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Die dunkle Seite von SAP

von Christian Bergmann und Tim Bartz
Der Spiegel vom 12.11.2021

Der deutsche Vorzeigekonzern SAP soll seine Vormachtstellung durch Diebstahl geistigen Eigentums, Industriespionage, Ausnutzung von Marktmacht und Urheberrechtsbetrug ausgebaut haben. Der Artikel schildert vergangene Skandale unter Nutzung von Insider-Informationen und des Linklaters-Gutachtens "Golden Eye" und kritisiert insbesondere den Führungsstil der Gründer Hopp und Plattner.

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Die dunkle Seite von SAP

Bundesrichter Joseph Spero weiß, wie man mit machtbewussten Weltkonzernen und deren Anwälten umspringt. Der 55-jährige »Chief Magistrate Judge« mit der putzigen Fliege um den Hals ist schon mit Apple und Samsung fertig geworden, als die sich in seinem Gerichtssaal in San Francisco um Patentrechte stritten. Spero beißt sich nicht auf die Zunge, wenn ihm etwas stinkt. Er poltert direkt los.
»Müsste ich eine Vorlesung darüber halten, wie Anwälte die Zeit des Gerichts verschwenden, würde ich meinen Studenten dieses Schreiben zeigen«, blaffte er im Oktober 2020 die Rechtsvertreter der US-Firma Teradata und des deutschen IT-Riesen SAP an. Es ging um ein Schreiben, das die Streitparteien aufgesetzt hatten und mit dem sie offenbar nur Zeit schinden wollten. »Machen Sie das nie wieder!«, drohte Spero genervt.
Es ist ein David-gegen-Goliath-gleicher Kampf, der sich derzeit vor seinem Richtertisch abspielt. Und bei dem Goliath viel mehr zu verlieren hat. Teradata, 1979 gegründet, ist allenfalls Insidern bekannt und an der Börse gerade mal 6 Milliarden Euro wert. Peanuts.
SAP dagegen ist ein Gigant, mit 155 Milliarden Euro Börsenkapitalisierung der teuerste deutsche Konzern – und neben den Impfstoffentwicklern von Biontech eines der letzten Aushängeschilder für die Innovationskraft einer Nation, deren ökonomisches Rückgrat sonst vor allem aus Old-Economy-Größen und Mittelständlern besteht.
Seit 2018 beharken sich SAP und Teradata. Teradata als Kläger, SAP als Beklagte. Sie streiten um kleinste Kleinigkeiten. Dutzende Gutachter wurden hinzugezogen, hunderttausende Aktenseiten ausgetauscht.
Die Vorwürfe gegen den deutschen Vorzeigekonzern haben es in sich. Und sie werfen die Frage auf: Müssen die Deutschen unfair tricksen, um international noch mithalten zu können?
Teradata beschuldigt SAP des Diebstahls geistigen Eigentums, der Industriespionage, des Betrug, der Ausnutzung von Marktmacht. Noch ist nichts gerichtsfest bewiesen; SAP weist alle Vorwürfe zurück und hat gerade einen wichtigen Etappensieg erreicht. Doch jahrelange Recherchen [des Mediums] und [anderes TV-Medium] werfen ein düsteres Licht auf den Konzern. Weit über das aktuelle Verfahren hinaus, das bei Spero auf dem Richtertisch liegt. Nach Gesprächen mit Insidern und der Sichtung geheimer Dokumente drängt sich das Bild eines Unternehmens auf, das sich offenbar auch mit unlauteren Methoden, vor allem Diebstahl geistigen Eigentums an die Weltspitze getrickst hat.
Die Recherchen säen Zweifel an der schönen Erzählung vom Selfmade-Weltmarktführer aus der Kleinstadt Walldorf, der mit harter Arbeit und dem puren Genie einer Handvoll Technikgenies die Konkurrenz von der US-Westküste das Fürchten lehrt. Der Fall Teradata scheint kein Ausrutscher zu sein, kein Einzelfall, sondern vielmehr die Fortsetzung einer Kette von Skandalen, die ineinander verflochten sind und an den Grundfesten des Geschäftsmodells von SAP rütteln. Und an seinem Renommee.
Womöglich muss auch das Lebenswerk zweier Männer neu bewertet werden, die die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte geprägt haben wie nur wenig andere: Hasso Plattner und Dietmar Hopp. Zusammen mit drei anderen gründeten sie 1972 die »Systemanalyse und Programmentwicklung GbR«, mit der sie den Markt für Betriebs-Software revolutionierten.
Das Business ist nicht sexy. Aber so einträglich, dass Hopp und Plattner, die nach dem Ausstieg der anderen Gründer übrigblieben, heute zu den reichsten Deutschen gehören. Hopp und Plattner sind mit jeweils
gut fünf Prozent die größten SAP Einzelaktionäre; Hopp ist geschätzte 13
Milliarden Euro schwer, Plattner kommt auf 10 Milliarden Euro.
Gegen ihren Willen läuft in Walldorf nichts. Seit Jahrzehnten dominieren sie in Vorstand und Aufsichtsrat, der eine löste den anderen dort als Chef ab (siehe Grafik). Die Belegschaft verehrt das Duo, und sie fürchtet es. Aufsichtsratschef Plattner gilt als Arbeitstier und Choleriker. »Ich bin Berliner: schnell, laut, unausstehlich, fleißig, brutal offen«, sagte er einmal über sich. Hopp wiederum ist enorm dünnhäutig. Mit Kritik können beide nur schlecht umgehen.
Hopp und Plattner sind nicht nur zwei der vermögendsten und erfolgreichsten Deutschen. Sie gelten auch als großzügige Förderer und Mäzenaten, denen ihr öffentlicher Ruf enorm wichtig ist. Hopp kämpft mit seinem Geld gegen Kinderkrebs und Klimawandel, Bildungsarmut und Bewegungsmangel. Nicht alles gelingt; das von ihm gepäppelte Kunstgebilde TSG Hoffenheim verharrt in der Fußball-Bundesliga im Mittelmaß und wird von Fans der Traditionsvereine verachtet. Und die von ihm alimentierten Curevac-Forscher haben bis heute keine Vakzine gegen das Coronavirus gefunden. Trotzdem wird Hopp in seiner Heimat, dem Kraichgau, fast grenzenlos verehrt.
Plattner ist einer der bedeutendsten Wissenschaftsförderer der Republik. Potsdam hat der gebürtige Berliner nach der Wende fast im Alleingang aufgemöbelt. Für die dortige IT-Hochschule spendete seine ebenfalls in Brandenburgs Hauptstadt ansässige Stiftung mehr als 200 Millionen Euro, Stadtschloss und Palais Barberini würden ohne sein Geld nicht im alten Preußen-Glanz erstrahlen. Selbst die Sozialisten können sich für den Erzkapitalisten Plattner erwärmen; gerade ließ er mit seinem Geld das Terrassenrestaurant »Minsk« im Stil der DDR-Moderne rekonstruieren.
Ihr Reichtum und ihre Großzügigkeit haben Hopp und Plattner zu Vorbildern für ganze Generationen von Gründern gemacht. Nun zeigt sich, dass der Erfolg von SAP, auf dem dies alles beruht, offenbar doch nicht allein Mut, Geschick und Genius zu verdanken ist.
Das »System SAP« ist verschlungen und für Außenstehende schwer zu durchdringen. Wer es verstehen will, muss eine Zeitreise antreten, zurück bis in die 1990er-Jahre. Als der Konzern noch keine Datenbanktechnologie besaß und diesen Rückstand aufholen wollte. Allem Anschein nach um jeden Preis.
Von außen betrachtet, ist die Fassade des Weltkonzerns glänzend. Doch von innen lässt sich Erstaunliches beschreiben über die Art und Weise, wie SAP seinen Aufstieg orchestrierte und nachlässig der Konzern mit dem Fehlverhalten seiner Manager umging. Und wie ein Mann davon profitierte, den in der Öffentlichkeit kaum einer kennt, der jedoch als Intimus von Konzerngründer Hopp gilt und bis heute im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzt.
Eine seltene Innenansicht dieses Systems ermöglicht ein internes Gutachten aus dem Jahr 2010. Verfasst hat es eine der renommiertesten Wirtschaftskanzleien des Landes. Bis heute war es unter Verschluss, SAP wehrte sich vehement gegen die Veröffentlichung. Der Konzern zog sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht, um seine Sprengkraft zu dämpfen. Es trägt den Namen eines James-Bond-Thrillers und ist mindestens so spannend wie die Abenteuer des britischen Agenten mit der Lizenz zum Töten: »Golden Eye«.

I. Das Gutachten

Das Dokument ist 61 Seiten stark, »Persönlich/Vertraulich« steht fett auf dem Titelblatt. Angefertigt haben es zwei Anwälte der Kanzlei Linklaters, Hans-Ulrich Wilsing und Rupert Bellinghausen. Auftraggeber und Adressat ist SAP-General-Counsel Michael Junge. Unternehmen beauftragen Kanzleien wie Linklaters in der Regel, wenn sie ein größeres Problem haben, sich absichern wollen oder juristisch in Not geraten sind und nicht weiterwissen.
2010 ist SAP in Not. Der US-Erzrivale Oracle und sein superaggressiver CEO Larry Ellison hatten drei Jahre zuvor den deutschen Herausforderer verklagt. Anlass war die Übernahme eines kleinen Softwaredienstleisters für 15 Millionen Euro durch SAP. TomorrowNow heißt der Laden, der Vorwurf lautete: TomorrowNow soll urheberrechtlich geschützte Dateien von Oracle-Servern heruntergeladen haben, Oracle in der Folge Kunden an SAP verloren haben. Dieser Missbrauch geistigen Eigentum wäre ein übles Foul selbst für die ruppige IT-Branche.
Was folgte, war ein jahrelanger, spektakulärer Schlagabtausch der beiden Softwaregiganten, der 2012 in einem Schuldspruch gegen SAP mündete. Ein Gericht in Kalifornien verdonnerte den Konzern wegen Urheberrechtsverletzung zu 1,3 Milliarden Dollar. Die bis dahin höchste Entschädigungssumme, die je wegen Diebstahl geistigen Eigentums aufgerufen wurde.
Nach dem Gang durch weitere Instanzen wurde der Betrag in einem Vergleich auf 357 Millionen Dollar reduziert; zusätzlich musste SAP Oracles Anwaltskosten von 120 Millionen Euro übernehmen. Trotz Rabatt war das Prozessende eine bittere Niederlage für den Konzern. Und für Plattner, der einmal über sich sagte: »Ich suche Kämpfe, und ich will sie gewinnen.«
Weil die juristische Schlacht 2010 noch offen war, schaltete der SAP-Aufsichtsrat vorsichtshalber Linklaters ein. Die Anwälte sollten prüfen lassen, welche Haftungsansprüche sich aus einer juristischen Niederlage gegen Oracle und aus schweren, internen Verfehlungen gegen ein Vorstandsmitglied ergeben könnten. Ein heftiger Vorstoß, Unternehmen machen so etwas nicht leichtfertig. Aber ein begründeter, wie sich zeigen sollte.
Im Fall TomorrowNow, so beginnt das Gutachten vom Januar 2010, seien »Vorgänge zutage getreten, die den Aufsichtsrat veranlasst haben, (...) u.a. potenzielle Pflichtwidrigkeiten des zuständigen Verwaltungsmitglieds Gerhard Oswald prüfen zu lassen«.
Oswald zählt nicht zur öffentlichen SAP-Prominenz – aber er gehört zum inneren Kreis. Er ist jener Vertraute von Dietmar Hopp, der bis heute im Aufsichtsrat von SAP sitzt. Man trifft ihn gelegentlich auf Hopps Golfplatz in St. Leon-Rot oder im Stadion der TSG Hoffenheim. »Oswald ist einer der ganz wenigen, zu denen Hopp ein Vertrauensverhältnis hat«, sagt ein ehemaliger SAPler, der lange im engen Umfeld der beiden tätig war. »Einer kennt die Geheimnisse des anderen. Oswald stellt sicher, dass bei SAP nichts gegen Hopps Willen läuft.« Der heutige Vorstandschef Christian Klein war einst Oswalds Assistent. Auch Kleins Name taucht in E-Mails auf, die im Oracle-Prozess eine Rolle gespielt haben.
Oswald ist ein Urgestein des Konzerns. Mitte der 1970er-Jahre fertigte er seine BWL-Diplomarbeit bei SAP an, 1981 begann er dort seine Konzernkarriere. Kontinuierlich arbeitete er sich hoch und zog 1996 in den Vorstand ein, zuständig für Global Service & Support (GSS). Dabei schien er nicht zwingend geeignet für eine Führungsposition in einem global operierenden Softwareunternehmen. Oswalds Englisch, so steht es in dem Linklaters-Dokument, sei nicht verhandlungssicher, in Verhandlungen und Vorstandssitzungen greife er auf Übersetzer zurück. Englischsprachige E-Mails in seinem Namen seien von Vorstandsassistenten entworfen und versandt worden.
Oswald muss andere Stärken gehabt haben. Denn trotz Sprachmängeln ist der Hopp-Buddy seinerzeit für die US-Tochter TomorrowNow zuständig.
Genau wie Thomas Ziemen, auch sein Name taucht in dem Dokument auf. Ziemen leitet die Abteilung Services/Business Development, er ist der Kontaktmann zwischen SAP und TomorrowNow. Alle paar Wochen unterrichtet er Oswald über die Integration der Softwaretochter.
Das Linklaters-Gutachten nimmt den TomorrowNow-Deal im Detail unter die Lupe. Die Juristen kommen zu der Einschätzung, »dass Ziemen und Oswald Kenntnis von den Urheberrechtsverletzungen hatten oder zumindest hätten haben müssen«. Sie gelangen auch zu dem Schluss, dass der damalige SAP-Vorstand unter CEO Henning Kagermann wohl alles gebilligt habe. Starker Tobak. Ein Diebstahl geistigen Eigentums, der SAP vor Gericht hunderte Millionen Euro gekostet hat, mit dem Segen des Führungszirkels?
Zumindest Ziemen hat intern nie einen Hehl aus der Bedeutung von TomorrowNow für SAP gemacht. Dank der neuen US-Tochter könne man den Erzfeind Oracle »durch das Abschöpfen von Einkünften aus Serviceleistungen schmerzhaft treffen«, schreibt er in einer Depesche an den Vorstand. TomorrowNow sei eine »strategische Waffe«.
Klassische Kriegsrhetorik, wie sie in Konzernen allzu gern gepflegt wird und zum Titanenkampf von SAP und Oracle passt. Zwischen deren Alphatieren Plattner und Ellison geht es längst nicht mehr nur um Marktanteile. Den Fight nehmen die beiden längst persönlich, etwa bei Segeln, ihrem Hobby. Wenn sie mit ihren Millionenyachten in Regatten gegeneinander antreten, schenken sie sich nichts.
So erlitt Plattners »Morning Glory« bei einem Rennen 1996 einen Mastbruch, worauf Ellisons »Sayonara« an ihm vorbeizog. Die Crew des Oracle-Bosses prostete der Plattners-Truppe beim Vorbeifahren mit Champagner zu. Der SAP-Boss, außer sich, zog blank und präsentierte Ellison seinen nackten Hintern.
Plattners Kollegen Oswald und Ziemen wollen laut Gutachten von Urheberrechtsverletzungen nichts gewusst haben. Oswald setzt in seiner Verteidigung auf einen Gedächtnisverlust im XXL-Format, die Erinnerungslücken des Managers ziehen sich wie ein roter Faden durch das Dokument. So behauptet er steif und fest, niemals in Texas, dem Sitz von TomorrowNow, gewesen zu; schon gar nicht, um vor Ort den Deal einzutüten. Erst als ihm die Juristen seinen eigenen Kalender vor die Nase halten, fällt ihm plötzlich ein, sich sehr wohl mit dem TomorrowNow-Gründer getroffen zu haben – in Texas, gleich dreimal.
Für die Linklaters-Juristen ist klar: Der Hopp-Vertraute hat mutmaßlich seine Pflichten als Vorstand verletzt. Sie gehen davon aus, »dass Haftungsansprüche der Gesellschaft gegen Herrn Oswald bestehen dürften«. Und doch raten sie ab, ihn in Regress zu nehmen. Eine überraschende Volte. Die Anwälte begründen sie erstaunlich offenherzig: Würde SAP seinen Vorstand Oswald angehen, käme dies einem impliziten Schuldeingeständnis des Konzerns gleich, gegen Oracle getrickst zu haben.
Ein solcher Schritt würde in deutschen und amerikanischen Medien »hohe Wellen« schlagen und »praktisch unkalkulierbare Risiken« für den damals noch laufenden Oracle-Prozess zur Folge haben. Die in US-Zivilprozessen übliche Laienrichter-Jury sei dann leichter von SAPs Schuld zu überzeugen. SAP, so formulieren die Juristen in aller Klarheit, drohe ein Imageschaden, »der geeignet erscheint, dem Unternehmen schwerwiegenden und nachhaltigen (finanziellen) Schaden zuzufügen«. Von einem Einbruch des Aktienkurses bis hin zum Ende von Geschäftsbeziehungen. Und dann folgt in einer Offenheit, die einem die Sprache verschlägt, dieser Satz: »Insbesondere US-Kunden sind dafür bekannt, auf systematische Gesetzesverstöße von Geschäftspartner äußerst sensibel zu reagieren.«
Deshalb empfiehlt Linklaters eine Strategie des Augen-zu-und-durch: SAP solle sich von Oswald »geräuschlos« trennen und seinen Ende 2010 auslaufenden Vertrag nicht verlängern. Sogar von einer börsenrelevanten Adhoc-Meldung raten die Advokaten ab, um keinen Staub aufzuwirbeln. Stattdessen solle SAP die Gründe für Oswalds Ausscheiden »für die Presse gezielt« aufbereiten. Entscheidend sei, »Spekulationen über einen Zusammenhang zwischen dem Oracle-Rechtsstreit und dem Ausscheiden Oswalds (...) im Keim zu ersticken.« Dafür, so heißt es weiter, könnten etwa Probleme mit der Markteinführung einer Software aus Oswalds Zuständigkeit angeführt werden. Kurzum: Die Kanzlei rät ihrem Mandanten SAP zur Notlüge.
Der erste Teil der Ratschläge seiner Advokaten nimmt der Konzern an: Oswald wird verschont. Den zweiten Teil der Empfehlung verehrt SAP dann sogar ins Gegenteil: Keine vier Wochen nach Eingang des Linklaters-Gutachtens befördert Plattners Aufsichtsrat den Hopp-Intimus zum Oswald Chief Operating Officer (COO) – Aufstieg statt Abschied. Aus dem Vorstand ausscheiden wird Oswald erst 2016, um nach einer Anstandspause 2019 in den Aufsichtsrat einzuziehen.
SAP verweist mit Blick auf TomorrowNow darauf, dass das Oracle-Verfahren einvernehmlich beigelegt und abgeschlossen sei. Doch woher rührt diese Nibelungentreue, insbesondere zu Oswald? Womöglich ist sie erklärbar – durch ein anderes, unrühmliches Kapitel des Konzerns, das noch weiter zurückreicht. Und sich ebenfalls im Linklaters-Gutachten findet.

II. Im Tunnel

Die Universität Mannheim mag zu den jüngeren Bildungsanstalten des Landes zählen, sie residiert allerdings in einem traditionsreichen Gebäude: dem Barock-Schloss Mannheim, das zweitgrößte seiner Art in Europa nach Versailles. Seit der Wiederherstellung der historischen Dächer 2007 strahlt es im alten, kurfürstlichen Glanz.
Zwei Jahrzehnte zuvor startet hier, an der malerischen Uni und ihrem Ableger, eine Geheimoperation des SAP-Konzerns. Wieder mit dem Duo Oswald/Ziemen in den Hauptrollen. Alles beginnt damit, dass SAP beschließt, Konkurrenz-Software durch ein unabhängiges Institut untersuchen zu lassen. Verwerflich ist das nicht – es sei denn, ein Unternehmen entschlüsselt den sogenannten Quellcode von Konkurrenzsoftware. Dann wird aus einem Produktvergleich eine Straftat: die Verletzung von Urheberrecht.
Und genau das scheint Sinn und Zweck der Operation gewesen zu sein. Die fängt zunächst harmlos an. SAP wendet sich an die Forschungsgruppe Wirtschaftsinformatik der Uni Mannheim. Die gehört zum Lehrstuhl von Professor Franz Steffens, dem Doktorvater von Ziemen. So ein Zufall. SAP sichert dem Wissenschaftler im Juli 1997 zu, die Forschungsgruppe mit Hard- und Software zu beliefern und jährlich mit 400.000 Mark zu alimentieren. Unterschrieben ist der Vertrag von Hopp, damals SAP-Vorstandschef, Projektverantwortlicher wird Ziemen.
Es dauert keine zwei Wochen, dann stellt SAP dem Lehrstuhl sogar drei Assistentenstellen in Aussicht, diesmal zeichnet neben Hopp auch Oswald frei. »Ab 1998«, so steht es im Gutachten, »wurden die Arbeitsthemen und Projekte in enger persönlicher Abstimmung mit Oswald festgelegt«, danach wird losgeforscht.
Im Jahr 2001 ändert sich das Setting. Vertragspartner ist nicht mehr die Uni, sondern das von Professor Steffens gegründete Institut BIT. In dessen neuen Räumlichkeiten im Viktoriaturm nahe dem Mannheimer Hauptbahnhof tauchen auf einmal SAP-Mitarbeiter auf. Einige ziehen dort sogar in eigene Büros, auch Ziemen. Über einen Daten-Tunnel, in der IT-Sprache »Remote Access«, erhalten SAPler sogar am Konzernsitz im Walldorf Zugang. Auf Messeständen laufen Mitarbeiter mit falschen Visitenkarten herum, um die Konkurrenz auszuspionieren.
Das BIT und SAP sind jetzt praktisch eins, das Institut ist nicht unabhängig. Unter strenger Geheimhaltung durchleuchtet das BIT-Team die Software von SAP-Konkurrenten, Oswald wird über die Forschungsergebnisse regelmäßig unterrichtet – obwohl das Konzerngeld, so die Uni Mannheim, »ohne konkret beschriebenen Forschungs- und Entwicklungsauftrag«, geflossen sei. Später kooperiert der Konzern auch mit der Universität in Wiesbaden. Unter Ziemens Führung werden die Schwachstellen von Software der Unternehmen Peoplesoft und Siebel untersucht, zwei Wettbewerber, die später vom SAP-Erzrivalen Oracle übernommen werden.
Die klandestine Vorgehensweise des BIT wird der Rechtsabteilung von SAP irgendwann zu heiß. Im Jahr 2002 stellen die Konzernjuristen gegenüber Ziemen klar, »dass SAP entsprechende Wettbewerbsanalysen nicht selbst vornehmen dürfe«, heißt es in dem Gutachten. Die »direkte und indirekte Beteiligung von SAP am BIT (sei) nicht mehr erwünscht«. Eine klare Ansage sollte man meinen.
Doch statt die Verbindung zu kappen, gründet Ziemen die Gesellschaft SIT – und schaltet sie zwischen SAP und BIT. Ziemen, hauptberuflich immer noch bei SAP angestellt, wird Geschäftsführer der SIT, dank einer »Nebentätigkeitsgenehmigung«, die ihm Oswald ausstellt. Die Konstruktion endet in einer irren Doppelrolle: Als SAP-Mann gibt Ziemen der SIT Aufträge und zeichnet deren Rechnungen frei, von denen er als SIT-Chef profitiert. Mindestens 1,7 Millionen Euro fließen aus seiner Abteilung von SAP an die SIT und mutmaßlich weiter an das BIT seines Doktorvaters Steffens.
Fast folgerichtig scheint da, dass sich Ziemen weigert, den Verhaltenskodex Code of Business Conduct (CBOC) des SAP-Konzerns zu unterzeichnen. Seine Begründung: Der Kodex hinderte ihn daran, seinen Aufgabenbereich nicht mehr umfassend wahrzunehmen. Selbst ein Gespräch mit dem damaligen Vorstandschef Kagermann ändert daran nichts. Konsequenzen? Keine, wie später noch so oft. Offenbar war der Mann zu wichtig – oder das, was er im rechtlichen Graubereich für den Konzern organisierte.
Erst Jahre später, so steht es im Gutachten, will Ziemen den Verhaltenskodex unterschrieben haben, jedenfalls »ausweislich mündlicher Informationen«. Sicher sind sich die Juristen freilich nicht: »Ob und wann es hierzu gekommen ist, geht aus den Unterlagen nicht hervor.«
So geht das weiter bis ins Jahr 2005. Erst da schrillen die internen Alarmglocken, weil die Sache aufzufliegen droht. Die Rechtsabteilung und das Compliance-Team haben durch eine interne Quelle erfahren, dass Dritte offenbar von der Verbindung zwischen SIT und SAP wissen. Und auch die Revision scheint allmählich mitzubekommen, dass die SIT bloß eine Scheinfirma des Konzerns ist, ohne Gewinnerzielungsabsicht. Die einzige Absicht ist es ja, Mitbewerber auszuforschen. Die Kontrolleure monieren, dass Ziemen »lediglich auf dem Papier« SIT-Geschäftsführer sei; seine Doppelrolle hätte von Oswald niemals genehmigt werden dürfen. Eine Erkenntnis, die eine SAP-typische Konsequenz nach sich zieht: Ausgerechnet Oswald wird Ende 2005 damit beauftragt, die SIT zu schließen und die Beziehungen zum BIT einzufrieren.
Wieder einmal zeigt sich die spezielle Unternehmenskultur des Konzerns in seltener Klarheit. Obwohl Revision, Rechtsabteilung und Compliance in heller Aufregung sind, passiert praktisch nichts. »Weitergehende Konsequenzen (...) wurden nicht vorgeschlagen oder vom Vorstand erörtert«, heißt es im Gutachten. Oswald zur Rechenschaft ziehen? Natürlich nicht. Genau wie Jahre später im Fall TomorrowNow.
Es ist eine Unternehmensführung, die monarchisch anmutet. Dazu passt, dass die SIT gar nicht, wie eigentlich beschlossen, dichtgemacht wird, sondern laut Handelsregistereintrag einfach in Systech umfirmiert. Ziemen verkauft seine Anteile an den neuen Geschäftsführer – mit Gewinn, wie im Gutachten vermerkt wird. Dass die SIT, jene Tarnfirma, die offenkundig im Auftrag von SAP die Konkurrenz ausspioniert, unter anderem Namen weiter existiert, überrascht angeblich auch Oswald. Der will wieder einmal nichts bemerkt haben.
Das mögen ihm die Linklaters-Anwälte nicht glauben. Es gebe »Anhaltspunkte sowie Aussagen von Ziemen und anderen SAP-Mitarbeitern, die indizieren, dass Oswald gewusst hat, dass SAP über die SIT und das BIT gezielt Zugriff zu Fremdsoftware verschafft werden sollte«. Ein heftiger Vorwurf.
Eine Scheinfirma, die Betrug und Spionage organisiert? Gedeckt aus der Mitte des Konzerns? Und eine Führung, die, als alles das auffliegt, mit den Achseln zuckt und dieselben Leute weiter mit denselben Machenschaften betreut? Schwer vorstellbar in einem globalen Vorzeigekonzern mit all seinen Kontrollmechanismen und -abteilungen. Aber bei SAP gab es offenbar zwei Kulturen. Eine auf dem Papier. Und eine, die galt.
Denn es hörte und hörte nicht auf: SAP zahlte sogar weiter Geld an Systech, ehedem SIT, und vermittelte Konzernmitarbeiter dorthin. Man hielt es nicht einmal für nötig, die führenden Köpfe auszutauschen.
Ziemen, offenbar der unverzichtbare Mann fürs Grobe, blieb Chef des Regiments. Das legt eine Selbstanzeige eines damaligen Systech-Managers nahe, die [dem Mediums] und [anderem TV-Medium] vorliegt. Darin bezeichnet sich der Mann selbst als »Marionette« von Ziemen.
Ziemen, wiewohl SAP-Angestellter, erteile ihm Befehle und habe vom Systech-Firmenkonto bei der Sparkasse Heidelberg zwischen 2006 und 2008 insgesamt 382.720 Euro abgehoben – deklariert als Beratungshonorare, obwohl er keinerlei Leistungen erbracht habe. SAP zahlt noch bis 2008 Geld an Systech und BIT; erst 2009 wird Systech aufgelöst.
Ziemen ist zu dem Zeitpunkt längst zu neuen Ufern aufgebrochen: Er kümmert sich um die neue US-Tochter TomorrowNow – vermutlich auf Wunsch seines Patrons Oswald, auf jeden Fall mit dessen Einverständnis. Eigentlich ein Unding. Auch die Linklaters-Advokaten zeigen sich verblüfft, dass Oswald seinen Schützling nach dem mutmaßlichen Industriespionagefall erneut in einem Bereich einsetzt, der, so das Gutachten, »im Hinblick auf potenzielle Urheberrechtsverletzungen als äußerst sensibel einzustufen war«. Dass Oswald »den (...) strengen Sorgfaltsanforderungen bei der Auswahl von Ziemen für die Position bei TomorrowNow ausreichend Rechnung getragen hat, ist (...) fraglich«, heißt es. Eleganter kann man es nicht formulieren.
Ziemen bleibt laut seinem Linkedin-Profil noch bis Ende 2018 bei SAP, inzwischen arbeitet er beim Beratungsunternehmen Porsche Consulting. Trotz aller Verfehlungen bleibt er beiSAP unangetastet. Der Grund dafür: Angst. So sehen es jedenfalls die Linklaters-Leute. »Nach Informationen, die wir aus einem Gespräch mit SAP gewonnen haben«, heißt es in dem Gutachten, hat Ziemen (...) viele Mitarbeiter von SAP – einschließlich der Mitglieder des Vorstandes – belastet. Insbesondere hat er seine Tätigkeit betreffend die Zusammenarbeit mit dem BIT und der SIT als dem Vorstand bekannt und von ihm gewünscht dargestellt«. Überdies bestehe die Gefahr, dass sich Ziemen »im Oracle-Rechtsstreit nicht kooperativ verhalten könnte«.
Was da in schönstem Aktendeutsch hingedichtet wird, lässt sich ganz simpel so ausdrücken: Oswald und Ziemen sind für SAP tickende Zeitbomben. Sie wissen zu viel. Oracle-Konzernchef Ellison hätte sich vermutlich nicht mit 357 Millionen Dollar Schadensersatz zufriedengegeben, wenn er das Linklaters-Gutachten gekannt hätte.
SAP hingegen, so scheint es, ist mit sich im Reinen. Der Fall der Universität Mannheim sei 24 Jahre alt und intern umfassend aufbereitet worden, lässt der Konzern auf Anfrage wissen.

III. Friends & Family

SAP ist eine schräge Mischung aus Ewig-Start-up, Mittelständler und Weltkonzern, streckenweise immer noch geführt wie eine x-beliebige Familienklitsche.
Der Konzern, so groß er auch wurde, hat sich nie von seinen Gründervätern Plattner und Hopp lösen können. Abseits jeder offiziellen Struktur und Hierarchie greifen sie intern immer noch nach Belieben durch, das hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt. So nutze Hopp 2011 seine Autorität, um Sohn Daniel eine geschäftliche Blamage zu ersparen. Der Sprössling hatte Millionen in das IT-Unternehmen Crossgate gepumpt, doch die Firma floppte. Dankenswerterweise übernahm SAP – auch dank Papas Intervention beim Vorstand – den Laden, nur um ihn kurz darauf dichtzumachen. Sohnemann, der selbst nie für SAP gearbeitet hat, war fein raus ([Medium] 21/2021).
Plattner hat ein ähnlich byzantinisches Selbstverständnis. Eins seiner Lieblingsprojekte ist die Stiftung, die seinen Namen trägt. Rund um die diesjährige Hauptversammlung kam heraus, dass sich diese Stiftung an einem von SAP und der Beteiligungsgesellschaft Dediq geplanten Joint Venture beteiligen wollte. Eigentlich ein No-Go. Aber der SAP-Truppe kam es offenbar nicht in den Sinn, dass es zu Interessenkonflikten kommen könnte, wenn Plattners Foundation in ein Gemeinschaftsunternehmen jenes Konzerns investiert, der von ihm kontrolliert wird – oder es war allen egal. Erst als sich Investoren lautstark beschwerten, drehten Plattner und SAP bei. Seinen Vertrauten Rouven Westphal, Vorstand der Plattner Foundation und Geschäftsführer von Plattners Family-Office HPC Germany, holte der Altvordere trotzdem in den Aufsichtsrat.
Industriespionage, Verstöße gegen Wettbewerbsregeln, Patronage, Management- und Aufsichtsversagen – dokumentiert mit der Sorgfalt von Topjuristen. Damit derlei geschehen kann, braucht es einen Nährboden. Und die Chuzpe, sich mit allen anzulegen.
Wie im Dezember 2011. Da durchsuchen Beamte der Staatsanwaltschaft Mannheim nach Informationen von [Medium] und [anderem TV-Medium] die Konzernzentrale in Walldorf; Anlass ist ein Ermittlungsverfahren gegen die SAP-Vorstände wegen Urheberrechtsverletzungen. Die Beamten verlangen die Herausgabe von Unterlagen, darunter auch das gefährliche Linklaters-Gutachten. Die Razzia wird diskret behandelt, an die Öffentlichkeit dringt nichts.
SAP will das brisante Schriftstück auf keinen Fall herausrücken. Das Unternehmen verklagt die Staatsanwaltschaft und will erreichen, dass das Gutachten nicht als Beweis verwendet werden darf. Amts- sowie Landgericht Mannheim lehnen ab, die im Raum stehenden Rechtsbrüche seien zu groß. SAP zieht in der Sache sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht – und scheitert 2014: Das höchste deutsche Gericht nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht einmal zur Entscheidung an.
Das Strafverfahren in Mannheim gegen die Vorstände wird Ende 2017 eingestellt. SAP muss allerdings 250.000 Euro an die Staatskasse zahlen. Angesichts der Rechtsbrüche, die im Raum stehen, ist das ein merkwürdig glimpflicher Ausgang, mit dem der Konzern bestens leben kann. Die Staatsanwaltschaft begründet ihre Milde damit, dass sich SAP in der Zwischenzeit mit Oracle geeinigt habe. Dennoch sieht es so aus, als komme der Konzern immer wieder davon.
Wäre da nicht jener Fall Teradata, über dem in San Francisco gerade wieder Richter Spero gerade brütet und der keinesfalls ausgestanden ist.

IV. Der Fall Teradata

Es ist das Jahr 2008, die SAP-Aktie pendelt lustlos um die Marke von 30 Euro herum, die globale Finanzkrise drückt die Nachfrage der Unternehmenskunden nach Produkten aus Walldorf. SAP verhängt einen Einstellungsstopp, muss tausende Arbeitsplätze abbauen.
Die Softwarefimra braucht dringend eine neue Geschäftsidee, um die Investoren wieder für sich zu begeistern. Darum schließt sie noch im selben Jahr ein Joint Venture mit Teradata. Das US-Softwarehaus hat sich als Anbieter von Analyselösungen etabliert. Ein Aufsteiger.
Doch so harmonisch wie erhofft, entwickelt sich die transatlantische Partnerschaft nicht. Zumindest nicht aus der Sicht der Amerikaner. Der Vorwurf ist derselbe, den schon Oracle gegen SAP erhoben hat. SAP – ein Serientäter in Sachen Urheberrechtsverletzung?
Teradata ist davon überzeugt. SAP, so die Anschuldigung, habe illegal geistiges Eigentum abgeschöpft. Was den Vorwurf so spektakulär macht: Mit dem geistigen Diebstahl gleich fünf verschiedener Teradata-Patente soll SAP ausgerechnet jenes Kernprodukt entscheidend vorangetrieben haben, das SAP bis heute so erfolgreich macht und in der Liga der weltgrößten Digitalkonzerne hält: die hauseigene Datenbanktechnologie HANA.
HANA ist eine Entwicklungs- und Integrationsplattform und bis heute die Basis fast aller Softwareprodukte von SAP. Unternehmen brauchen sie, um geschäftskritische Prozesse wie Beschaffung, Controlling und Finanzen steuern können; das Fachwort dafür lautet Enterprise Resource Planning (ERP). Für SAP ist HANA lebenswichtig. Von »Hasso's New Architecture« sprach Ex-Vorstand Vishal Sikka einmal.
So ist es oft bei SAP: Am Ende läuft alles auf die beiden Überväter hinaus.
Offiziell wurde HANA ab 2008 vom Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts und der Stanford University entwickelt – gepimpt sei es mit Teradata-Knowhow, behaupten die Amerikaner. »SAP hätte niemals so schnell HANA entwickeln und vermarkten können, wenn sie nicht Geschäftsgeheimnisse von Teradata gestohlen hätten«, klagte der kleinere Konkurrent 2018. Und dann versuchte Goliath auch noch, David aus einem anderen Markt zu verdrängen – mit dem per Diebstahl gewonnen Wissen und seiner überragenden Marktmacht.
Konkret geht es um den sogenannten EDAW-Markt. Das Akronym steht für Enterprise Data Analytics und Warehousing – Systeme, die Daten aus unterschiedlichen Quellen an einem zentralen Ort zusammenzuführen und für Analysen aufzubereiten, die anderswo nicht zur Verfügung stehen. Lange hatte SAP in diesem Segment praktisch keine Relevanz. Bis man sich bei Teradata und seiner Kundschaft bediente.
Die Deutschen, so der Vorwurf, hätten die Kunden von Teradata aufgefordert, ausschließlich HANA zu nutzen und so versucht, die US-Firma zu verdrängen. Kunden, die ihre Anwendungen erneuern oder erweitern wollten, seien praktisch gezwungen worden, auf HANA zu wechseln, klagen die Amerikaner. Zusätzlich habe SAP begonnen, Teradata den Zugriff auf Kundendaten in SAP-Systemen signifikant zu erschweren.
Eine hausinterner SAP-Prüfer, der die Vorgänge seinerzeit aufgedeckt hat, berichtet noch 2014 in internen E-Mails von geheimen Zellen, in denen SAP-Entwickler daran arbeiten, Teradatas Daten zu stehlen und zu missbrauchen ([Medium] 37/2015).
Fakt ist, dass SAP seine Marktmacht dank HANA enorm ausbauen konnte. Den verlorenen Oracle-Prozess haben die Deutschen abgeschüttelt wie eine lästige Fliege, von den Machenschaften rund um das BIT erfuhr die Öffentlichkeit nichts, auch weil das Gutachten unter Verschluss blieb. Inzwischen ist der Konzern Marktführer bei ERP-Betriebssoftware und hat quasi ein Monopol. Praktisch jedes deutsche Unternehmen wendet HANA an. 2015 ging bereits die vierte Generation S4/HANA an den Start.
Das Erstaunliche: Je erfolgreicher der Riese wird, desto frustrierter scheinen seine Kunden zu sein. Viele klagen über einen Flickenteppich an Programmen, vermissen eine vernünftige Integration. Gerade mal ein Drittel der Kunden vertraut laut einer Umfrage der Anwendergruppe DSAG der Produktstrategie aus Walldorf. Beim Bundeskartellamt liegt schon seit 2018 eine Beschwerde des IT-Anwender-Verbands Voice wegen der Lizenzpolitik von SAP. Der Konzern missbrauche seine starke Stellung im Markt für Businesssoftware mit Knebelverträgen, kritisiert der Verband, der immerhin DAX-Konzerne wie VW, Siemens oder Adidas vertritt.
Das Problem vieler Anwender: Theoretisch könnten sie auch zu alternativen Anbietern wie Oracle oder Microsoft greifen, tatsächlich aber steckten sie fest im SAP-Ökosystem. »Wer alle SAP-Produkte kauft, bekommt bis zu 90 Prozent Rabatt. Wer nur ein einziges von einem anderen Anbieter nimmt, muss plötzlich mehr zahlen«, sagt IT-Berater Shaun Snapp, ein Amerikaner, der auf seiner Brightwork-Website kritisch über den Softwarekonzern berichtet.
Sobald SAP einen Kunden verdächtige Software von Drittanbietern zu nutzen, würden SAPs Vertrieblern »deutliche Hinweise«, klagt Voice. Der Verband spricht von einem »Lock-in-Effekt« – und erhebt damit im Kern die gleichen Vorwürfe der Ausnutzung von Marktmacht wie Teradata.
Bei einer Anhörung zum Teradata-Prozess räumte sogar Übervater Plattner ein, dass SAP kein Interesse daran hat, S/4 HANA für andere Software-Anbieter zu öffnen. »Das machen wir nicht. Aber nicht etwa, weil wir fies wären, sondern weil es für die Nutzer keinen Sinn ergibt.«
Zwar bescherte Speros Gericht SAP vor wenigen Tagen einen Etappensieg, indem es eine Art Zwischenurteil sprach. Demnach dürften sich Teradatas Vorwürfe – Missbrauch von Marktmacht, Diebstahl »technischer« Geschäftsgeheimnisse, kartellrechtswidrige Produktkopplung – vorerst verflüchtigen. Offen bleibt aber, ob SAP mittels Patentklau seinen Kassenschlager HANA entscheidend gepimpt hat. Dafür verlangt Teradata Schadensersatz, und denkbar ist, dass sich bei einem Schuldspruch weitere Kläger anschließen.
Die vielleicht letzte Hoffnung frustrierter SAP-Kunden und der Konkurrenten sitzt nun in San Francisco, trägt Fliege und muss sich demnächst wieder mit der sperrigen Materie und renitenten Topanwälten herumschlagen. Das Urteil von Judge Spero wird für 2023 erwartet.
Womöglich ist dann Zahltag für die Herren aus der badischen Provinz.