Schmutzige Geheimnisse
von Reto U. Schneider
NZZ Folio vom 06.11.2023
Für eine Studie über Müll und die Wirksamkeit bestimmter Recyclingmaßnahmen sortiert Reto U. Schneider den Inhalt von Müllsäcken nach bestimmten Kategorien und gibt parallel eine kurze Kulturgeschichte des Wegwerfens. Müll in der heutigen Dimension sei das Ergebnis der hohen Verfügbarkeit von Waren durch Industrialisierung, eines hohen Bruttoinlandsproduktes, um diese zu kaufen, und der Verbreitung nicht abbaubarer Werkstoffe wie Plastik.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Schmutzige Geheimnisse
Der Sack liegt vor mir wie ein schlafendes Robbenbaby. Als ich ihn ansteche, entweicht aus der Plastikwunde sein letzter Schnauf. Das Messer gehört zur Ausrüstung eines Abfallsortierers wie die Schürze und die Ekeltoleranz. Ich solle klein beginnen, hatte mir Schichtleitern Lea Geibel geraten. Sie ist Geophysikerin mit einem Hang zum Fernwandern und hatte gerade Zeit für diesen Job. Also habe ich mir im Haufen am Rand der Werkhalle den leichtesten 17-Liter-Sack geschnappt. Nach dem Stich führe ich das Messer in Richtung Sackboden, und schon quillen die Innereien aus dem Schlitz: verschimmelte Rüstabfälle, feuchte Zigarettenstummel, ein zu Klumpen verklebtes Granulat. Geibel identifiziert es sofort als Katzenstreu. Sie arbeitet an meiner Seite und schaut mir bei meiner ersten Obduktion auf die Finger.
Die anderen, die mit mir am riesigen Sortiertisch stehen, langen bereits routiniert in halb ausgelöffelte Joghurtbecher und gebrauchte Papiertaschentücher. Sie hatten sich vor ein paar Monaten auf eine ungewöhnliche Stellenausschreibung gemeldet.
Die Luzerner Umweltagentur Umsicht suchte «Abfallsortiererinnen und -sortierer», die einen Monat lang systematisch den Müll fremder Leute durchwühlen und kategorisieren. Bevor sie den Arbeitsvertrag unterschrieben, wurden die Anwärter darauf aufmerksam gemacht, dass Anblick und Geruch des Abfalls abstossend seien. «Man muss trotz allen Widrigkeiten genau arbeiten», hiess es in der Power-Point-Präsentation. Den Appell begleitete ein Bild, das an einer früheren Erhebung gemacht worden war: eine gebrauchte WC-Bürste, die auf einem Müllhaufen liegt, in dem man mit etwas Phantasie ein angebissenes Stück Brot und einen Zehennagel identifizieren konnte. Trotzdem fand Umsicht am Ende 16 Personen, die den Job machen wollten: Studenten im Zwischenjahr, eine Heilpraktikerin in Ausbildung, Freiberufler, ein Paar mit einem Kind, das sich den Job teilt.
Ihre Motivation liegt irgendwo zwischen finanziell und ideell. Nuria, die sonst Schmuck designt, macht es wegen des Geldes: 36 Franken pro Stunde. Würde sie sich noch einmal melden? «Nie im Leben!» Jeroen schon, er findet, es würde jedem guttun, einmal am Sortiertisch zu stehen. Für Antonie war es im wörtlichen Sinn ein Blick über den Tellerrand. Sie kennt viele Leute, die vegan leben. Ein Sack ohne Fleischspuren ist ihr aber noch nicht in die Hände gekommen. «Man merkt, dass man in einer Blase lebt.» Abfallsortieren als Weg zur Selbsterkenntnis. In einem sind sich alle einig: langweilig wird es hier niemandem. Jeder Sack ist ein Unikat, enthält seine eigene Komposition aus Produkten in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Zudem hat die Arbeit Smalltalk-Qualität.
«Was machst du so?»
«Ich schneide Kehrichtsäcke auf und sortiere, was drin ist.»
Die Agentur Umsicht erhielt diesen Auftrag vom Bundesamt für Umwelt, das seit 1984 etwa alle zehn Jahre in die Mülleimer der Nation blickt. Für die jetzige Untersuchung wurden 33 Schweizer Gemeinden ausgewählt, aus denen jeweils 500 Kilogramm Abfall zum Sortieren in die Werkhalle gebracht wird. Das Resultat soll zeigen, wie sich Sackgebühren auswirken, welche Recycling-Massnahmen sich bewähren und ob der Müll in Zürich ein anderer ist als in Estavayer-le-Gibloux. Am Ende werden diese Erkenntnisse herangezogen, um die gigantische Menge Abfall in den Griff zu bekommen, die wir produzieren. «Müll ist unser einziger wachsender Rohstoff», hat der amerikanische Politiker Hollis Dole schon 1969 gesagt.
2021 fielen in der Schweiz pro Einwohner 704 Kilogramm sogenannter Siedlungsabfall an. Das ist Abfall, der aus Haushalten und kleinen Betrieben stammt. Damit liegt unser Land in Europa auf Rang sechs. Der Spitzenplatz geht an Österreich mit 834 Kilogramm, vor Norwegen, Luxemburg, Dänemark und Belgien. In der Schweiz wird allerdings ein beträchtlicher Teil davon rezykliert. Wenn man noch einrechnet, dass in Betrieben weniger wiederverwertet wird als zu Hause – oft gilt im Büro eine andere Norm als in den eigenen vier Wänden –, bleiben pro Person etwa 200 Kilogramm Kehricht, der seine letzte Ruhe in einem Abfallsack findet, wie er nun vor mir liegt.
Nachdem ich ihn aufgeschnitten habe, folgt mit einer Verzögerung von einem Atemzug diese schwer zu beschreibende Geruchsmischung: kalter Aschenbecher mit der süsslichen Note von verfaultem Gemüse und dem Stechen von Katzenurin. Es kostet Kraft, den Fluchtreflex aus dem Stammhirn zu unterdrücken. Wer sich schon immer eine Arbeit gewünscht hat, die alle Sinne anspricht, ist hier richtig. In bestimmten Regionen der Sacks spüre ich eine angenehme Wärme: Sie stammt von Fäulnisprozessen, die Energie freisetzen. Gebrauchte Windeln erweisen sich später als besonders angenehm, um die klammen Finger zu wärmen.
Am eindrücklichsten ist aber der Geruch vor allem heute, denn heute ist Montag. Normalerweise werden die Säcke am Vortag während der regulären Kehrichtabfuhr eingesammelt und angeliefert, doch da es am Wochenende keine Abfuhr gibt, stammt der Montagsmüll in der Werkhalle vom Freitag. Er hatte zwei Tage Zeit «durchzureifen», wie es Lea Geibel nennt. Der Geruch der sich dabei entwickelt, wird zum ständigen Begleiter. Obwohl man Mühe hat, ihn in Worte zu fassen, entfaltet er seine Wirkung auch dann noch, wenn er gar nicht mehr vorhanden ist. Antonie erzählt, sie habe der Fichtenaufguss in der Sauna daran erinnert. Mich wird der Duft von Blumenkohl beim Abendessen an den Ort des Verwesens zurücktransportieren: in diese unbeheizte Halle des Recycling-Centers Perlen in der Nähe von Luzern, wo die «Erhebung der Kehrichtzusammensetzung 2022» im November stattfindet.
Mein rauchender Katzenbesitzer konnte nicht ahnen, dass sein Sack den Umweg durch die Werkhalle machen würde. Niemand rechnet damit, dass sein Abfall auf einem Arbeitstisch ausgebreitet und sortiert wird. Deshalb verpflichtet sich jeder Abfallsortierer, «über sämtliche ihm im Rahmen der Sortierarbeit zur Kenntnis gelangten Angelegenheiten absolutes Stillschweigen zu bewahren». Auch in diesem Text darf niemand aufgrund seines Abfalls erkennbar sein. Aus gutem Grund: Noch mehr als dem besten Freund vertraut man seinem Abfallsack seine grössten Geheimnisse an.
Überdies steht im Arbeitsvertrag: «Persönliche Gegenstände im Kehricht dürfen nicht vom Sortierplatz entfernt werden.» Bei der vorletzten Abfallerhebung vor zwanzig Jahren gab es diesen Passus noch nicht. Der Co-Leiter der Agentur Umsicht, Markus Christen, erinnert sich, dass damals ein Ehering auftauchte, der zweifellos versehentlich in einem Sack gelandet war – das nahmen die Sortierer jedenfalls an und machten den Besitzer ausfindig. Doch die gute Tat, den Ring zurückzuschicken, wurde nicht gewürdigt: Der Mann hatte ihn bewusst weggeworfen.
So erzählt jeder Sack eine neue Geschichte, und das Aufschneiden ist ein bisschen wie Geschenke auszupacken: Man hofft auf spektakuläre Beute oder zumindest auf ein paar Hinweise auf ein Leben ausserhalb der Norm. Die besten Funde landen im temporären Museum auf den Fensterbänken der Lagerhalle: ein Traumfänger und ein Wahrsagependel, eine verwaschene Regenbogenfahne und ungeöffnete Reizwäsche «Obsessive», ein Boxhandschuh und zwei Vibratoren.
Man kann nicht anders, als sich die Menschen auszumalen, die dahinterstecken. In meinem zweiten Sack finde ich als Erstes eine Binde, dann eine Mandarinenschale, ein schimmliges «Biojoghurt des Monats» und eine leere Packung geschälte Baumnüsse. Ich fühle mich der Frau sofort verbunden, denn es sind dieselben Baumnüsse, die ich auch häufig kaufe. Bestimmt streut sie wie ich die Nüsse am Morgen über das Joghurt. Gemeinsamkeiten im Abfall schaffen Vertrautheit.
Es ist ordentlicher Abfall. Lea Geibel nennt es «Bünzlimüll»: «Der ist so gut sortiert wie bei anderen Leuten die Vorratskammer.» Bünzlimüll ist hier beliebt, denn er sortiert sich wie von selbst, es sei denn, er kommt aus einem Haushalt, der extrem platzsparend packt. «Wer Papiertaschentücher in eine Eierschale stopft, hat echt einen Platz in der Hölle verdient», findet Geibel.
In der Hoffnung, mehr über ihre Verursacher herauszufinden, wählt Esther manchmal bewusst grössere Säcke und schneidet sogar den Staubsaugerbeutel auf, um die Charakterstudie zu vervollständigen. Aber die traurigsten Geschichten erzählen oft auch kleine Säcke: einer mit dem nie abgeschickten Liebesbrief an einen ahnungslosen Sizilianer, ein anderer voller Bierdosen, Weinflaschen, Zigarettenstummel und Windeln.
Mir wurde empfohlen, meinen Sack schichtweise von oben nach unten abzuarbeiten wie ein Archäologe. So bleibt die Stapelung von zur gleichen Zeit weggeworfenem Müll erhalten. In 32 Fraktionen, wie die Kategorien genannt werden, soll ich die Fundstücke sortieren. In meinem Sack tauchen jetzt Pouletknochen und Chipsverpackungen auf, die ihren ersten Auftritt an entgegengesetzten Positionen der Weltgeschichte des Abfalls haben – Tausende von Jahren voneinander entfernt.
Knochen bestehen vor allem aus Calcium und gehören zu den ersten Abfällen überhaupt, die unsere Vorfahren hinterlassen haben. Ich stecke sie in den Eimer 14: «Rüstabfälle, nicht essbar» wo auch Käserinden, Eierschalen und Teebeutel hingehören. Die dreischichtige Chipsverpackung besteht hingegen aus biaxial orientiertem Polypropylen, Polyäthylen und einem thermoplastischen Harz. Sie ist eine Art Raumanzug für frittierte Kartoffelscheiben und wird der Fraktion 25 zugerechnet, den «Verbundverpackungen». Weil Verbundverpackungen verschiedene Materialien untrennbar miteinander verschmelzen, gehört die Chipstüte zu den natürlichen Feinden der Wiederverwertung. Ihr Gewichtsanteil im Haushaltkehricht ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen, vor zehn Jahren machte er etwa 6 Prozent aus.
Hätte die Erhebung zur Römerzeit stattgefunden und wäre der Abfall von Augusta Raurica hergekarrt worden, hätten wir hier bloss wenige Eimer gebraucht: je einen für zerbrochene Amphoren, Schlachtabfälle, Rüstabfälle, Asche und Exkremente. Von der Keramik abgesehen nichts, was sich nicht in Kompost verwandelte oder eine andere Verwendung fand. Trotzdem mussten die Menschen einen Umgang mit ihrer Hinterlassenschaft finden. «Der Abfallhaufen stellte eine beträchtliche zivilisatorische Leistung der Menschheit dar, die langsam lernte, mit ihren Überresten umzugehen», schreibt der Historiker Roman Köster in seinem eben erschienenen Buch «Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit». In Rom gibt es tatsächlich einen 50 Meter hohen überwachsenen Hügel, den Monte Testaccio, der aus Amphorenscherben besteht. Die grösste Müllhalde der Ewigen Stadt.
Lange Zeit änderte sich wenig an der Zusammensetzung des Mülls. Der grösste Teil machte eine schlammige Masse organischen Materials vor und nach der Verdauung aus. Entsorgt wurde traditionellerweise in einer Senkgrube oder im Stadtfluss. Die Bewohner von Winterthur etwa warfen ihren Abfall jeden Samstagmorgen in den Dorfbach, wo er am Nachmittag fortgespült wurde, nachdem man die Schleusen des Weihers geöffnet hatte.
Erst die Industrialisierung brachte in der langweiligen Geschichte des Mülls eine Wende. Einerseits zogen nun viele Menschen in Städte, wo auf kleiner Fläche viel Kehricht anfiel, andererseits häuften die Stadtbewohner auch mehr Besitz an, der in den neuen Fabriken nun effizient und damit billig hergestellt wurde.
Nichts veränderte dabei die Zusammensetzung des Haushaltmülls stärker als das Aufkommen der Kanalisation. Dass die menschlichen Exkremente im 19. Jahrhundert zunehmend durch unterirdische Rohre direkt in Flüsse geleitet wurden, sorgte für die Trennung von Fäkalien und festen Abfällen. Damit wurde der Haushaltmüll zwar weniger, verlor aber auch seinen Wert als Dünger. Er bekam damit jene entscheidende Eigenschaft, die ihn bis heute charakterisiert: er wurde nutzlos. Abfall ist jener Rest der Reste, der keine Funktion mehr hat. Diese Definition trifft sogar auf den vor zwanzig Jahren gefundenen Ehering zu.
Mit der zunehmenden Zahl von Hunden und Katzen in der Schweiz – und der Einführung der Hundekotbeutel und der Katzenkiste – sind die Exkremente, die man mit der Wassertoilette vor hundertfünfzig Jahren losgeworden ist, in den Haushaltabfall zurückgekehrt. Die mineralische Katzenstreu, die ich schon in meinem ersten Sack fand, hat das Bundesamt für Umwelt in der aktuellen Erhebung sogar mit einer eigenen Kategorie geadelt: Fraktion 10. Ein Grund für die Sonderbehandlung ist, dass Katzenstreu aus hygienischen Gründen in eine Kehrichtverbrennungsanlage geschickt werden muss, obwohl er gar nicht brennt und deshalb am Ende in der Schlacke zurückbleibt. Nach Schätzungen macht er dort sage und schreibe zehn Prozent des Gewichts aus. Die neue Erhebung soll zeigen, wie gross der Anteil genau ist. Die Archäologen der Zukunft werden darüber rätseln, wo die vielen Tonmineralien in unserem Abfall herkamen.
Die Fraktion 10 gibt uns Abfallsortierern besondere Probleme auf: Oft wird Katzenstreu nämlich in Hundekotbeuteln entsorgt. Hundekot gehört aber mit Haaren, Holz und Kork in die Fraktion 12: «organische Naturprodukte». Als ich in meinem nächsten Sack einen verknoteten Hundekotbeutel finde, ergibt erst eine sanfte Massage, dass es sich beim Inhalt um Katzenexkremente und Katzenstreu handelt mit der typischen Struktur von verklebtem Kies.
Als der feuchte Teil der Abfälle Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Kanalisation wanderte, wurde der Abfall trockener und leichter. Er bestand damals noch zu mehr als der Hälfte aus einem Stoff, den wir heute kaum noch in den Säcken finden: Asche. Doch auch sie verschwand aus dem Müll, als Öl und Gas Holz und Kohle als Heizmaterial ersetzten. Ausser einem ausgeleerten Aschenbecher oder einem Säcklein Cheminéeasche finden wir nichts mehr. Der Niedergang der Asche verlief parallel zum sagenhaften Aufstieg jener Kategorie, für die hier sieben Container herumstehen: Verpackungen.
Konservendosen, Bierbüchsen, Glasflaschen, Kartonkisten, PET-Flaschen, Plastiktuben, Eierschachteln, Tetrapacks: Mit dem Siegeszug der Selbstbedienung im Supermarkt nach dem Zweiten Weltkrieg schlug die Stunde der Verpackungen. Das hatte auch mit den neu entdeckten Kunststoffen zu tun, die sich vorzüglich eigneten, um Nahrungsmittel frisch zu halten oder andere Produkte beim Transport zu schützen. Zudem waren sie im Gegensatz zu Glas sehr leicht. Allerdings haben Verpackungen auch eine verstörende Eigenschaft: Sie landen sofort im Müll. Das hatte man bisher nicht gekannt. Man warf Verdorbenes und Kaputtes weg. Aber dass praktisch jedes Produkt unmittelbar nach dem Kauf Müll in Form seiner Verpackung gebar, war neu.
Sosehr Kunststoffverpackungen unser Leben vereinfachten, unseren Abfall machten sie komplizierter. Die meisten Säcke, die wir sortieren, sind Wundertüten der Kunststoffchemie. Auf dem Tisch vor mir liegen gerade Polyäthylenterephthalat, Polypropylen, Polystyrol und expandiertes Polystyrol, also eine PET-Flasche, eine Pastaverpackung, ein Joghurtbecher und ein Styroporblock. Gemeinsam sind den Kunststoffen nicht nur die komplizierten Namen, sondern auch, dass sie nicht vergehen wollen und sich auf einer Müllkippe oft erst nach Jahrzehnten zersetzen. Im Abfall haben sie eigentlich nur einen Vorteil: Die Zunahme an Verpackungen führte dazu, dass sich unser Müll nun endlich problemlos verbrennen liess. Zuvor war der Anteil an brennbarem Material oft zu klein.
Verbrennen und Deponieren sind bis heute die gängigen Verfahren, um mit Restmüll umzugehen. Beide erfuhren Wellen der Popularität und Ablehnung. In Städten und dichtbesiedelten Ländern wie der Schweiz setzte sich die Verbrennung durch. Sie ist zwar teurer als die Müllkippe, aber sie reduziert das Abfallvolumen, verkürzt die Wege bei der Entsorgung und erzeugt gleichzeitig Energie. Eine optimierte Verbrennung und Filter reduzieren zudem die Schadstoffbelastung.
Ein Problem kann allerdings auch die Verbrennung nicht lösen: die enorme Energieverschwendung, die unserem Abfall zugrunde liegt. Am meisten Energie – immer noch in Form von Erdöl oder Erdgas – wird bei der Herstellung von Produkten verbraucht. Die effizienteste Art, wenig Abfall zu produzieren und damit Energie zu sparen, besteht deshalb darin, möglichst wenig zu kaufen, und was man kauft, möglichst lange zu benutzen. Ein Blick in die Abfallsäcke zeigt, dass wir genau das Gegenteil tun.
Das Sortieren der verschiedenen Kunststoffe ist nichts für Entscheidungsschwächlinge. Als ich auf die erste Kaffeekapsel stosse, gibt mir Lea Geibel einen Crash-Kurs. Die Gattung Kaffeekapsel tritt hier in drei Arten auf: Sie kann ganz aus Kunststoff bestehen (Fraktion 23: «Kunststoffe, übrige»), ganz aus Aluminium (Fraktion 4: «übrige Nichteisenmetalle») oder aus einer Kunststoffkapsel mit Aludeckel (Fraktion 27: «Verbundwaren, übrige»). Anhand des Abfalls lässt sich die Ausbreitung des Kapselkaffees in der Schweiz verfolgen, sagt Markus Christen von Umsicht: Vor zwanzig Jahren fanden sich die Kapseln vor allem im Stadtmüll. «Da gab es noch Gemeinden, die nespressofrei waren», sagt Markus Christen, heute sind sie überall – das Leitfossil der Kapselkaffee-Epoche.
Die Zahl der Fraktionen in den Abfallerhebungen des Bundesamts für Umwelt hat sich seit 2002 verdoppelt. Vor zwanzig Jahren waren es 16 Fraktionen, 2012 waren es 23, und heute sind es 32. Die feinere Aufteilung erlaubt es, das Verhalten vor der Mülltonne besser zu verstehen und Massnahmen zur Abfallvermeidung zu überprüfen.
Am Sortiertisch führen die verästelten Kategorien immer wieder zu bizarren Diskussionen. Einer fragt, ob ein angefangener Joint in die gleiche Kategorie gehöre wie ein Zigarettenstummel (Fraktion 32), ein anderer will wissen, ob Rechaudkerzen in der Alu zum «Kunststoffe, übrige» (Fraktion 23) oder zu «übrige Nichteisenmetalle» (Fraktion 4) zählen. Nicht immer ist die Einteilung widerspruchsfrei. Gebrauchte Kondome werden etwa unter «Kunststoffe, übrige» einsortiert. «Wir könnten sie natürlich auch unter ‹Kunststoffe-Verpackungen› einteilen», sagt Clemens Baschong, der zweite Schichtleiter, «aber im Vergleich zum Rest fallen sie ohnehin nicht ins Gewicht.» Genaugenommen kämen gebrauchte Kondome ja in die Fraktion 12: «organische Naturprodukte». Schliesslich wiegt das durchschnittliche Ejakulat drei bis vier Mal mehr als das Kondom selbst.
Clemens Baschong ist Umwelttechnologe und hat noch als Student eine Arbeit zum Thema «Entsorgung und Verwertung von Windeln unter besonderer Berücksichtigung von Kompostierung und Vergärung» verfasst. Er freut sich, dass das Bundesamt wie für die Katzenstreu auch für Windeln eine eigene Fraktion geschaffen hat. Mit grob geschätzten 70 Kilogramm pro Person und Jahr machen sie zehn Prozent des Haushaltabfalls aus.
Eine besonders feine Aufsplitterung erfuhr die Kategorie Food-Waste. Bei der letzten Erhebung 2012 wurden für nicht konsumierte Nahrungsmittel bloss zwei Kategorien geführt, heute sind es fünf: «Fleisch und Fisch», «Milchprodukte, Eier, Margarine», «Früchte und Gemüse, ungekocht», «Getränkeflüssigkeiten» und «übriger Food-Waste». Der Grund dafür ist die Tatsache, dass in der Schweiz zwischen Feld und Teller ein Drittel aller Lebensmittel verlorengehen. Pro Einwohner vom Säugling bis zum Greis sind das jedes Jahr 330 Kilogramm Gemüse, Fleisch, Milch usw., etwa ein Drittel davon in Haushalten. Das sind jeden Tag für jede Person 250 Gramm Essen und Getränke, die in einem Kehrichtsack landen.
Das Kategorisieren dieser Abfälle gehört ekeltechnisch zu den anspruchsvolleren Tätigkeiten eines Abfallsortierers. Denn Fleisch und Fisch beginnen nach ein paar Tagen im Sack bestialisch zu stinken. René bekam es einmal mit einem in die Tage gekommenen gehäuteten Hasen zu tun. Nach dem unangenehmsten Moment befragt, tauchen in den Berichten meiner Kolleginnen und Kollegen am Sortiertisch fast immer Maden auf, die in einem weggeworfenen Kalbsfilet oder einem angebissenen Cervelat eine neue Heimat gefunden haben. Nicolas zündet in solchen Momenten eines der Räucherstäbchen aus einem früheren Sack an.
Obwohl das Thema Food-Waste von den Medien aufgenommen wurde und es Kampagnen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln gab, bleibt es schwierig, das Verhalten der Leute zu ändern. Das Zusammenspiel von industrieller Lebensmittelproduktion, Frischhalteverpackungen, Kühlschrank und Auto macht es möglich, grosse Mengen an Nahrung auf einmal einzukaufen und zu lagern. Und dieser Vorgang wird zu «einer ständigen Quelle falscher Bedarfsschätzungen und damit steigender Müllmengen», wie Müllhistoriker Roman Köster schreibt. Wie viel Geld sie dabei verschwenden, scheint den meisten Leuten nicht bewusst zu sein: Nach Schätzungen des Vereins Food-Waste sind es durchschnittlich 620 Franken pro Person im Jahr. Diese Zahl erstaunt hier niemanden. Wir könnten jeden Abend einen Laden öffnen mit unangetasteten Früchten, vakuumverpacktem Aufschnitt und halben Broten.
Dass sich die Kehrichtmenge mit Geldanreizen durchaus eindämmen lässt, zeigt die Sackgebühr. Bei der letzten Abfallerhebung von 2012 war die verursachergerechte Finanzierung der Entsorgung in der Schweiz noch nicht flächendeckend eingeführt worden. Ein Vergleich von Gemeinden belegte: Die Sackgebühr führte pro Jahr und Einwohner zu gut 80 Kilogramm weniger Kehricht: In Gemeinden mit Sackgebühr wurden pro Einwohner 170 Kilogramm entsorgt, in Gemeinden ohne Sackgebühr 252 Kilogramm. Wer die Entsorgung seines Mülls direkt bezahlen muss, rezykliert einen grösseren Anteil seines Abfalls.
Das wichtigste Ziel – Abfall von Anfang an zu unterbinden – ist aber schwierig zu erreichen. Die Möglichkeiten der Müllverhinderung bleiben im gegenwärtigen Wirtschaftssystem beschränkt. Die Abfallmenge eines Landes wächst nicht in erster Linie mit seiner Wohnbevölkerung, sondern mit seinem Bruttoinlandprodukt. Anders gesagt: Ein reiches Land ist auch reich an Abfall. Nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989 dauerte es nur Monate, bis die Menschen im Osten pro Kopf ähnlich viel Abfall erzeugten wie die im Westen.
«Kapitalistische Gesellschaften sind virtuos darin, immer mehr Güter zu immer geringeren Kosten zu produzieren», schreibt Köster, «demgegenüber steht eine viel geringere Kompetenz, die daraus resultierenden Überreste des Konsums zu sammeln, zu entsorgen, in den Produktionsprozess zurückzuführen.» Da hilft auch die Rückbesinnung auf vormoderne Gesellschaften wenig, die vermeintlich in Einklang mit der Natur gelebt haben. Ihre nachhaltige Lebensweise war nicht das Resultat einer edlen Haltung, sondern einfach die Folge davon, dass alles knapp war. «Würden die Azteken heute leben, würden sie genauso viel wegwerfen wie wir», schreibt Köster. Müll ist der Preis, den wir für den Wohlstand bezahlen. Und dieser Preis wird einem nirgends deutlicher vor Augen geführt als am Sortiertisch in der Werkhalle in Perlen.
Als wir gegen Abend die letzten Säcke sortieren und uns ans Wägen der Container machen, landet das Gespräch bei der Fraktion 18: «Getränkeflüssigkeiten». Alle vollen Dosen, Flaschen und Tetrapack, die wir am Nachmittag fanden, kippten wir in den entsprechenden Container. Nun diskutieren wir darüber, wer für wie viel Geld einen Schluck der Mixtur aus Red Bull, abgelaufenem Bier und geflockter Milch nehmen würde. Für Nuria müssten es mindestens 50000 Franken sein, Jeroen wäre schon bei 4000 Franken dabei – auch eine Form von Recycling.