verfall. Das ist die wahre Bedrohung durch die demografische Entwicklung. Um bei der Metapher des maroden Hauses zu bleiben: Die Gefahr ist nicht, dass das Gebäude einstürzt und alle Bewohner unter sich begräbt.
Die Gefahr ist, dass es im Laufe der Zeit so teuer wird, das Haus vor dem Einsturz zu bewahren, dass kaum noch Spielraum für andere notwendige Ausgaben bleibt: Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen, in Forschung und Entwicklung, Klimaschutz, Wirtschaftsförderung – generell in die Zukunft des Landes.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Politik dieses marode Haus immer nur neu angestrichen. Stattdessen ist eine Kernsanierung notwendig: Die tragenden Balken des Systems müssen erneuert und die Statik auf ihre nachhaltige Belastbarkeit geprüft werden. Das ist kurzfristig schmerzhaft und teuer, aber langfristig der einzige Weg, um die Folgekosten im Rahmen zu halten.
Kann das System von außen stabilisiert werden?
Die große Gefahr dabei ist, dass wir nicht erkennen, wann die Zeit gekommen ist, um die Reißleine zu ziehen. Wie wir in den vergangenen vier Serienteilen sahen, kann schließlich immer irgendetwas gemacht werden, um wieder für ein paar Jahre über die Runden zu kommen. Gleichzeitig sind die Folgekosten erst auf den zweiten Blick sichtbar. Denn es handelt sich um sogenannte "Opportunitätskosten", die einen Nutzen beschreiben, der aufgrund einer unterlassenen Handlung verloren geht.
Vereinfacht gesagt: Würde man die 100 Milliarden Euro aus Steuergeldern, die jedes Jahr ins Rentensystem fließen, jährlich ins Bildungswesen oder die wirtschaftliche Förderung von Zukunftstechnologie-Startups stecken, bräuchte man sich in einigen Jahren keine Sorgen mehr um den Fachkräftemangel oder die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik zu machen. Doch dieser Nutzen geht verloren, weil wir uns seit über einem halben Jahrhundert dazu entscheiden, das Rentenproblem nicht grundsätzlich zu lösen.
Von innen heraus gibt es nur eine einzige Möglichkeit, den strukturellen Fehler im Rentensystem zu beheben: Das Problem beginnt mit der steigenden Lebenserwartung, deswegen endet es auch dort, nämlich indem das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Diese Maßnahme ist aber so unpopulär, dass befürchtet werden muss, dass sie erst umgesetzt wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Doch was ist mit "externen" Lösungen? Könnte das Rentensystem nicht irgendwie von außen stabilisiert werden? Es gibt zwei vielversprechende, aber letztlich erfolglose Optionen.
Beamte und Selbstständige retten das System nicht
Gleich zu Beginn dieser Serie wandten sich zahlreiche Leser mit einem Vorschlag an [das Medium]: Alle Erwerbstätigen des Landes, auch Beamte, Selbstständige und Politiker, müssten in die gesetzliche Rente einzahlen. Dadurch würden die Einnahmen deutlich erhöht, was den Druck auf das System insgesamt verringere. Österreich, das mit einem Rentenniveau von knapp 80 Prozent deutlich über den 48 Prozent in Deutschland liegt, setzt ein solches Modell bereits seit Jahren um.
Das Problem dabei ist, dass dieser Vorschlag das strukturelle Problem des umlagefinanzierten Rentensystems nicht löst. Nach Analysen der internationalen Unternehmensberatung Mercer, die jedes Jahr die besten Rentensysteme kürt, hat Österreich die zukunftsunfähigste Rente der Welt. Die Alpenrepublik sitzt demnach mehr noch als Deutschland auf einer tickenden Zeitbombe.
Überraschend ist diese Erkenntnis nicht: Es mag sein, dass bei einer Zusammenlegung der Systeme kurzfristig mehr Geld zur Verfügung stünde, weil Beamte und Selbstständige im Schnitt relativ hohe Einkommen haben und damit auch hohe Rentenbeiträge zahlen. Doch gleichzeitig erwerben sie auch höhere Rentenansprüche.
Deswegen werden nur die Einnahme- und Ausnahmeströme verschoben, gesamtwirtschaftlich ändert sich aber nichts: Da zukünftig weniger Betragszahler mehr Rentner finanzieren müssen, ganz egal, ob diese angestellt, selbstständig oder verbeamtet sind, wird der strukturelle Fehler im Rentensystem schlicht nicht adressiert. Auch wenn die Zusammenlegung der Systeme aus anderen Gründen sinnvoll sein kann, wird das Rentenproblem dadurch nicht gelindert, geschweige denn gelöst.
Wirklich hilfreich wäre es, wenn das Rentensystem außer Beiträgen und Steuerzuschüssen noch andere Einnahmeströme hätte. Das ist die Idee hinter einer teils kapitalgedeckten Rente: Geld wird am globalen Kapitalmarkt angelegt und die Gewinne fließen direkt ins Rentensystem. Ein solcher Mechanismus wird gerade eingeführt, im Raum stehen schuldenfinanzierte 10 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Aktienrente ist wichtig, kommt aber viel zu spät
Das Problem dabei: Auch wenn es sich viel anhört, die Summe ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Warum? Gehen wir davon aus, dass ein deutscher Staatsfonds eine jährliche Rendite von 7 Prozent erwirtschaften kann. Das ist die historische Durchschnittsrendite am globalen Aktienmarkt. Wahrscheinlich wird sie etwas geringer ausfallen, weil der Fonds mehr Sicherheiten bräuchte, die wiederum weniger Rendite bringen.
Von diesen 7 Prozent muss zunächst die Inflation abgezogen werden, schließlich finden inflationsausgleichende Rentenerhöhungen statt. Gehen wir vom EZB-Ziel von 2,0 Prozent aus. Außerdem muss der Schuldendienst abgezogen werden, denn die Einlagen des Staatsfonds werden über die Ausgabe von Bundesanleihen, also über Staatsschulden, finanziert. Gehen wir optimistisch von einem durchschnittlichen, langfristigen Zins von 1,0 Prozent aus. Hinzu kommen realistische Verwaltungskosten von 0,5 Prozent.
Der deutsche Renten-Fonds kann unter dem Strich unter diesen Annahmen also nur noch 3,5 Prozent Gewinn bringen. Um jährlich die rund 100 Milliarden Euro zu erwirtschaften, die bereits heute aus Steuergeldern ins Rentensystem fließen, müsste der Staatsfonds ein Volumen von mehr als 2,85 Billionen Euro haben. Um dieses Volumen mit 10 Milliarden Euro pro Jahr zu erreichen, dauert es mehr als 285 Jahre.
Das bedeutet: Es würde bis ins Jahr 2308 dauern, bis der Staatsfonds das Defizit ausgleichen könnte, das bereits im Jahr 2023 im deutschen Rentensystem besteht. Würde der jährliche Gewinn nicht zur Stabilisierung des Rentensystems abgeschöpft, sondern zum Zwecke des Zinseszinseffektes im Fonds behalten, würde es unter den obigen Annahmen immer noch 75 Jahre dauern, bis der Staatsfonds das notwendige Volumen erreicht hätte.
Diese Rechnung ist hochspekulativ und stark vereinfacht, zeigt aber, von welchen Größenordnungen wir hier sprechen: Jährlich 10 Milliarden Euro sind einfach zu wenig, um kurz- oder mittelfristig einen Unterschied zu machen. Auf die sehr lange Sicht ist die Aktienrente – vernünftig konzipiert – ein elementarer Baustein zukünftiger Staatshaushalte. Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die finanzielle Überforderung des Staates durch den demografischen Wandel früher eintritt als das Fließen saftiger Gewinne aus einem Renten-Aktienfonds.
Es besteht Hoffnung für das Rentensystem
Was lässt sich nun aus all den Informationen schließen, die wir in dieser Serie zusammengetragen haben? Vor allem eines: Das Rentensystem benötigt eine grundlegende Reform, deren zentrales Element die Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung sein muss.
Die entscheidende Frage hier ist nicht das "ob", sondern das "wie": Wie kann eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit sozial gerecht und sinnvoll umgesetzt werden? Zu dieser Frage muss es eine offene und ehrliche Diskussion geben, in der die Gesellschaft ohne Wut und Nebelbomben um die besten Vorschläge ringt. Durch eine solche Reform kann die Degeneration des Rentensystems aufgehalten werden.
Um es zu stabilisieren, sind weitere fundamentale Maßnahmen erforderlich: Die Aktienrente wird hier eine zentrale Rolle spielen, da sie bei einem langfristig überschaubaren Risiko leistungslose Zusatzeinnahmen verspricht. Auch die Zusammenlegung der Systeme für Rentner und Beamte ist eine Option, die zwar das System nicht rettet, aber zumindest das Gefühl schafft, dass wir alle in einem Boot sitzen.
Flankierende Maßnahmen können dann dazu dienen, die steuerliche Subventionierung des Rentensystems Schritt für Schritt zu reduzieren. Dazu gehören gute Löhne, gute Arbeitsbedingungen, eine Förderung lückenloser Erwerbsbiografien, eine verpflichtende Berufsrente, eine staatlich geförderte, massiv steuererleichterte private Altersvorsorge und bürokratiearme Möglichkeiten der Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme.
In den Industrienationen ist der demografische Wandel eine der kolossalen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte. Doch er muss nicht ausweglos sein. Das Rentensystem ist nicht dem Untergang geweiht.