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Am Ende des Regenbogens

von Fritz Schaap und Bartholomäus Grill
Der Spiegel vom 02.09.2023

Reportage über den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Niedergang Südafrikas seit dem Ende der Apartheit. Die von kriminellen Kartellen unterwanderte ehemalige Partei des Befreiungskampfes ANC bereichere sich auf Kosten der Allgemeinheit, das Land stehe kurz vor dem Scheitern. Besonderer Fokus auf Infrastruktur und Wirtschaft.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Am Ende des Regenbogens

Die Wut kommt zurück, jedes Mal wenn die Abgeordnete Siviwe Gwarube zur Arbeit läuft. Wenn ihr Blick die neoklassizistischen weißen Säulen hinaufwandert und an den korinthischen Kapitellen hängen bleibt. Noch immer fassungslos schaut Gwarube auf die prächtige Fassade des südafrikanischen Parlaments im Herzen Kapstadts. Ein Gebäude, das die britische Kolonialherrschaft bezeugt, dann die düstere Ära der Apartheid, schließlich die Zeit der großen Hoffnung, als 1994 erstmals demokratisch gewählte Abgeordnete aus allen Volksgruppen in das hohe Haus einzogen.
Für Gwarube ist es heute ein Sinnbild des Scheiterns ihres Staates.
Durch zerborstene Fenster blickt die Fraktionschefin der Democratic Alliance (DA), der größten Oppositionspartei, hinauf in den Himmel über dem Kap der Guten Hoffnung. Kein Dach versperrt die Sicht. Noch immer riecht man den Ruß, den ein zwei Tage lang wütendes Feuer im Januar 2022 zurückließ. Sandsäcke liegen vor dem Portal, Putz platzt von Mauern. Die südafrikanische Nationalflagge hängt schlaff von einem Mast.
Einen kamelbraunen Mantel über das Kleid geworfen, läuft die 34-Jährige an diesem kalten Julimorgen zu ihrem Büro im unversehrten Verwaltungstrakt. Stille liegt über dem Parlament. Nur das Klackern der Absätze ihrer Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster hallt zwischen den Mauern wider. »Nach mehr als anderthalb Jahren«, sagt sie kopfschüttelnd, »haben sie noch nicht einmal den Schutt weggeräumt.«
Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid und dem euphorisch gefeierten Beginn der Demokratie, nach Nelson Mandelas Vision einer Regenbogennation, in der Menschen aller Hautfarben in Frieden und Wohlstand zusammenleben sollten, steht Gwarube vor den Trümmern dieses Traums: »Das Land kollabiert in monumentalem Ausmaß.«
Südafrika, die höchstentwickelte Volkswirtschaft des Kontinents, die im 20. Jahrhundert den Vergleich mit europäischen Staaten nicht scheuen musste, steht nach jahrzehntelanger Misswirtschaft und politischer Stümperei am Rande des Abgrunds. Die Ursache für den Niedergang sei nicht schwer zu finden, sagt Gwarube: »Alle Probleme des Landes lassen sich auf ein einziges zurückführen: schlechte Regierungsführung.«
Sie sitzt jetzt in ihrem holzgetäfelten Arbeitszimmer, hinter ihr hängt ein Porträt von Mandela, in einem Regal sind die in Leder gebundenen Protokolle vergangener Parlamentsdebatten aufgereiht. Die meisten Abgeordneten des allein regierenden African National Congress (ANC), der Partei der Befreier, würden sich um die Menschen, die sie gewählt haben, nicht kümmern, sagt sie. Viele verstünden die Funktionsweise eines Parlaments nicht, ja wüssten nicht einmal, was Gewaltenteilung bedeute. »Es geht um Gier und Selbstbereicherung«, sagt sie.
Das Versagen der herrschenden Elite hat Südafrika in eine schwere politische, wirtschaftliche und soziale Krise gestürzt: Sechs von zehn jungen Südafrikanern haben keine Arbeit, mehr als die Hälfte der 60 Millionen Einwohner leben laut Weltbank unter der Armutsgrenze. Die Mordrate zählt zu den höchsten der Welt, was rund 25.000 Opfer pro Jahr bedeutet. Seit dem Ende der Apartheid starben mehr als eine halbe Million Menschen einen gewaltsamen Tod.
Für das Wirtschaftsjahr 2021/22 stellte der nationale Rechnungsprüfer fest, dass 219 der insgesamt 257 Verwaltungsbezirke finanziell angeschlagen sind. In zahllosen Städten und Gemeinden zerfällt die Infrastruktur. Administration, Bildungswesen, Gesundheitssystem, Kanalisation, Müllabfuhr – nichts funktioniert. Vielerorts steht der Zugverkehr still. In manchen Regionen fließt tagelang kein Wasser mehr.
Eine unabhängige Untersuchungskommission legte gerade offen, wie politische Amtsträger staatliche Unternehmen und Institutionen systematisch ausraubten und in den Bankrott trieben, von der Fluggesellschaft SAA über die Rundfunkanstalt SABC bis zum nationalen Postdienst. Bislang wurde kein hochrangiger Politiker rechtskräftig verurteilt. Präsident Cyril Ramaphosa wagt es trotz wiederholter Beteuerungen nicht, durchzugreifen, denn dann würden ihn die Kleptokraten der eigenen Partei vermutlich stürzen.
Besonders verheerende Schäden richteten Diebstahl, Sabotage, Inkompetenz und Schlamperei bei der Transportgesellschaft Transnet und beim landesweiten Energieversorger Eskom an: Der Strom fällt an manchen Tagen bis zu zwölf Stunden aus, nachts versinken Großstädte in Finsternis. Die südafrikanische Reserve Bank schätzt die volkswirtschaftlichen Verluste, die dadurch entstehen, auf umgerechnet knapp 45 Millionen Euro pro Tag.
Ein beliebter Witz unter Südafrikanern fragt nach dem Unterschied zwischen der »Titanic« und Südafrika. Die »Titanic«, so die Antwort, sei bei ihrem Untergang wenigstens hell erleuchtet gewesen.
Eskom wurde zum einträglichsten Selbstbedienungsladen der Regierung, nach Angaben des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden sind auch Minister im Kartell der Plünderer beteiligt; der Manager wollte Eskom retten – doch er wurde zum Rücktritt gezwungen und überlebte nur knapp einen Giftanschlag. Gwarube sagt, ihre Partei habe unlängst einen parlamentarischen Ausschuss beantragt, um die Vorgänge bei Eskom zu untersuchen. »Die ANC-Abgeordneten haben dagegen gestimmt.«
Seit der Brandkatastrophe erledige das Repräsentantenhaus gerade einmal 20 Prozent seiner Aufgaben, schätzt die DA-Fraktionschefin. Aber ein funktionierendes Parlament sei ohnehin nicht im Interesse des ANC, fügt sie bitter hinzu. »Denn dann wäre es kein Schonraum für Politiker mehr, die die Öffentlichkeit bestehlen.«
Zusammen mit sechs anderen Parteien hat Gwarubes DA deswegen im August den »Moonshot Pact« geschlossen. Das Bündnis will bei den Wahlen im kommenden Jahr erreichen, dass der ANC zum ersten Mal seit dem Ende der Apartheid die absolute Mehrheit verliert. Noch eine weitere Legislaturperiode unter seiner Herrschaft, befürchten viele Südafrikaner, könnte den Absturz unumkehrbar machen.
Im Februar hat die Financial Action Task Force (FATF), die wichtigste internationale Institution zur Bekämpfung von illegalen Geldströmen, Südafrika auf die »graue Liste« gesetzt, es befindet sich nun in der feinen Gesellschaft von gescheiterten Staaten wie Südsudan oder Haiti.
Wie konnte es so weit kommen? Die Suche nach einer Antwort führt in die Wirtschaftsmetropolen und politischen Schaltzentralen des Landes. An verwahrloste Bahntrassen, zu gleichgültigen Behörden, in heruntergekommene Stadtviertel. Und zu Menschen, die trotz aller Widrigkeiten nach Auswegen aus der Krise suchen.

Die Politik

In Saint James, einem Vorort Kapstadts, führen von der Gasse mit dem Namen Jakobsleiter 64 Stufen hinauf zu einem viktorianischen Haus. Oben wartet ein Mann mit silbergrauem Bart am Gartentor. Horst Kleinschmidt hat ein umfängliches Privatarchiv der jüngeren Geschichte der Kaprepublik angelegt, und er kann wie wenige andere die Fehlentwicklungen des ANC erklären.
Der Südafrikaner mit deutsch-namibischen Wurzeln hat Tausende Dokumente über den Kampf gegen die Apartheid gesammelt, der, angeführt vom bewaffneten Flügel des ANC, in den frühen Sechzigerjahren begann. Kleinschmidt schloss sich damals als Student der Widerstandsbewegung an; er wurde verfolgt und eingesperrt, ehe er ins Exil nach London floh, wo er den Rechtshilfefonds für inhaftierte Aktivisten verwaltete.
1994 kapitulierte das weiße Unrechtsregime, Kleinschmidt kehrte in seine Heimat zurück und war ab 2000 als Generaldirektor im Umweltministerium für das Fischereiwesen zuständig. Er wollte die Fangquoten gerecht verteilen – und stieß schon bald auf den massiven Widerstand krimineller Kartelle, in denen auch ANC-Funktionäre mitmischten. »Plötzlich redeten sie mich nicht mehr als Genosse Horst an, sondern als Mister Kleinschmidt.« Sein Name stand ganz oben auf einer Todesliste, einmal wurde er sogar als Geisel genommen. 2005 quittierte er aus Protest den Dienst.
Kleinschmidt, 78, fragt sich oft, wie ehrenwerte Mitstreiter zu lausigen Politikern mutieren konnten. Über seinem Schreibtisch hängt ein Foto, das ihn 1990 mit Nelson Mandela und dessen Frau Winnie zeigt, mit den Ikonen des Befreiungskampfes, ein Bild aus den Jahren des Aufbruchs. »Die Dinge sind fürchterlich schiefgelaufen, wir erleben inzwischen jeden Tag, wie die herrschende Elite lügt, stiehlt und betrügt.«
Doch der moralische Verfall, sagt Kleinschmidt, habe viel früher begonnen. Schon in der Zeit des Widerstands seien manche Akteure nicht so selbstlos gewesen, wie sie sich später darstellten. Hilfsgelder seien veruntreut worden, es habe Intrigen gegeben, als Spione verdächtigte Mitstreiter seien liquidiert, kriminelle Akte als Heldentaten verklärt worden.
Selbst Nelson Mandela war nicht zimperlich, wenn es um persönliche Vorteile ging. »1990 rief er mich in London an und verlangte für den Strafprozess gegen seine Frau 60.000 Dollar aus unserem Hilfsfonds.« Winnie Madikizela-Mandela war wegen Entführung angeklagt worden und stand unter Mordverdacht. »Ich lehnte ab, denn wir unterstützten ausschließlich Opfer des Apartheidregimes.«
In der Amtszeit Mandelas begannen sich ANC-Granden nach dem Motto »Jetzt ist unsere Zeit, zu essen« hemmungslos zu bereichern. »Sie hatten dabei keine Skrupel, sie sahen es als Belohnung für den Befreiungskampf an«, sagt Kleinschmidt. In der Amtszeit von Präsident Jacob Zuma, 2009 bis 2018, griff die neue Machtelite besonders hemmungslos zu, damals wurde der Begriff »State Capture« geprägt, die systematische Unterwanderung und Beraubung des Staates.
Kleinschmidts Urteil nach 30 Jahren ANC-Herrschaft: »Die Partei ist bis ins Mark verfault und nicht mehr reformierbar. Wir müssen wieder von vorn anfangen, andernfalls wird unser Land im Sumpf versinken.« Dennoch genieße der ANC bei der schwarzen Bevölkerungsmehrheit nach wie vor einen »Befreiungsbonus«. Es gebe zwar überall Proteste – allein im vergangenen Jahr registrierte der Datenservice Municipal IQ 193 –, aber keinen Volksaufstand, sagt Kleinschmidt. »Die meisten Leute kennen einfach keine andere politische Instanz – und würden niemals weiße Oppositionspolitiker wählen.«
In den sozialen Medien wird der ANC-Machtapparat mittlerweile als Kakistokratie geschmäht, als Herrschaft der Schlechtesten. Dieses Schlechte sickerte von der Spitze des Staates hinab auf die untersten Verwaltungsebenen und ergriff schließlich die ganze Nation. »Wenn bestimmte Dinge nicht gelöst werden, werden wir zu einem gescheiterten Staat«, räumte kürzlich sogar ANC-Generalsekretär Fikile Mbalula ein, und gab zu, dass das Land mit einem hohen Grad an Korruption zu kämpfen habe. Auf wiederholte Anfragen [des Medium] reagierte er, wie auch andere ANC-Kader, nicht.

Die Infrastruktur

Letta weiß, dass er der Gemeinschaft schadet, er weiß auch, dass die Menschen wütend sind auf Männer wie ihn, dass er seinen Teil dazu beiträgt, wenn sie in teuren Minibussen zur Arbeit fahren müssen. »Doch was soll ich machen?« Er ist 45 Jahre alt und haust in einem Squatter Camp, einer Elendssiedlung aus Holzhütten und Blechverschlägen, wie man sie überall im Land findet. Den letzten Job hatte er 2008, als Bauhelfer. Mittlerweile plündert Letta mit seinem Kompagnon Bahnstationen. Oder das, was noch davon übrig ist.
In zerrissenen Hosen und Wollmütze steht er auf einem der zwei Bahnsteige der Jeppe Station, einem S-Bahnhof im Zentrum Johannesburgs. Vor wenigen Jahren erst war das Gebäude renoviert und in dezentem Grau und Blau gestrichen worden. Jetzt ist es eine Ruine. Es riecht nach Urin, lange Gräben ziehen sich die Bahnsteige entlang. »Die Plünderer zertrümmern mit Spitzhacken den Beton, um die unterirdischen Kabel herauszureißen«, sagt Letta. Er selbst sammele nur die Reste ein, behauptet er.
Rund die Hälfte aller Schienenkilometer südlich der Sahara liegen in Südafrika. Doch Züge fahren nur noch unregelmäßig oder gar nicht mehr.
Im Wirtschaftsjahr 2021/22 wurden außerdem rund 1500 Kilometer Kupferkabel gestohlen, beklagt das zuständige Staatsunternehmen Transnet. »Infrastructure theft«, der Diebstahl von öffentlichem Eigentum, ist eine lukrative Einnahmequelle für das organisierte Verbrechen. Aber es geht nicht nur um die Hochspannungsleitungen der Bahn: In den Townships buddeln Banden Löcher zu Stromkabeln und reißen sie mit Pick-up-Trucks aus der Erde. Der Johannesburger Energieversorger registrierte im vergangenen Jahr weit über 2000 solcher oder ähnlicher Vorfälle. Selbst in Krankenhäusern werden Kupferkabel geplündert und womöglich ins Ausland verkauft.
Südafrika exportiert mittlerweile mehr Kupfer, als es fördert.
Hinter der Ummauerung der Gleise in Jeppestown steigt die imposante Skyline von Johannesburg in den Himmel. Eine Metropole, gebaut auf Gold, in der Bergbaumagnaten früher in Palästen residierten. Jetzt gleicht die Innenstadt vielerorts einem Slum. Prunkvolle Art-déco-Fassaden zerbröseln, in verlassenen Firmenzentralen und Hochhäusern hausen Obdachlose, die über offenen Feuern kochen. Erst in dieser Woche brannte eines dieser illegal besetzten Häuser nieder, über 70 Menschen starben.
Nachts liegen weite Teile der Stadt im Dunkeln, weil der Strom flächendeckend ausfällt und die Straßenlampen an den Hauptverkehrsadern ausgeschlachtet wurden. Vor dem Hauptbahnhof stehen Hunderte Züge. Bewegungslos. Rostend. Der Schienennahverkehr ist zusammengebrochen.
Die Angst vor Gewalt und Kriminalität ist zu einem Grundgefühl der Bewohner geworden. Wer es sich leisten kann, ist in die wohlhabenden Vororte gezogen und verschanzt sich hinter hohen Mauern und Elektrozäunen.
Letta steigt über einen Ampelmast, der oben auf der Straße abgesägt, entkernt und dann hinunter auf die Trasse geworfen wurde. Er läuft die Schienen entlang und sucht nach Metall, das er für ein paar Rand beim Alteisenhändler verkaufen kann. Hier ist nicht mehr viel zu holen. Fenster, Türen, Wasserhähne, Fliesen, Dachplatten, Hinweistafeln, Signalmasten, Weichen, Hochleitungen, Isolatoren, Fahrstühle, alles wurde ausgeweidet.
»Durch Corona«, sagt Letta, »ist es noch schlimmer geworden. Die Menschen hatten kein Geld und mussten plündern.« Er steht neben einem Strauch, der aus dem aufgeplatzten Teer des Bahnsteigs wächst. »Die Polizei«, sagt er, »kümmert das nicht. Sie beschützt nichts.« Dann steigt er wieder auf die Gleise, wo er eine verbeulte Leitplanke entdeckt hat.
»9910. Das war die Nummer des Zuges, mit dem ich jeden Tag zur Arbeit pendelte. Der letzte fuhr vor sechs Jahren«, schimpft ein älterer schwarzer Mann, der gerade am Eingang der Station vorbeigeht. Und fügt sarkastisch hinzu: »Früher, als die Weißen regierten, hatten wir noch Arbeit, und das Leben war besser.«
Man glaubt, nicht recht zu hören: Ein etwa 60-jähriger Schwarzer, der sein halbes Leben unterdrückt und ausgebeutet wurde, trauert der Apartheid nach?

Die Wirtschaft

»Straßen und Schienen«, sagt Martina Biene, »sind unser größtes Problem.« Die 48-Jährige geht durch eine der Montagehallen, in denen rund 3500 Angestellte für VW die Kleinwagen Polo und Polo Vivo bauen. Biene ist die Chefin des größten Werks des niedersächsischen Autoherstellers in Afrika. Weit mehr als vier Millionen Fahrzeuge sind hier in Uitenhage in den vergangenen sieben Jahrzehnten vom Band gelaufen. Der Standort befindet in der Nähe der Hafenstadt Port Elizabeth. Die Region wurde zum Zentrum der südafrikanischen Autoindustrie. Neben Volkswagen, dem mit Abstand größten Arbeitgeber, haben sich Isuzu, ein Motorenwerk von Ford und 47 Zuliefererbetriebe niedergelassen.
Auch BMW, Mercedes, Toyota und Nissan fertigen in Südafrika, die Automobilbranche ist nach dem Bergbausektor das zweitwichtigste wirtschaftliche Standbein des Landes. Doch es läuft nicht mehr so, wie es laufen sollte. Allein durch die Stromausfälle habe man im laufenden Jahr bereits acht Produktionstage verloren, rund 4000 Autos konnten nicht gefertigt werden, erzählt Biene. Das Schienennetz für den Güterverkehr sei in einem so schlechten Zustand, dass es für die Firmen schwierig werde, ihre Produkte auf den lokalen Markt zu transportieren, bei VW gehe es um 40.000 bis 50.000 Autos pro Jahr.
Der Gesamtschaden, der südafrikanischen Unternehmen durch Transportprobleme entsteht, belief sich 2022 auf umgerechnet rund 23 Milliarden Euro, schätzt eine Studie der Universität Stellenbosch.
Neulich sei die Chefin des Schienenbetreibers Transnet zu Besuch gewesen, sagt Biene, während neben ihr glänzende Neuwagen durch einen Tunnel aus Neonröhren gleiten, in dem Lackschäden geprüft werden. Die Kollegin habe berichtet, dass es immer schwieriger werde, die Bahnstrecken vor Vandalismus und Diebstahl zu schützen. Und dass von den 23 Dieselloks, die in China gekauft wurden, 17 nicht funktionsfähig seien, weil es an Ersatzteilen fehle.
Die Wirtschaft ist unterdessen gezwungen, Aufgaben des Staates zu übernehmen, wenn sie weiter funktionieren will. In Johannesburg kümmern sich Versicherungskonzerne um die Reparatur von Schlaglöchern und beschäftigen eigene Feuerwehreinheiten, auch um Schadensauszahlungen geringer zu halten. In der Region Port Elizabeth »adoptierten« Firmen beschädigte Straßen, Wasserrohre, Umspannwerke, Ampeln und insgesamt 76 Schulen. Industriebetriebe unterstützen die Verbrechensbekämpfung. Und leisten Nothilfe, wenn das Wasser nicht mehr fließt.
»Wir bündeln das Know-how internationaler Konzerne, um die Probleme der Stadt zu lösen«, sagt die Leiterin der örtlichen Handelskammer. »Am Ende des Tages ginge es uns wohl besser, wenn Politiker gar nicht involviert wären.«
Doch die Eigeninitiativen werden immer wieder ausgebremst. Zehn Bürgermeister, Martina Biene zählt sie an den Fingern ab, hat es seit 2018 in Port Elizabeth gegeben.
Der Stellvertreter des letzten Stadtoberhaupts in dieser unrühmlichen Reihe eilt am nächsten Tag ins Rathaus. Mkuhseli Jack, den alle Khusta rufen, will nur kurz seinem Nachfolger guten Tag sagen. Er musste schon nach acht Amtsmonaten abtreten, die fragile Koalition, der seine kleine Partei angehörte, war zerbrochen. »Sie haben mich rausgeworfen, weil wir ihre korrupten Netzwerke zerschlagen wollten.«
Die Industrieregion ist dank der Autoproduktion vergleichsweise wohlhabend, an der Küste wird gerade eine neue Sonderwirtschaftszone mit einem Tiefwasserterminal gebaut. Khusta steht wenig später neben dem Leuchtturm am höchsten Punkt der Stadt. Unter ihm liegt der alte Hafen, wo Tausende Fahrzeuge auf die Ausfuhr warten. »Mit unserem ökonomischen Potenzial sollten wir eigentlich gut abschneiden«, sagt er. Dennoch ist das alte Stadtzentrum in einem traurigen Zustand: verwahrloste Gebäude, leere Büros, Müllberge, offene Gullys, Schlaglöcher, Drogenabhängige in den Straßen.
Der öffentliche Haushalt sei von kriminellen Syndikaten aus Lokalpolitikern, Verwaltungsbeamten, Firmen und Scheinunternehmen systematisch geplündert worden. Kommunale Serviceleistungen kollabierten.
Das größte Entwicklungshemmnis aber sei, dass der Staat von verbrecherischen Elementen gekidnappt werde. Hinzu komme, dass der ANC politische Posten ausschließlich an Parteikader vergebe, »an total inkompetente Leute, die sich einfach nur bereichern wollen«.
Eine unlängst im Bundesland KwaZulu-Natal durchgeführte Eignungsprüfung bekräftigt Khustas Einschätzung: 298 von 1944 Stadt- und Gemeinderäten der benachbarten Region sind Analphabeten, 15 Prozent der kommunalen Volksvertreter können weder lesen noch schreiben. Solche Statistiken befeuern die Untergangsängste pessimistischer Weißer, die schon vor der Wende prophezeiten, dass »die Schwarzen« schlicht nicht regieren könnten.
Am Kap wiederholt sich offenbar der Fluch vieler postkolonialer Staaten Afrikas, die nach der Unabhängigkeit von Politikern ohne Fachkenntnisse und durchdachte Entwicklungspläne in den Abgrund gewirtschaftet wurden. Als abschreckendes Beispiel wird oft das einst blühende Nachbarland Simbabwe genannt, das der Diktator Robert Mugabe und seine Einheitspartei in ein Armenhaus verwandelt haben.
Khusta, ein erfolgreicher Unternehmer, ist 2008 aus dem ANC ausgetreten, vor zwei Jahren hat er eine eigene Partei gegründet. Der 65-Jährige bleibt optimistisch. »Die Südafrikaner können Dauerkrisen bewältigen.« Überdies seien die Rahmenbedingungen nach wie vor viel solider als anderswo auf dem Kontinent: »Unsere Zivilgesellschaft ist engagiert, wir haben kreative junge Bürger, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse und starke Unternehmen, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind.«

Das Verbrechen

In der globalen Mordstatistik hat Südafrika bereits einen Spitzenplatz eingenommen. Allein im Bundesland Westkap wurden im Fiskaljahr 2021/22 fast 4000 Menschen umgebracht.
William Stevens wirkt ruhig, als er um 19 Uhr vor den backsteinernen Polizeistation in Manenberg steht. Doch jeden Abend, wenn der 53-jährige Captain zur Nachtschicht aufbricht, verabschiedet er sich von seiner Familie, als wäre es das letzte Mal. »Hier kann alles passieren«, sagt er.
Manenberg ist eines der brutalsten Townships von Kapstadt: 52.000 Menschen leben auf drei Quadratkilometern Trostlosigkeit. Eine jener Siedlungen der Schwarzen und sogenannten Coloureds, die von bewaffneten Banden terrorisiert werden; Kriminalexperten schätzen die Zahl ihrer Mitglieder in Kapstadt auf weit über 100.000. Stevens sagt, er habe in elf Einsatzjahren gelernt, mit den Gewaltexzessen umzugehen, »aber man gewöhnt sich nie daran.«
Der Captain sammelt seine Einheit vor dem Beginn der zwölfstündigen Nachtschicht, 32 Polizisten und Polizistinnen salutieren wie Soldaten, die gleich ins Gefecht ziehen. Gestern hat es in Manenberg 18 Schusswechsel gegeben.
»Lasst uns die Waffen finden«, befiehlt Stevens. Zehn Polizeiwagen rollen langsam durch das Viertel, sie sind auf dem Weg zur Trauerfeier für einen getöteten Gangster. Vermüllte Straßen liegen im Dunkeln, Stromausfall. Nebel verschleiert die wenigen funktionierenden Peitschenlampen. Acht Banden, erklärt Stevens, kämpften um die Vorherrschaft in Manenberg, sie lieferten sich Verteilungsschlachten um Waffen, Rauschgift, Prostitution, Schutzgeldzahlungen und andere Finanzquellen. Die Einsatzfahrzeuge rollen an der Trauerfeier vorbei, alles ruhig.
»Shots fired«, ruft plötzlich eine Polizistin, die auf ihrem Handy die Kommunikation verfolgt. Der Wagen rast durch die Dunkelheit, Glas knirscht unter den Reifen, Trillerpfeifen warnen vor der herannahenden Patrouille. Der Schütze entkommt den Beamten, sie nehmen nur einen Heroindealer fest. »Die Gangster warten darauf zu schießen, wenn wir wieder weg sind«, sagt Captain Stevens.
Es ist 21 Uhr. Ein paar Gestalten, zugedröhnt mit billigen Drogen, torkeln wie Zombies durch die Straßen. Die dystopische Szenerie spiegelt die Lage in zahlreichen Townships, in denen der Staat nicht mehr existiert. Selbst Krankenwagen werden überfallen und ausgeraubt, die Polizei ist oft machtlos.
Dass die Anarchie jemals aufhören wird, glaubt Stevens nicht. Die Gangs, sagt er, seien schon seit Jahrzehnten hier. »Und sie werden noch Jahrzehnte hier sein.«

Die Zukunft

Axolile Notywala wartet am Portal der Saint George’s Cathedral gleich hinter dem brandgeschädigten Parlament. Er hat diesen historischen Ort bewusst als Treffpunkt gewählt: Vor der neugotischen Kirche sammelte sich im September 1989 ein Protestzug mit 30.000 Teilnehmern, bei dem erstmals Menschen aller Hautfarben mitmarschierten, um gegen die Apartheid zu demonstrieren. »Heute sind wir wieder in der gleichen Situation wie unsere unterdrückten Eltern, nur dass wir nicht gegen ein weißes Unrechtsregime kämpfen, sondern gegen eine schwarze Regierung.«
Notywala ist ein sogenannter Born-free, seine Generation hat die Apartheid nicht mehr erlebt. Der 34-Jährige studiert Politikwissenschaften an einer Fernuniversität, aber die meiste Zeit ist er damit beschäftigt, eine neue Bewegung gegen die ANC-Machthaber aufzubauen. Seine Organisation heißt »Rise Mzansi«, übersetzt: »Erhebe dich, Südafrika«. Es ist eines von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bündnissen, die nach 30 Jahren Misswirtschaft radikale Reformen anstreben.
»Wir leben in der ungleichsten Gesellschaft der Welt, die Gräben werden immer tiefer«, sagt Notywala. »Sie ist noch ungleicher geworden, seit der ANC regiert. Befreier? Dass ich nicht lache!« Der Aktivist ist wütend auf die korrupten Erben von Nelson Mandela, und von dem hält er auch nicht mehr viel. »Er wird romantisiert und wie ein Heiliger verehrt, aber die jungen Südafrikaner glauben nicht mehr an ihn.«
Mandela habe keine wirkliche Wende herbeigeführt, denn die Machtverhältnisse seien nicht angetastet worden. »Er wollte versöhnen, aber die soziale Gerechtigkeit hat er vergessen. Am Ende kamen die reichen Weißen ungeschoren davon, und die Mehrheit der Schwarzen blieb arm.«
Auf dem T-Shirt, das Notywala unter einer olivgrünen Bomberjacke trägt, prangt in großen Lettern das Motto seiner Bewegung: »2024 is our 1994«. Das Jahr des Machtwechsels und das kommende Jahr, in dem die nächste Parlamentswahl stattfindet. Notywala hofft, dass der ANC nach drei verlorenen Jahrzehnten endlich die absolute Mehrheit verliert. Die Worte des Aktivisten hallen wider im Gemäuer des Kirchenschiffs. »Es ist vielleicht unsere letzte Chance, die Strukturen der Apartheid zu überwinden.«