Wenn andere eine Grube graben
von Claus Hecking, Simon Book, Michael Brächer, Christoph Giesen, Simon Hage, Martin Hesse, Stefan Schultz und Gerald Traufetter
Der Spiegel vom 27.05.2023
China hat sich durch rücksichtslose Ausbeutung (Batou) und Preisdumping eine Monopolstellung am Rohstoffmarkt erarbeitet, von der die weltweite Industrie abhängig ist. Angesichts einer sich verschärfenden geopolitischen Lage stellt der Artikel Ansätze vor, dieses Monopol aufzubrechen: AMG raffiniert in Bitterfeld, die USA bauen eine nationale Wertschöpfungskette auf, Deutschland will Leuchtpulver recyceln und nachhaltige Kooperationsprojekte fördern. Der deutschen Industrie werden ein massives Steuerungsversagen und kurzsichtige Preisorientierung attestiert.
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Wenn andere eine Grube graben
Europas Zukunft riecht nach verbranntem Metall. Funken sprühen, Arbeiter mit Schutzbrillen flexen sich hoch konzentriert durch Metallröhren. Hier im Industriegebiet von Bitterfeld-Wolfen, wo einst die Agfa den ersten funktionsfähigen Farbfilm der Geschichte entwickelte, soll schon bald ein neues deutsches Industriewunder entstehen: Europas erste Raffinerie für Lithium.
Der Mann, der das möglich machen will, heißt Heinz C. Schimmelbusch, 78. »Schibu«, wie sie ihn in der Rohstoffszene liebevoll nennen, ist ein alter Bekannter: ehemaliger Direktor der legendären deutschen Metallgesellschaft, gebürtiger Wiener, strahlend blaue Augen, akkurat gezogener Scheitel, das Ego überlebensgroß, der Ruf ebenso.
Der promovierte Manager, dessen Karriere vor 30 Jahren eigentlich beendet schien, will sich mit dem ambitionierten Rohstoffprojekt ein letztes Denkmal bauen. Und tatsächlich avanciert er damit gerade zum wohl größten Hoffnungsträger der hiesigen Wirtschaft.
Mit seiner Advanced Metallurgical Group, kurz AMG, will Schibu noch in diesem Jahr die ersten Tonnen Lithiumhydroxid herstellen. Jenen Stoff, aus dem grüne Träume sind: Das Metallsalz ist unentbehrlich für Batterien, Solaranlagen, Elektromobilität, es steckt in Windrädern, Sonnenspeichern und Autos. Die Vereinten Nationen bezeichnen es als »Pfeiler der fossilfreien Wirtschaft«. Allein die Batterie eines SUV wie dem iX von BMW enthält etwa zehn Kilogramm Lithium.
Bald schon will Schimmelbusch im sachsen-anhaltischen Bitterfeld 20.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr raffinieren. Genug für eine halbe Million E-Autos. Binnen weniger Jahre sollen es 100.000 Tonnen werden. Der Rohstoff dafür könnte demnächst aus Schimmelbuschs eigener Mine in Brasilien kommen, irgendwann vielleicht sogar aus deutschen Gruben. Dafür investiert der Manager gerade Hunderte Millionen Euro. »Wir müssen jetzt handeln, sonst läuft uns die Zeit weg«, sagt er.
Die sichere Versorgung mit den Rohstoffen der Zukunft ist das Thema der Stunde, ob auf der Hannover Messe oder im EU-Parlament, in Konzernzentralen und Lobbygesprächen in Berlin: Ohne Metalle, Erze und Mineralien ist eine sauberere Zukunft undenkbar, sind Energiewende, Mobilitätswende oder Zeitenwende nicht zu schaffen. Millionen Jobs, die Bekämpfung des Klimawandels und die geostrategische Unabhängigkeit des Landes hängen an der Verfügbarkeit von Lithium, Kobalt, Nickel oder Grafit, von seltenen Erden wie Neodym oder Praseodym.
Der »Wettlauf um die Rohstoffe ist auch ein Wettlauf um unseren zukünftigen Wohlstand«, sagt Peter Buchholz, Leiter der bundeseigenen Deutschen Rohstoffagentur Dera.
Wäre das Ganze das Pferderennen in Ascot, hätte China beste Quoten. Kein Land kontrolliert mehr eigene Vorkommen, kein Land ist weltweit aktiver, erfolgreicher, ja, auch ruchloser bei deren Ausbeutung. Peking könnte seine Marktmacht »in Bezug auf Batterien und Solarzellen nutzen«, warnte jüngst das Geheimdienst-Informationszentrum der EU. Das Europäische Kompetenzzentrum für die Abwehr hybrider Bedrohungen stellt fest, dass Peking immer stärker »wirtschaftliche Nötigung« als geopolitisches Machtinstrument einsetze.
Er erlebe »einen Wettbewerb der Systeme«, sagt Regierungsberater Buchholz. Die deutschen Unternehmen müssten endlich Geld in die Hand nehmen, um ihre Rohstoffversorgung zu sichern. Statt wie bisher bloß auf dem Weltmarkt einzukaufen, müssten sie selbst in die Förderung und Veredelung einsteigen, sich an Minen beteiligen. »Die guten Projekte werden gerade verteilt«, so Buchholz. Und überall lauere schon die Konkurrenz aus China. Wenn sich die Deutschen nicht beeilten, so Buchholz, bleibe von den guten Lagerstätten nicht mehr viel übrig.
Ausgeerzt hat es sich dann, so sagen Bergleute dazu.
Dass für die Aufholjagd ausgerechnet der beinahe 80-jährige, selbst ernannte »Frühstücksdirektor« Schimmelbusch noch einmal ranmuss, sagt viel über das Versagen der heimischen Industrie aus. Viele Jahre galten kritische Rohstoffe der Wirtschaft als langweiliges Thema, nichts, um das man sich bei Siemens, BMW, Daimler, Thyssen und BASF groß sorgte. Die Welt, sagt ein Chemiemanager, »war frei, die Märkte offen, die Preise billig«.
Warum also Kapital binden in eigenen Rohstofflagern, warum ins Risiko gehen und selbst Ressourcen abbauen, warum auf eigene Rechnung die Umwelt verschmutzen und Ärger mit Anwohnern provozieren? Ja, warum all der Stress, wenn man die Ware doch just in time überall auf der Welt einkaufen kann – zu großen Teilen aus China?
»Für uns hatte das einen großen Vorteil«, so der Chemiemanager: »Wir hatten die ganzen Umweltsauereien nicht und bekamen gleichzeitig gute Produkte zu vernünftigen Kosten.«
An dieser Einstellung änderte auch das Auf und Ab der Preise wenig. Zumal es für die Deutschen lief, von ein paar Knappheiten, wohl auch aus Peking gewollte, mal abgesehen.
Doch die stockenden Lieferketten während der Pandemie, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die neuerliche chinesische Aggression gegenüber Taiwan haben die alte Gewissheit zerstört, dass die Rohstoffe schon irgendwo herkommen. Zu unersetzlich ist China als Versorger geworden, zu mächtig.
Die EU-Kommission gibt inzwischen offen zu, beim Rohstoffbezug »hochgradig abhängig« von China zu sein. Daraus resultiere eine »erhebliche Anfälligkeit«. Je nach Rohstoff werden maximal 7 Prozent des Bedarfs durch heimischen Abbau gedeckt. Anders gesagt: Im besten Fall müssen 93 Prozent der begehrten Metalle eingeführt werden, im schlechtesten alles.
Die Sorgen sind so groß, dass die G7-Staaten das Thema bei ihrem jüngsten Gipfeltreffen in Japan zur Chefsache erklärten. Auf die Gründung eines Rohstoffklubs, wie ihn die EU-Kommission zuletzt vorgeschlagen hatte, konnten sich die Staats- und Regierungschefs zwar nicht einigen. Doch ein Fünfpunkteplan soll nun helfen, neue Quellen für kritische Metalle und Mineralien zu erschließen.
Allein bei Lithium für Batterien steigt die Nachfrage laut EU-Kommission bis 2050 auf das 90-Fache der heutigen Menge, bei Kobalt auf das 15-Fache. Europas Bedarf an seltenen Erden wie Neodym wird bis Ende des Jahrzehnts fünf- oder sechsmal höher sein als zu Beginn, sagt Brüssel voraus. Zwar wird Neodym nicht hauptsächlich in China gefördert. Aber die Volksrepublik verarbeitet weltweit am meisten – und ist deshalb Hauptlieferant für die EU.
»Wir wollen das ändern«, verkündete Kanzler Olaf Scholz unlängst bei der Eröffnung der Hannover Messe. Nur wie?
ZZ: China – Vorherrschaft um jeden Preis und überall
Das Ziel der Reise klingt wie aus einem TUI-Katalog: Bayan Obo, mongolisch für »reicher heiliger Berg«. Doch die weltweit größte Abbaustätte für seltene Erden hat mit göttlich-unberührter Natur so gar nichts zu tun. Seit 1958 werden hier, am äußersten Rande Chinas, kurz vor der mongolischen Grenze, seltene Erden gefördert. Mindestens ein Drittel der Weltreserven lagern auf dem Gelände der Mine, einer der ganz wenigen weltweit, in der alle 17 der begehrten Metalle im Gestein ruhen. 70 bis 80 Prozent der chinesischen Fördermenge stammen von hier – und damit mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion.
Auf gut ausgebauten Straßen geht es erst durch Hügel und vorbei an Weiden, auf denen Schafe und Rinder grasen. Doch je näher die Mine rückt, desto karger wird es. Bergbaubetriebe haben die Gegend umgegraben, alle Bäume gefällt, überall Kräne und Bagger – und die Wagen der Staatssicherheit. Erst drei, dann vier, später fünf dunkle Volkswagen-Limousinen mit getönten Scheiben folgen dem Taxi.
Genau zehn Kilometer vor der Mine dann eine Straßensperre. Ein Mannschaftswagen der Polizei parkt quer zur Fahrbahn. Ein Beamter in Uniform bläst energisch in eine Trillerpfeife, ruft so laut, dass man es durch die geschlossenen Fenster hören kann: »Umdrehen!«
Es gibt noch eine zweite Anfahrt zur Mine. Mehrere Stunden Umweg durch die Einöde. Kurz vor Sonnenuntergang die nächste Straßensperre. Diesmal ist auch ein Wagen der Spezialeinsatzkräfte dabei. Und wieder werden alle Autos zurückgeschickt.
Dass China aus seinem berühmten Exportgut ein solches Staatsgeheimnis macht, hat viele Gründe. Das Rohstoffbusiness ist ein dreckiges Geschäft. Mit Dynamit oder schweren Maschinen wird aus der Erde oder dem Stein geholt, was dort seit Jahrmillionen lagert. Es muss gesprengt, gegraben und gewaschen werden. Unglaubliche Mengen Energie und Wasser sind dafür nötig, zum Teil wird Radioaktivität freigesetzt.
In Industrienationen herrschen für solche Anlagen strenge Umweltauflagen, die den Betrieb zuweilen unwirtschaftlich machen. In China dagegen ist die Preisführerschaft auf dem Weltmarkt Staatsräson, die Umwelt nicht einmal zweitrangig.
In Baotou, 150 Kilometer südlich der Mine gelegen, wird das gewonnene Gestein verarbeitet. Die Rückstände der Raffinerie werden in den örtlichen See eingeleitet. Die Behörden haben eine kilometerlange Mauer um die Kloake errichten lassen, gut zwei Meter hoch und aus Beton. Niemand soll zum Wasser laufen, niemand am Ufer spazieren und niemand die Füße ins Wasser stecken. Das wäre wohl lebensgefährlich.
Baotou ist so etwas wie die Welthauptstadt der Rohstoffe. Und der See eine Müllkippe für 40, vielleicht auch 50 Betriebe, die in der Umgebung ihre Produktionshallen errichtet haben, um die Erden weiterzuverarbeiten. Hunderte Fabrikschlote ragen in den Himmel, in den Hallen werden unter Einsatz hochgiftiger Chemikalien die 17 begehrten seltenen Erden voneinander getrennt. Vom See aus sickert die toxische Brühe ins Grundwasser und wohl auch in den nahe gelegenen Gelben Fluss – Chinas Mutterstrom, in dessen Einzugsgebiet mehr als 100 Millionen Menschen leben.
Die Krebsrate in den Ortschaften direkt am See ist hoch. Fast jede Familie hier, erzählen Anwohner, habe mindestens ein Mitglied an die Krankheit verloren. Das Leitungswasser, das in einem Restaurant gleich neben dem See aus dem Hahn kommt, schimmert. Mit dem bloßen Auge kann man Rückstände von Metall erkennen. Früher, sagen die Leute vor Ort, hätten sie das Wasser abgekocht und dann getrunken. Die Alten machten das zum Teil noch immer, die Jungen hätten verstanden, dass das die Metallbelastung nicht mindert. Die Fabriken haben Fluoridabwässer in den See gepumpt. Das lässt die Knochen spröde werden und die Zähne abnormal wachsen.
Von den 51 Rohstoffen, die die EU inzwischen als strategisch wichtig oder kritisch für Europas Versorgung einstuft, werden 24 hauptsächlich im Land von Allzeitpräsident Xi Jinping gewonnen. Bei 33 der 51 Rohstoffe ist die Volksrepublik zugleich Hauptverarbeiter. Für schwere seltene Erden gibt es außerhalb Chinas bisher gar keine einzige Aufbereitungsanlage.
Deng Xiaoping war es, der Chinas Aufstieg zum globalen Rohstoffmonopolisten begründete. »Der Nahe Osten hat sein Öl, China hat seltene Erden«, sagte der marktwirtschaftliche Reformer 1992. Mit dem Unterschied, dass das Opec-Kartell zwar gern an der Förderschraube dreht, um den Ölpreis hochzuhalten, China aber mit den seltenen Erden einen ungleich größeren Hebel in der Hand hat, um weltweit politischen Einfluss auszuüben.
Als Pekings Führung vor 13 Jahren die Exportquote von seltenen Erden über Nacht um 72 Prozent reduzierte, löste das ein Beben an den Rohstoffmärkten aus. Über Jahre hatte die Volksrepublik mit aggressivem Preisdumping die Wettbewerber kaputt gemacht, Minen in den USA, in Australien und Afrika zur Aufgabe gezwungen, weil sie mit Pekings Kampfpreisen nicht mithalten konnten. Nun lautete die Ansage, im zweiten Halbjahr statt der 28.000 Tonnen nur die Hälfte auszuführen. Offiziell auch aus Umweltschutzgründen.
In Deutschland verfasste daraufhin die schwarz-gelbe Bundesregierung erstmals eine Rohstoffstrategie – die nie wirklich umgesetzt wurde. Auch weil Peking den Export wieder weitgehend liberalisierte. Die Lehre hätte schon damals lauten müssen: China nutzt Rohstoffe im Zweifel, um seine Interessen durchzusetzen.
Der chinesische Anspruch, die Weltmärkte zu dominieren, beschränkt sich längst nicht mehr auf das eigene Staatsgebiet. Im afrikanischen Simbabwe nahm vor wenigen Wochen eine chinesische Anlage zur Lithiumkonzentration mit angeschlossener Mine den Betrieb auf. Auch in Namibia, Mali und der Demokratischen Republik Kongo sind chinesische Firmen an derlei Projekten beteiligt.
In Australien ist der chinesische Konzern Tianqi Lithium beim weltgrößten Hersteller von Lithium-Mineralkonzentraten eingestiegen. Und die zweitgrößte Lithiumerz-Förderstätte der Welt, im Westen Australiens gelegen, hält ein Joint Venture im Griff, das der chinesische Konzern Ganfeng Lithium zur Hälfte kontrolliert.
Fast schon hyperaktiv sind die Chinesen in Südamerikas Lithiumdreieck: Argentinien – Bolivien – Chile. Dort gibt es den meisten Stoff zu holen. In den Salzseen der Andenregion und unter dem Boden dieser drei Staaten lagern fast 50 Prozent der weltweit wirtschaftlich förderbaren Reserven – und mehr als die Hälfte der bisher entdeckten Vorkommen dieses Schlüsselmetalls.
Einer der Wenigen, die es dort mit Peking aufzunehmen versuchen, ist der deutsche Rohstoffopa Schimmelbusch. Mitten in der grünen Hügellandschaft des brasilianischen Bundesstaats Minas Gerais, zwischen Kaffeeplantagen und Rinderweiden, erstreckt sich seine 180 Meter tiefe riesige Grube. Bulldozer und Bagger wühlen das Erdreich um; Gabelstapler beladen in einer Halle riesige Lastwagen mit Plastiksäcken. Sie enthalten Spodumen, ein zu weißem Pulver zermahlenes Mineral – und einer der Grundstoffe, aus denen später Lithium gewonnen wird.
Den Einstieg ins Lithiumgeschäft, das heute für einen Großteil des Vorsteuergewinns von gut 300 Millionen Euro sorgt, verdankt Schimmelbusch eher einem Zufall. Als er mit dem Hubschrauber vor Jahren seine Tantal-Mine in Brasilien überflog, habe er hinuntergeblickt, »und da war alles weiß«, erinnert sich Schimmelbusch. Die Kumpel hatten das weiße Spodumenerz auf Halden geschüttet. Es war Abraum, für den sie keine Verwendung hatten. Irgendwann habe er »oben auf der Halde den Beschluss gefasst, in Lithium zu gehen«.
Es brauchte ausgerechnet einen Chinesen, um daraus ein profitables Geschäft zu machen: »Doktor Li«, wie Schimmelbusch ihn nennt. Li Nanping ist Chef von General Lithium, einer von Chinas Weltmarktriesen. Dieser habe ihm die kaum bearbeiteten Lithiumerz-Brocken sofort abgenommen, sagt Schimmelbusch, »und damit das Risiko«.
Seit 2018 werden in der AMG-Mine jährlich 90.0000 Tonnen Spodumen abgebaut, vom Sommer an sollen es 130.000 Tonnen werden. Etwa 20 Kilometer quälen sich die Lastwagen über staubige Schotterpisten und durch Schlaglöcher bis zu einer Bundesstraße. Gut 500 Kilometer sind es bis zu einem Industriehafen im Bundesstaat Rio de Janeiro. Dort werden die Säcke auf Schiffe verladen und nach Shanghai gebracht.
In China wird das Spodumen zu einer Lithiumverbindung verarbeitet. Das ist der billigste Weg. Doch Schimmelbuschs Kunden wie Mercedes-Benz sind zunehmend bereit, für ihre Versorgungssicherheit etwas mehr zu bezahlen. Sobald Schimmelbuschs Anlage in Bitterfeld fertig ist, soll die brasilianische Förderung zur Verarbeitung komplett nach Deutschland verschifft werden – und China außen vor bleiben.
ZZ: USA – Alle(s) gegen Peking
Noch hat Joe Biden gute Laune: »Ich bin froh, dass Sie den Termin heute nicht gecancelt haben«, ruft Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom in die Kamera. »Wollen Sie mich veralbern?«, fragt Biden zurück. »Wir haben doch kaum was zu tun – bis auf Russland und die Ukraine.« Es ist der 22. Februar 2022, zwei Tage vor Moskaus Überfall auf Kiew. Der US-Präsident empfängt im Weißen Haus Politiker und Industrievertreter zu einem virtuellen runden Tisch, um über kritische Rohstoffe zu sprechen.
Das Thema steht ganz oben auf der Agenda in Washington. Um eine wirklich starke Wirtschaft zu formen, müsse die Zukunft in Amerika gemacht werden, sagt Biden. Er wolle für viele Produkte die gesamte Lieferkette zurück ins eigene Land holen – inklusive der Rohstoffe. Handys, Küchengeräte oder E-Autos »funktionieren ohne sie nicht«.
Deshalb, so Biden, gelte es, die heimische Industrie mit massiven Mitteln aus der Staatskasse zu unterstützen. Ein erstes Beispiel hat der Präsident gleich mitgebracht: Der Konzern MP Materials soll 35 Millionen Dollar erhalten, um damit die erste und einzige Raffinerie für schwere seltene Erden in Amerika zu bauen. Das, so Biden, sei »nicht gegen China. Das ist für Amerika«.
Auf der Grenze von Kalifornien und Nevada erstreckt sich eine spröde Landschaft aus rotem Gestein, der Mojave-Nationalpark. Darin liegt die Mountain-Pass-Mine. Ein-, zweimal die Woche ist in Mountain Pass »blast day«. Dann sprengen sie im Krater das rote Gestein auf, transportieren es mit riesigen gelben Radladern, die locker Wohnzimmergröße erreichen, zum Brecher: Aus großen Felsen werden kleinere, aus Brocken Kies, aus Kieseln schließlich pulverartiger Schluff. Gebohrt, gesprengt und abgefahren wird, solange es Tageslicht gibt. Zerkleinert und gemahlen wird rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche.
Seit mehr als 70 Jahren werden in Mountain Pass seltene Erden abgebaut. Doch so viel Betrieb wie dieser Tage war nie, sagt Matt Sloustcher, Cheflobbyist von MP Materials. Bis in die Neunzigerjahre sei die Mine der weltgrößte Versorger für seltene Erden gewesen. Dann übernahmen die Chinesen das globale Geschäft. »Nun holen wir es uns zurück.«
Noch 2015 wurden in Mountain Pass nur 6000 Tonnen Material pro Jahr abgebaut, die Mine weste vor sich hin wie ein Skelett in der Wüste. Man nahm nur, was sich ohne großen Aufwand verkaufen ließ, schiffte das Gestein vom Hafen in Los Angeles zur Aufarbeitung nach China – und sah es nie wieder.
Heute hat MP die Jahresproduktion nahezu verachtfacht, die Belegschaft von 8 auf 550 Leute ausgebaut und eine Milliarde Dollar investiert, um die komplette Wertschöpfungskette wieder in den USA anzusiedeln. Vom Abbau des Gesteins über die Raffinerie der seltenen Erden bis hin zur Magnetproduktion soll dann alles auf dem Kontinent stattfinden.
An die Mine wurde eine Aufbereitungsanlage angebaut, die sogenannte leichte seltene Erden in hochreiner Form erzeugt. Die grün und violett schimmernden Flüssigkeiten sollen von hier aus nach Texas gehen. Dort werden sie in Magnete gegossen, die es in jedem Elektromotor braucht. Bis Ende des Jahres soll die notwendige Zertifizierung vorliegen, um in Mountain Pass auch schwere seltene Erden zu raffinieren. Es wäre die erste derartige Anlage in der westlichen Hemisphäre.
Besonders stolz sind sie bei MP auf ihre »umweltfreundlichen« Prozesse. Das Wasser, sagt Sloustcher, werde etwa auf dem Gelände wiederaufbereitet und verwendet. Es gebe hier keine verschmutzten Seen wie in Baotou. »Unsere Mine ist ein Beispiel dafür, dass wir es im Westen auch können«, sagt Ryan Corbett, Finanzvorstand bei MP Materials. Man verdiene Geld, sei wettbewerbsfähig, arbeite im Einklang mit westlichen Werten und Gesetzen, Naturschutz und Nachhaltigkeitszielen. »Es geht. Und es geht auch in großem Maßstab.«
Doch die Amerikaner zahlen einen enormen Preis für ihre Unabhängigkeit. 500 Milliarden Dollar kostet Bidens Inflation Reduction Act, kurz IRA. Das Programm soll die US-Wirtschaft zu einer »green economy« machen – und die Volksrepublik aus dem Geschäft drängen, wo immer es geht. Unternehmen müssen ihre Rohstoffe aus heimischen Vorkommen oder von befreundeten Staaten beziehen, wenn sie von Steuererleichterungen profitieren wollen.
Die Mitte April in Kraft getretene 7500-Dollar-Steuergutschrift für E-Autos etwa sieht vor, dass Autobauer künftig 40 Prozent der kritischen Mineralien, die sie für ihre Batterien brauchen, in den USA oder in einem mit Amerika per Freihandelsabkommen verbundenen Land gewinnen, extrahieren oder wiederverwerten müssen. Bis 2027 soll dieses Niveau auf 80 Prozent steigen. Zudem muss die Hälfte der Batteriekomponenten schon heute in Nordamerika montiert worden sein, ab 2029 gar 100 Prozent.
Und Corporate America reagiert. Von General Electric (GE) bis General Motors (GM) investieren große wie kleine US-Industrieunternehmen Milliarden in eigene Minen, Raffinerien, Batteriefabriken. Auf dem ganzen Kontinent werden derzeit neue Projekte entwickelt: Lithium, Kupfer, Nickel, seltene Erden. Die Rohstoffbranche erlebt einen regelrechten Goldrausch. Seit Inkrafttreten des IRA sind mehr als 60 Milliarden Dollar in mehr als 130 Projekte geflossen. Der Autobauer GM etwa hat sich nicht nur große Teile der Produktion von MP Materials gesichert, sondern ist für 650 Millionen Dollar gleich selbst in die Produktion eingestiegen, über eine Beteiligung an »Lithium Americas«. Zehn Jahre lang nimmt GM nun die volle Produktion aus der Mine der noch jungen Firma nahe Winnemucca, Nevada, ab. Danach kann der Konzern für weitere fünf Jahre verlängern.
»Es gibt gerade ein unglaubliches Rennen um die besten Vorkommen weltweit«, sagt Firmenchef Jonathan Evans, der früher einmal bei Bayer in Düsseldorf gearbeitet hat. Jeder Autobauer brauche gerade Lithium, alle wollten sich elektrifizieren. Der Markt sei unglaublich »tight«, die Preise stiegen.
Die Abnabelung von China, glaubt Evans, bedeute fünf bis zehn »bumpy years«, schwierige Jahre für den Westen. So sei das bei den Interstate Highways auch gewesen: 35 Jahre habe es gebraucht, um Eisenhowers Plan eines US-weiten Autobahnnetzes zu vollenden. »Es geht darum anzufangen. Europa muss sich wirklich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren.« Schließlich sei die ganze Technik, all das Bergbau-Know-how einst vom alten Kontinent gekommen. »China hat es dann groß gemacht. Das müssen wir nun umdrehen. Es geht um die Rettung der Welt – das ist doch eine Wachstumsstory.«
ZZ: Europa – Streit um die Schuld
Deutschlands Antwort auf diese durchaus ansteckende Geschäftstüchtigkeit empfängt in einem etwas rumpeligen Büro am Rande Dresdens. Franziska Lederer vom Helmholtz-Institut für Ressourcentechnologie will dazu beitragen, die Rohstoffprobleme der Republik zu lösen – mithilfe von Viren. Zwischen Kolben und Fläschchen, Tiegeln und Pulverdosen erklärt die Wissenschaftlerin ihr Verfahren, um seltene Erden aus alten Energiesparlampen zu ziehen. Komplett ökologisch, ohne Einsatz von Chemikalien.
Lederer nutzt dafür den Bakteriophagen M13, ein Virus, das ausschließlich Bakterien befällt – und seltsamerweise auch auf Metalle steht. In Lederers Labor umschlingt das Virus gerade die seltenen Erden Lanthan, Cer, Terbium, Europium und Yttrium, die im Leuchtpulver der ausrangierten Leuchtmittel stecken.
Die Bakteriophagen lassen sich auf mikroskopisch kleine Magnete tackern. Mit ihnen »fischt« Lederer die seltenen Erden aus dem Leuchtpulver. »Bioangeln« nennen sie das. Eine Methode, die auch für Lithium und Kobalt funktioniert, die in alten E-Auto-Batterien stecken. Selbst aus dem Brauchwasser von Solarkonzernen lässt sich mit der Methode Metall gewinnen: Gallium.
Rechnerisch ist das Potenzial riesig: Bis 2020 wurden in der Europäischen Union rund 25.000 Tonnen altes Leuchtpulver gesammelt. Weil es giftiges Quecksilber enthält, lagert es als Sulfid in alten Stollen unter der Erde. Es ließe sich »leicht in großen Mengen beschaffen und mittels Bioangeln ausbeuten«, sagt Lederer. Knapp 4800 Tonnen seltene Erden könnten so nach ihren Berechnungen wiedergewonnen werden – theoretisch ausreichend, um die Bundesrepublik auf Jahre hinaus zu versorgen.
Allerdings ist das Ganze bislang nicht marktfähig. Und teuer überdies. Gerade einmal etwas mehr als zehn Prozent des deutschen Rohstoffbedarfs lassen sich momentan durch Recycling decken. Insgesamt, sagt Christoph Helbig, der an der Universität Bayreuth globale Materialkreisläufe modelliert, dürfte die Kreislaufwirtschaft ein ähnlicher Kraftakt werden wie die Energiewende. »Mindestens 10 bis 20 Jahre« werde es dauern, ehe man mehr als 50 Prozent der Nachfrage nach Lithium und seltenen Erden durch Recycling werde decken können.
Immerhin ist sich Lederer einer breiten Unterstützerkoalition gewiss. Kein Strategiepapier aus Berlin oder Brüssel, keine Ideensammlung der Industrie zur Bekämpfung der Rohstoffkrise kommt ohne Kreislaufwirtschaft aus. Deutschland und Europa, so ist dann zu lesen, hätten gute Chancen, in der Recyclingtechnologie weltweit führend zu werden und sich durch die Aufarbeitung von Elektrosondermüll zumindest langfristig ein Stück Autarkie zu sichern.
Dass Deutschland sich so sehr auf das Recycling stürzt, hat mit einer Erzählung zu tun, die schon an den Schulen ihren Anfang nimmt. Deutschland, so wird es hierzulande gelehrt, sei arm an Rohstoffen, aber reich an klugen Köpfen. Die hiesigen Ausnahme-Ingenieure, Avantgarde-Mediziner und Weltklasse-Chemiker seien es, die dem Land seine wirtschaftliche Kraft und ökonomische Macht verliehen – und schon lange nicht mehr die Bodenschätze in Ruhrgebiet, in der Lausitz oder am Rheingraben.
Tatsächlich stimmt das nur bedingt. Denn Lithium, seltene Erden oder Zinn lagern auch unter Europas Böden. Der staatliche schwedische Bergbaukonzern LKAB etwa meldete Anfang des Jahres, er habe nördlich des Polarkreises Europas größtes Vorkommen an seltenen Erden entdeckt. Im Oberrheingraben plant ein australisch-deutsches Konsortium, Lithium aus heißen unterirdischen Thermalquellen zu filtern. Und Schimmelbuschs AMG stieg kürzlich mit 25 Prozent beim sogenannten Zinnwald-Projekt an der deutsch-tschechischen Grenze ein. Dort soll ebenfalls Lithium gebaggert werden.
Bislang geht die EU-Kommission zwar davon aus, dass lediglich fünf Prozent des Bedarfs an kritischen Rohstoffen aus heimischen Vorkommen gedeckt werden können. Je höher der Preis für die Rohstoffe wird, desto attraktiver wird aber auch deren Erkundung und Förderung.
Doch selbst dann bleibt der heimische Abbau auf absehbare Zeit ungleich schwieriger und vor allem teurer als der Import. Es fehlt an Kapital, inzwischen selbst an Know-how und an Konzernen, die ins Risiko gehen. Seit aus dem früheren Minenbetreiber Preussag der Tourismuskonzern TUI schlüpfte und die alte Metallgesellschaft abgewickelt wurde, hat die Bundesrepublik keinen echten Rohstoffmulti mehr im Land. Zu dreckig, zu teuer, zu unstet, hieß es stets.
Denn egal, ob in Chile oder Ostdeutschland: Das Risiko zu scheitern ist im Rohstoffbusiness immens. Ein neues Vorkommen zu erschließen, dauert gern mal zehn Jahre. Was bedeutet: Bevor eine Tonne Metall oder Mineral in den Fabriken ankommt, muss eine Dekade lang investiert werden. Unterwegs kann dabei allerlei schiefgehen: Das Vorkommen kann sich als kleiner erweisen als erwartet. Die politischen Rahmenbedingungen können sich ändern, die Weltmarktpreise fallen und damit die Finanzierung.
Und dann ist da noch der Widerstand aus der Bevölkerung. Wenn schon das Aufstellen eines Windrads oder der Bau einer Stromtrasse vielerorts mit jahrzehntelangen Protesten begleitet werden, dürften Minen und Großbergbau »made in Germany« erst recht nicht akzeptiert werden. Das gilt genauso für Europa. Dort liegen wichtige Rohstoffschätze oft ausgerechnet unter jenen Böden, die auch touristisch wertvoll sind – womöglich kurzfristig gar wertvoller erscheinen. Unter der portugiesischen Algarve etwa oder der römischen Po-Ebene.
Statt für mehr Akzeptanz zu werben, negierte die Industrie das Problem einfach. In Stuttgart, München und Wolfsburg wollten sie lange nicht wahrhaben, dass das Verbrennerzeitalter zu Ende geht und in der Ära der E-Mobilität plötzlich ganz andere Vorprodukte und Rohstoffe über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Erst die Pandemie, der Ukrainekrieg und die geostrategische Konfrontation mit China machten den Autobossen klar, dass sie aus dem Markt geschossen werden, wenn sie nicht die Kontrolle über die neuen Schlüsselrohstoffe gewinnen. »Die Energiewende ist eine Materialwende«, heißt es in einem Rohstoffdossier aus Brüssel. Die Welt sei demnächst mehr auf kritische Rohstoffe wie seltene Erden angewiesen, als man es heute auf Öl sei, so eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Und schon macht ein Horrorszenario die Runde: Deindustrialisierung. Künftig werde die größte Wertschöpfung in rohstoffreichen Regionen stattfinden, warnt mancher Autovorstand. Es brauche schnell Handelsabkommen und Rohstoffpartnerschaften, um den Zugang zu den Ressourcen zu sichern, drängte Mercedes-Boss Ola Källenius unlängst.
Die Industrie schreit um Hilfe aus Berlin. »Die Märkte funktionieren nicht mehr, die Knappheiten werden noch zunehmen«, sagt Matthias Wachter, Rohstoffexperte des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). »Wir brauchen politische Unterstützung.«
In einem Papier suchen die Lobbyisten die Schuld am deutschen Rohstoffdesaster nicht etwa bei den eigenen Mitgliedern, sondern in der Politik: Anderswo, so der BDI, gebe es eine »gezielte staatliche Unterstützung« für den Abbau und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe.
Die Bundesregierung will sich das nicht vorwerfen lassen. Franziska Brantner, die für Rohstoffe zuständige Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, kann sich nur wundern über die Chuzpe der Konzerne. Natürlich sei China der weltgrößte Lieferant für weiterverarbeitete kritische Rohstoffe und seltene Erden. »Aber das hat nichts damit zu tun, dass es diese Stoffe nicht auch anderswo gibt«, sagt sie.
Brantner hat von ihrem Dienstherrn Robert Habeck den Auftrag bekommen, die Abhängigkeit von wichtigen Materialien zu verringern. In dieser Mission ist sie viel herumgekommen: in Lateinamerika, den USA, Kanada, Afrika. Noch vor Ostern ging es nach Australien. Die Dame weiß – um im Bild zu bleiben – wie der Bagger läuft.
China verdanke seinen Aufstieg auch einer Mischung aus Gedankenlosigkeit, Spezialisierung und Arbeitsteilung deutscher Unternehmen, so die Grüne. »Es ging viel um den billigsten Preis«, sagt Brantner. Und den habe stets China geboten, dank niedriger Löhne und staatlicher Förderung. Wenn die Wirtschaft jetzt um Hilfe rufe, dürfe es »nicht um eine komplette Risikoübernahme durch den Staat gehen, sondern um eine Unterstützung der Unternehmen«, sagt sie. Also nicht das Prinzip »Gewinne privatisieren, Risiken sozialisieren«.
Wie leichtfertig die Industrie das Thema Rohstoffe aus der Hand gegeben hat, belegt Brantner gern mit der deutschen Galliumproduktion. Das Mineral ist essenziell für die Halbleiterindustrie, auch können Leuchtdioden daraus gefertigt werden. Noch bis 2015 habe es eine heimische Förderung gegeben, sagt die 43-Jährige. Doch gegen die wesentlich billigere chinesische Produktion kam die Anlage nicht an und wurde deshalb aufgegeben.
Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, legte Brantner Anfang des Jahres ein Eckpunktepapier vor. Ein wenig, glaubt sie, könne die Politik selbst tun. Machbarkeitsstudien und geologische Erkundungen etwa finanziell unterstützen, Prozesse beschleunigen. Auch ein Rohstofffonds ist im Gespräch, mit dem die staatseigene KfW-Bank ähnlich wie bei Hermes-Ausfuhrkrediten die Risiken der Exploration absichern könnte. Selbst über sogenannte Differenzialkontrakte denkt man in der Bundesregierung nach. Damit würde die Politik einen Teil des Aufpreises, den heimisch, fair und nachhaltig produzierte Rohstoffe kosten, übernehmen.
Vor allem aber soll die Wirtschaft nun ran. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass sich große Konzerne künftig einer Art Audit für besonders kritische und strategische Rohstoffe unterziehen, um die eigene Verwundbarkeit zu identifizieren. Zudem will Brantner die Unternehmen dazu anregen, mehr kritische Rohstoffe zu lagern. Bislang lohnt sich das aus steuerlichen Gründen kaum: Es kostet Platz und bindet Kapital. Letzteres könnte reduziert werden, indem die Einfuhrzölle erst dann bezahlt werden müssen, wenn die Materialien auch verarbeitet werden.
Umsetzen müsste eine solche Steuererleichterung, die von der Wirtschaft heftig gefordert wird, Bundesfinanzminister Christian Lindner. Der jedoch scheint angesichts der knappen Haushaltslage skeptisch. Zumal eine Bevorratung bei kurzfristig unterbrochenen Lieferketten helfen kann, etwa wenn ein Schiff im Suezkanal quer steht, nicht aber, um eine strategische Abhängigkeit zu beenden.
So bleibt Brantner vorerst nur, staatliche Rohstoffpartnerschaften, wie sie Habeck jüngst etwa mit Kolumbien geschlossen hat, voranzutreiben. Diese Kooperationsverträge versprechen den Abbauländern nicht nur eine faire Bezahlung für die Nutzung ihrer Rohstoffe, sondern auch einen nachhaltigen Bergbau nach deutschen Umwelt- und Sozialstandards. Vor allem aber: Anteil an der Wertschöpfung.
Es ist der gutmenschliche Gegenentwurf zum neokolonialen Chinastil. Und womöglich ein Ansatz, der tatsächlich verfängt. Chiles Präsident Gabriel Boric verkündete jüngst, dass künftig alle Privatfirmen, die in dem Land Lithium fördern wollen, mit dem Staat in Gemeinschaftsunternehmen zusammenarbeiten müssen. Chile, so Boric, könne es sich nicht erlauben, keinen Nutzen aus den Lithiumvorkommen zu ziehen.
Bisher war in der deutschen Rohstoffstrategie von echter Augenhöhe mit den Abbauländern eher wenig die Rede. Das soll sich nun ändern. Mit Fokus auf lokale Wertschöpfung, mehr Nachhaltigkeit und Menschenrechte hätte man ein Alleinstellungsmerkmal, sagt Viktoria Reisch von Germanwatch. »Jetzt geht es darum, diesen Ansatz mit der europäischen Rohstoffstrategie zu verbinden.«
Die indes kommt kaum voran. Zwar hat die EU-Kommission gerade ihren »Critical Raw Materials Act« vorgestellt, mit dem sie die Versorgungsengpässe der Industrie angehen und auf die Offensive der USA antworten will. Von konkreten Maßnahmen steht in dem Papier allerdings wenig. Feste Quoten für die Wiederverwertung von Rohstoffen oder die Förderung von Metallen aus heimischem Boden sind darin nicht vorgesehen. Auch einen Zeitplan sucht man in dem Gesetz vergebens. »Da hatten sich viele deutlich mehr erhofft«, sagt ein deutscher Regierungsbeamter.
ZZ: Und jetzt – wie weiter?
Am Rande der Essener Innenstadt, im Gebäude Q6 der Thyssenkrupp-Zentrale, formuliert Martin Stillger eine Antwort, die viele seiner Kunden gar nicht gern hören dürften. Stillger regiert mit Thyssenkrupp Materials Services ein schier endloses Rohstoffreich. Wenn die Industrie der Junkie ist und China das Drogenkartell – dann ist Stillger der Dealer. Der Mann hat so ziemlich alles im Angebot, was die Schöpfung hergibt. Stahl, Edelstahl, Aluminium. Zudem Gase, seltene Erden, ebenjene kritischen Rohstoffe, die Europa so dringend braucht. Eine Viertelmillion Kunden weltweit kaufen für 16 Milliarden Euro jährlich bei Stillger ein.
Natürlich, sagt er, sei China für viele Produkte ein wichtiger Lieferant. Mitunter gar der einzige. Dennoch gebe es Alternativen, die Pandemie mit ihren Verwerfungen habe deren Entwicklung gar beschleunigt. Das Problem: Die heimischen Metalle, Erze und Vorprodukte sind zwar sauberer und sicherer – aber auch ungleich teurer.
15 Jahre lang hat Stillger die Geschicke eines mittelständischen Maschinenbauers gelenkt, der einst zu den Pionieren in China zählte. Er kennt also den Feind, so würde er das wohl formulieren. Stillger sieht Bedarf für einen grundsätzlichen Wandel – in den Köpfen der Führungsetagen.
Der Manager hat ein riesiges Steuerungsversagen der heimischen Industrie ausgemacht. Diejenigen, die beim Thema Rohmaterialien nun am lautesten nach Hilfe der Politik riefen, seien oft jene, die zuvor »die Entscheidung immer nur nach den Kosten« getroffen hätten. Seit Jahrzehnten seien die Einkäufer »getrimmt und auch incentiviert, den günstigsten Preis zu verhandeln«, sagt er. Alle hätten gedacht: Es herrsche Frieden, es herrsche Freiheit. Also kaufe man in China. »Jetzt stellen die fest: Wir sind in einer Sackgasse ohne Wendehammer.«
Es brauche Manager, »die, die Zyklen der Rohstoffbranche aushalten« und auch dann außerhalb Chinas kauften, wenn »die Preisschere auseinandergeht«. Die Politik, sagt Stillger, dürfe nur dort helfen, wo die Konzerne sich ehrlich mühen, unabhängig zu werden. Sonst bleibe alles beim Alten. Wer ihm zuhört, zieht sofort eine Parallele zum Gas- und Ölentzug nach dem russischen Angriffskrieg. Da hat das von Stillger geforderte Prinzip funktioniert: »Lernen durch Schmerzen«.
Im baden-württembergischen Örtchen Zimmern ob Rottweil weiß man, wie sich so eine Lernkurve anfühlt. Der Unternehmer Wolfgang Schmutz hatte den wachsenden Bedarf früh kommen sehen, war schon 2018 ein Joint Venture mit dem bolivianischen Staatskonzern YLB eingegangen, um Zehntausende Tonnen Lithiumsole aus dem berühmten Salzsee von Uyuni zu holen. Damit wollte Schmutz die heimische Autoindustrie versorgen. Zur Vertragsunterzeichnung des Projekts mit Namen Acisa reiste gar der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) an.
Dann ging alles schief. Im Herbst 2019 erklärte Boliviens Präsident Evo Morales Acisa für beendet; Schmutz erfuhr das morgens im Badezimmer aus den Radionachrichten. Die Bolivianer hatten ihn nicht einmal informiert. Ebenso überrascht wie Schmutz waren die Bundesregierung und die Stuttgarter Landesregierung. Eine Lösung konnte nicht gefunden werden. »Es hat nicht sein sollen«, sagt er wortkarg. Schmutz konzentriert sich seither wieder auf den Maschinen- und Anlagenbau.
Im Wirtschaftsministerium heißt es, der Mittelständler habe sich mit den falschen Partnern eingelassen. Aber klar scheint auch: Mit einem internationalen Konzern wie Mercedes-Benz oder Siemens wären die Südamerikaner gewiss anders umgesprungen.
Inzwischen ist das Projekt anderweitig vergeben worden. Im Januar bekam ein ausländisches Konsortium um den CATL-Konzern den Zuschlag der bolivianischen Regierung. Der Schatz im Uyuni-Salzsee wird nun über Jahrzehnte ausgebeutet: von einem chinesischen Staatskonzern.