TikTok für Klamotten
von Janne Knödler, Simon Book und Christoph Giesen
Der Spiegel vom 08.07.2022
Portrait des chinesischen Modekonzerns Shein, der das Fast-Fashion-Prinzip auf die Spitze treibt und sehr erfolgreich billigst produzierte Imitate an ein junges, westliches Publikum verkauft. Der Vertrieb läuft über Micro-Influencerinnen, Umwelt- oder Arbeitsrechtsverstöße scheinen keine Rolle zu spielen.
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TikTok für Klamotten
Auf den ersten Blick gleichen sich die Kleider wie ein Klon dem anderen: dunkelgrün-braun-beige-gemustert, ein wenig wie Omas Gardine. Links ein langer Schlitz, oben ein kurzer Rollkragen. Alles sehr, sehr ähnlich – wäre da nicht der Geruch: Das eine riecht, wie neue Kleidung eben riecht, ein wenig nach dem Karton, in dem es geliefert wurde. Das andere stinkt. Nach Plastik.
Das erste Kleid ist von Zara, einem der größten Fast-Fashion-Hersteller der Welt. Das zweite ist von Shein, einem chinesischen Konzern und Pionier dessen, was sich Ultra-Fast-Fashion nennt, oder auch: Echtzeit-Mode. Es ist die absolute Steigerung von dem, was einst Zara und H&M groß werden ließ: schneller, billiger, innovativer zu sein. Shein macht das noch konsequenter. Und noch bedenkenloser.
Das Kopieren gehört zum Konzept – und wird zugleich frech geleugnet. Die Kopie einer Handtasche des Designers Marc Jacobs etwa bezeichnet Shein auf seiner Site als »einzigartige Tasche«.
Doch der Konzern kupfert nicht nur bei den Großen der Branche ab. Er verkauft auch Kopien eines Vintage-Pullunders, den eine Nutzerin auf einer Secondhand-Plattform anbot, oder das Shirt einer kleinen Countryband aus South Carolina. Von einer US-Designerin, die viele ihrer Teile per Hand häkelt, soll Shein über 40 Designs nachgeahmt haben.
Der Konzern ist mit diesem Konzept unfassbar erfolgreich. Shein verdoppelt seine Verkäufe im Schnitt Jahr für Jahr. Während H&M und Zara in der Coronapandemie mitunter Kunden verloren, maßen Marktforscher in den USA in gleich mehreren Monaten mehr als 200 Prozent jährliches Wachstum der »Unique Shoppers per Month« für Shein. Binnen zwei Jahren konnte das Unternehmen den durchschnittlichen Umsatz seiner US-Kundschaft fast verdoppeln: auf 89 Dollar im Monat. Den Chinesen sei da etwas »wirklich Großes« gelungen, sagt Michael Maloof, Marktanalyst der Handelsforschung Earnest. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Allein im vergangenen Jahr soll Shein 16 Milliarden Dollar weltweit umgesetzt haben. Das entspricht einem Viertel des gesamten deutschen Modemarktes. Das Unternehmen selbst veröffentlicht keine Zahlen. Investoren bewerten es mittlerweile mit 100 Milliarden Dollar, mehr als H&M und Zara-Mutterkonzern Inditex zusammen; unter den wertvollsten Start-ups der Welt steht es auf dem dritten Platz, gleich nach Elon Musks SpaceX.
So richtig in die Zeit passt diese Erfolgsstory nicht. Allenthalben versucht die Modeindustrie, das Image der Umweltsünderin abzustreifen, redet ständig von besseren Arbeitsbedingungen und nachhaltigem Konsum. Ist Shein am Ende die ehrlichere Antwort auf das, was den Kundinnen und Kunden wirklich wichtig ist: Hauptsache billig und nach uns die Sintflut?
Womöglich ist Shein keine Weiterentwicklung der Fast-Fashion-Idee mehr, sondern der erste Modekonzern, der sich für Mode gar nicht mehr interessiert. Im Kern also ein Technologiekonzern, für den Kleidungsstücke nur noch Datenpunkte sind. Wachstumspotenzial liegt nicht mehr in der Verbesserung der Qualität, sondern in der Genauigkeit der Empfehlungsalgorithmen. Die Kids sollen nicht nur kaufen, sondern möglichst lange in der App verweilen, sollen zu Nutzern werden, zum Teil einer Community.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Shein in weniger als 20 Jahren so erfolgreich werden konnte – und kaum jemand über 30 es überhaupt bemerkte.
Sheins Entstehungsgeschichte liegt, wie alles bei der Firma, im Ungefähren. Gegründet wurde sie – je nach Quelle – 2008 oder 2012 in der ostchinesischen Stadt Nanjing. Damals hieß die Seite noch »SheInside« und verkaufte Brautmode. Auch über den Gründer Xu Yangtian, der sich Chris nennt, ist wenig bekannt.
Chinesische Zeitungen schreiben, Xu stamme aus der Küstenprovinz Shandong und habe dort in Qingdao studiert, Erfahrungen im Suchmaschinenoptimieren gesammelt. Andere Medien meinen zu wissen, er sei in den USA geboren und habe an der Washington University seinen Abschluss gemacht. Interviews geben weder er noch das Unternehmen. Einer chinesischen Zeitung ließ Xu 2020 angeblich ausrichten: »Was auch immer Sie schreiben, wenn es nicht wahr ist, werde ich definitiv klagen.«
2014 zog seine Firma nach Guangzhou um. Im Jahr darauf strich der Gründer die letzten vier Buchstaben des Namens. Aus SheInside wurde Shein, das Geschäft ausgeweitet auf Männer, Kinder- und Frauenkleidung, suchmaschinenoptimiert und ultrabillig. Den chinesischen Markt bediente Shein nie, die Zielgruppe waren immer junge Menschen im Ausland, die wenig Geld für Mode ausgeben wollen. Zu Hause war der Konkurrenzdruck wohl zu hoch.
Shein setzte schnell auf Influencer. Addison Rae etwa, TikTok-Star der ersten Stunde, wirbt für das Billiglabel, genau wie die deutsche YouTuberin Bianca Claßen alias »Bibi« von BibisBeautyPalace. Genauso wichtig – und preiswerter – als die Megastars sind die kleinen Sternchen, die Meso- und Mikroinfluencer mit weniger als 100.000 Followern. Meist junge Frauen, die im Tausch gegen ein paar Polyesterbikinis oder Kunstlederhandtaschen vor ihrem Wohnzimmerspiegel im Outfit des Tages tanzen. Inhalte, denen man kaum ansieht, dass es um Werbung geht, stünde in der Profilbeschreibung nicht ein Code, mit dem die Follower 15 Prozent Rabatt bekommen und die Influencerin eine bescheidene Provision.
Die Strategie hat Shein auf TikTok zur am häufigsten erwähnten Marke des Jahres 2020 gemacht. Videos mit dem Hashtag Shein wurden auf der Plattform mehr als 32 Milliarden mal angeschaut. Den englischsprachigen Instagram-Kanal haben 25 Millionen Nutzer abonniert.
»Jemand trägt ein bestimmtes Kleid, und plötzlich wollen alle genau so etwas«, sagt Bloggerin Alexandra Hildreth, 24. »Mikrotrends« nennt sie den Chic, der einem einzelnen Foto oder Video entspringt und sich über die gesamte Plattform verbreitet. Doch genauso schnell, wie ein Trend entstanden ist, kann der Hype auch wieder vorbei sein. »Es ist leicht, sich zu fühlen, als wäre man zu spät dran«, sagt sie. »Dann gehts los zum nächsten Trend.«
Shein schafft es besser als die etablierten Marken, diese Hypes zu erspüren – und daraus ein Milliardengeschäft zu machen. Entsprechend hoch ist der Output an neuen Kleidungsstücken, den das Unternehmen produziert: In der letzten Juniwoche erschienen jeden Tag mehr als tausend neue Teile im Onlineshop.
Gesprächsanfragen lehnt Shein ab. Marketingchefin Molly Miao erläutert in einem Beitrag für den Techblog Techonomy die Konzernphilosophie so: »In einer idealen Welt sollten Modefirmen eine unendliche Anzahl an Styles anbieten«, schreibt sie, aus denen Kunden »je nach individueller Präferenz« aussuchen könnten. Jedes Kleidungsstück müsse dann nur »ein einziges Mal« hergestellt werden.
Wie Shein diesem Ideal näher kommt, zeigt sich in Guangzhou. In der südchinesischen Provinzhauptstadt hängen überall rote Werbetafeln: »Arbeiter für eine internationale Modemarke gesucht«, steht darauf. In heruntergekommenen Industriebauten, in Lagerhallen von Supermärkten oder direkt in den verwinkelten Gassen werden Vier-Euro-Tops und Plastik-Handtaschen genäht.
Shein ist als Auftraggeber bei den Bossen der Hinterhof-Nähereien gefragt: Zwar gehören die Nähereien nicht zu dem Unternehmen. Doch der Konzern garantiert, die gesamte Produktion aufzukaufen und innerhalb von zwei Wochen zu zahlen. Rechnungen werden in der Branche sonst oft erst nach drei Monaten beglichen, manchmal gar nicht.
Nachschub bestellt Shein in für die Modeindustrie winzigen Mengen, mal 100, mal auch nur 50 Stück. Nachdem die Teile im Onlinestore landen, analysiert die firmeneigene Software in Echtzeit, was auf Website und App gesucht und gekauft wird. Geht ein Tanktop viral, wird am nächsten Tag in der Näherei um die Ecke ebendieses Top genäht. Entpuppt es sich als Ladenhüter, hat Shein im Idealfall lediglich ein paar Teile zu viel bestellt. Minimales Risiko, maximale Flexibilität. Und durch die enge Anbindung der Nähereien an Sheins Software geht der ganze Prozess schwindelerregend schnell: Drei bis fünf Tage soll es angeblich dauern, bis ein entworfenes – oder kopiertes – Teil verkauft werden kann.
Für chinesische Unternehmen ist es selbstverständlich, so datengetrieben zu arbeiten, sagt Techanalystin Rui Ma. Die Kundschaft sei »extrem divers«, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich »enorm«. Wer an alle verkaufen wolle, müsse alles anbieten – und schnell sein. »Shein tut nicht so, als wüssten sie, was ein Kunde will«, sagt Ma. »Sie experimentieren einfach, in kleinen Stückzahlen – und analysieren dann genau die Daten, was gekauft wird.«
Das Unternehmen beschränkt sich längst nicht mehr auf Kleidung, sondern stellt auch Möbel, Kosmetik, Haustierzubehör her, bedient jene Exportmärkte, die am schnellsten wachsen. Viele Beobachter halten deshalb den Vergleich mit anderen Modekonzernen nicht mehr für treffend. Shein, sagt der Handelsexperte Gerrit Heinemann, sei eher auf dem Weg, »das nächste Alibaba oder Amazon« zu werden.
Zumindest die Geldgeber scheinen dies zu erkennen. In der letzten Finanzierungsrunde sammelte Shein von Investoren eine Milliarde Dollar ein. Unter den Investoren waren Topadressen wie der Risikokapitalgeber Sequoia Capital, der einst Technologieriesen wie Apple, Google oder Airbnb groß machte. Auch Tiger Global, einer der ambitioniertesten Geldgeber der letzten Jahre, investierte Millionen.
Genaue Zahlen gibt es kaum. Selbst David Hachfeld, der sich monatelang mit Shein beschäftigt hat, ist auf Schätzungen angewiesen. Er arbeitet für die Schweizer NGO »Public Eye«, die Schweizer Firmen weltweit auf Menschenrechtsverletzungen untersucht. Shein, sagt Hachfeld, sei ein »schwarzes Loch«.
Hachfeld hält das Geschäftsmodell für rückschrittlich: Kleidung, zumeist aus Polyester, in kleinen Chargen von Wanderarbeitern in chinesischen Hinterhoffabriken herstellen zu lassen, die Teile dann einzeln in Plastikbeutel zu verpacken und per Luftfracht nach Europa und in die USA zu fliegen, »kann niemals ein nachhaltiges Geschäftsmodell sein. So wird man schnell groß. Klar. Aber den Preis dafür zahlen Menschen und Umwelt.«
Offenbar hat man bei Shein erkannt, dass hier eine Schwachstelle liegt. Zwischen blinkenden Rabattcodes und ablaufenden Countdowns für Sonderaktionen findet sich auch das Label »Shein Cares«: »Wir sind im ›gutes tun‹-Geschäft«, heißt es da. »Indem wir nachhaltige Methoden und Materialien verwenden, tun wir unseren Anteil daran, den Planeten so gut wie möglich aussehen zu lassen.«
Ende April startete Shein gar eine »nachhaltige« Linie, »EvoluShein«: Produkte, die zumindest teilweise aus recyceltem Polyester bestehen. Auf Anfrage [des Mediums] listet das Unternehmen mehrere Nachhaltigkeitsinitativen auf, an denen Shein beteiligt ist.
In einem Markenreport der NGO Remake, die sich mit Menschenrechtsverletzungen in der Modeindustrie beschäftigt, erhielt Shein jüngst allerdings einen Nachhaltigkeitsscore von null, aus 150 möglichen Punkten. Zara etwa, auch kein Primus der Branche, bekam für seine Unterstützung von Gewerkschaften immerhin 24 Punkte, die H&M-Gruppe 39 Punkte. Sheins Aussagen dagegen seien »extrem irreführend« und, in vielen Fällen, ganz einfach unbewiesen, heißt es bei Remake.
Die Näherinnen in Guangzhou wissen meist nicht einmal, für wen sie schuften. Irgendeine Marke aus dem Ausland, sagt eine Wanderarbeiterin aus Hubei. Seit über zehn Jahren lebt sie in der Stadt, näht seit zwei Jahren im Akkord: Sieben Tage die Woche, oft bis tief in die Nacht im schummrigen Licht der Neonröhren. Ihre Nähmaschine steht im ersten Stock eines Industriekomplexes. Am Eingang stapeln sich die Shein-Tüten, man hört das monotone Rattern der Maschinen, ab und zu zirpt der Nymphensittich, den der Chef in einen Vogelkäfig gesperrt hat. Wie in einer Mine.
Der Arbeitstag der Näherin beginnt um acht Uhr, um 11.30 Uhr machen sie und ihre Kolleginnen Mittagspause, ab halb zwei geht es weiter. Abendessen: 17.30 Uhr, ab sieben dann Spätschicht bis halb zwölf. Nur an den Sonntagen leistet sie keine Überstunden, zwei Tage im Monat hat sie frei. Einen Arbeitsvertrag, erzählt die Frau, habe sie nicht. Mal bekommt sie 5000, mal 6000 Yuan pro Monat, umgerechnet rund 800 Euro. Kommt es zu Stromausfällen, wie im vergangenen Herbst, stehen die Maschinen still, niemand verdient dann Geld. Wie geht es ihr damit? »Es ist schön. Ich bin einfach jeden Tag glücklich«, sagt sie. »Welche anderen Möglichkeiten habe ich auch?«
Näherinnen und Näher, die für Shein tätig sind, arbeiten oft mehr als 70 Stunden pro Woche – und das offenbar meist ohne Arbeitsverträge. Das zeigen Interviews, die Public Eye in insgesamt sechs Fabriken in Guangzhou durchgeführt hat. Eigentlich sind das eindeutige Verstöße gegen die Arbeitsgesetze der Volksrepublik. Danach ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt. Pro Monat sind maximal 36 Überstunden zulässig und jeder Mitarbeiter muss einen Arbeitsvertrag bekommen. Arbeitsrechtsverstöße betreffen die gesamte Branche, Zulieferer von Shein genauso wie viele andere Betriebe, die für große Marken in Südchina produzieren.
Schriftlich teilt Shein mit, die Zulieferer würden regelmäßig von unabhängigen Prüfern kontrolliert. »Wenn Verstöße festgestellt werden, ergreifen wir weitere Maßnahmen, die bis zur Kündigung reichen können.« Wie oft tatsächlich überprüft wird und welche Verstöße bislang entdeckt wurden, dazu schweigt Shein.
In der Bundesregierung zeigt man sich entschlossen, Shein damit nicht einfach davonkommen zu lassen. Unternehmen könnten nicht länger Verantwortung auf Dritte übertragen, »weder auf ihre Zulieferer, noch auf externe Zertifizierer«, sagt Anosha Wahidi vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das neue Lieferkettengesetz der Bundesregierung, das 2023 in Kraft tritt, ziele genau darauf und »zwingt Unternehmen zu einem Perspektivwechsel«. Auch die geplante europäische Regulierung sei ein »starkes Instrument«.
Tatsächlich wird Shein von den beschlossenen Regeln kaum erfasst, da es hierzulande keinen Hauptsitz unterhält. Ein EU-Gesetz tritt frühestens 2024 in Kraft. Die Details werden gerade erst verhandelt.
In den Vereinigten Staaten und Großbritannien denken sie bereits über Gesetzesverschärfungen nach. Vor allem Sheins Praxis, Einfuhrzollgrenzen zu umgehen, indem man große Bestellungen in einzelne Pakete teilt und dann per Luftfracht verschickt, stößt in den USA auf Widerstand. Der »New York Fashion Act« lässt sich gar als »Lex Shein« lesen: Der Bundesstaat und die Millionenstadt wollen Unternehmen vom Markt ausschließen, die ihrer Transparenzpflicht nachweislich nicht nachkommen. Alle Firmen ab 100 Millionen Dollar Jahresumsatz sollen darunter fallen. Allein das, sind Experten im politischen Berlin überzeugt, werde Shein »deutliche Schwierigkeiten bereiten«.
Und der Designklau? Auf [Medium]-Anfrage teilt Shein mit, dass alle Lieferanten gewährleisten müssten, dass ihre Produkte geistiges Eigentum nicht verletzen. Man investiere weiter in Reviewprozesse. Bis dahin, scheint es, müssen sich die Marken selbst kümmern. Ralph Lauren reichte eine Klage ein, genau wie die Firma hinter Doc Martens. Weniger bekannten Designern bleibt meist nur der Weg über die Öffentlichkeit – vielleicht reagiert Shein ja nach einem Shitstorm.
Den direkten Konkurrenten, so Handelsexperte Heinemann, bleibe nur die »Flucht nach vorne. H&M oder Zara müssen es schaffen, der jungen Zielgruppe klarzumachen, warum sie mehr kosten.«
Das sollte eigentlich nicht so schwer sein. Eine Untersuchung, die ein Team der Hochschule Niederrhein für [das Medium] durchgeführt hat, zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Shein-Kopien und ihren Fast-Fashion-Vorbildern. Fünf Kleidungsstücke wurden ausführlich analysiert.
Eine grüne Umhängetasche riecht intensiv nach Kunststoff, ein geblümtes Oberteil mit Herzausschnitt verströmt den Duft einer Tankstelle. Das könne daran liegen, dass die Produkte bei Shein keine Zeit zum Auslüften hatten, sagt Maike Rabe, die das Forschungsinstitut für Textil und Bekleidung leitet.
Oder eben an schlechter Qualität. Die Shein-Teile sind allesamt aus Polyester. Der »billigste Rohstoff, der in der Textilindustrie eingesetzt werden kann«, sagt Rabe, »rein auf Erdölbasis.« Bei den Konkurrenzprodukten kommen auch Textilmischungen zum Einsatz, beispielsweise aus Viskose.
Bei der ausführlichen Untersuchung werden noch mehr Unterschiede sichtbar. Die Nähte bei den Shein-Produkten sind unsauberer, Reißverschlüsse nicht in Stoff eingefasst. Statt die Passform mit vergleichsweise aufwendigen Schnitt- und Nähtechniken zu fixieren, werden bei einigen Shein-Teilen einfach Gummis eingesetzt. »Die Ware fällt nicht gut«, sagt Rabe. Dass sie billig ist, sehe man ihr durch den vereinfachten Schnitt an.
Auch die Muster, auf den ersten Blick identisch, unterscheiden sich beim genaueren Hinsehen. Mal sehe der Druck »verpixelt« aus, mal seien die Farbverläufe »weniger fließend«. Als hätte jemand die Zara-Teile abfotografiert und das Muster nachdrucken lassen. »Dreiste Kopien« nennt Rabe die Produkte. »Die Teile sind auf einem Level mit Karnevalsbekleidung«, lautet Rabes vernichtendes Urteil.
Noch scheint das die Kundinnen und Kunden nicht sonderlich zu stören. In einem Hinterhof in Covent Garden, der Einkaufs- und Amüsiermeile Londons, hat Shein für das Wochenende einen Pop-up-Store eingerichtet. Die Schlange reicht bis zum nächsten Block, fast eine Stunde brauchen die Wartenden bis zum Eingang. Solche Events sind rar.
Der Raum ist kaum größer als ein Wohnzimmer. Ein DJ legt auf. 200, vielleicht 250 Menschen drängeln sich um die Kleiderständer. Einige lassen sich von einer Kalligrafin in ihrem neuen Lieblingsoutfit malen. Andere posieren im neuen Oberteil vor der Spiegelwand für die Kameras, »für TikTok.«
Teenager lieben das Label vor allem wegen der Preise: Ein bauchfreies Top kostet im Sonderangebot gerade mal zwei Euro, Sneaker fünfzehn. Selbst Wintermäntel gibt es hier für 23 Euro. Oft kommt noch ein Rabatt dazu.
Mafalda Fonseca, 30, ist eine der zahlreichen Instagrammerinnen, die für Shein Werbung machen. Sie postet Spiegelselfies aus ihrem Schlafzimmer, manchmal zusammen mit einem riesigen Plüschteddybären. Natürlich wisse sie, »dass Shein nicht der ethischste Konzern ist«, sagt sie. »Die wollen nur Geld verdienen, da bin ich nicht naiv.« Aber sie könne dort endlich Kleidung finden, »die mir passt, und die ich mir leisten kann«, sagt die Frau, die meist Kleidergröße 2XL trägt. Plus-Größen seien sonst »entweder langweilig, oder teuer, oder beides.« Bei Shein sei das anders.
Auch das Umweltargument zieht bei der jungen Käuferschicht mitunter nicht mehr. »Keiner hat mehr Lust, geshamed zu werden«, sagt Madeleine Alizadeh. Die 33-Jährige galt unter @Dariadaria als eine der ersten deutschsprachigen »Sinnfluencerinnen«. Eine, die ihren Hund vegan ernährte, auf Kurzstreckenflüge verzichtete und mit Greta Thunberg posierte. Viele ihrer Follower erwarteten daraufhin Perfektion von ihr.
Jahrelang, sagt Alizadeh, hätten Marken die Botschaft verbreitet: »Kauft nachhaltiger, dann könnt ihr die Welt retten.« Jahre, in denen es negative Kommentare hagelte, wenn man sich neue Kleidung zulegte oder mit dem Flugzeug in den Urlaub flog. Heute ist sie überzeugt: Individueller Konsum ändert nichts daran, dass in der Modeindustrie so viel schiefläuft. Statt Käuferinnen und Käufer müsse man die Konzerne zur Rechenschaft ziehen, müsse politisch gesteuert werden.