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Schein und Sein in Indiens Wirtschaft

von Andreas Babst
Neue Zürcher Zeitung vom 04.05.2023

Als Alternative zum chinesischen Markt werden am Beispiel eines Herstellers doppelter Böden für Bürogebäude, eines Reinigungsmaschinenherstellers und eines App-Entwicklers verschiedene Kooperationsmodelle der schweizerischen und indischen Wirtschaft vorgestellt sowie Unterschiede der Mentalität und praktische Herausforderungen erläutert.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Schein und Sein in Indiens Wirtschaft

Die neue Zeit bricht in weissen Plastikzelten an. Sie stehen auf einem Messegelände ausserhalb von Lucknow, in Indiens grösstem Teilstaat Uttar Pradesh. Seit Wochen hatte die Regierung den UP Global Investors Summit beworben, Premierminister Narendra Modi lächelte von Werbeplakaten vom nordindischen Delhi bis zum südindischen Bangalore. In den weissen Plastikzelten sollen die grossen Deals abgeschlossen werden, und auch der letzte ausländische Investor soll merken: In Indien liegt die Zukunft der Weltwirtschaft.
Zwischen den Zelten huschen junge Männer mit Visitenkarten umher; sie sind Übersetzer oder Makler, sie hoffen, irgendwie Teil zu werden vom grossen Aufstiegsversprechen, das um sie herum verkauft wird. Die japanische Delegation wird von ihrem Übersetzer ins nächste klimatisierte Zelt bugsiert. Eine Frau der EU-Delegation beschwert sich bei einem Polizisten, der ihr den Weg versperrt, weil der indische Innenminister gerade zwischen den Zelten wandelt. Die EU muss warten.
Das indische Aufstiegsversprechen ist nicht neu. Schon in den 1980er Jahren drängte Pepsi nach Indien, man wolle unbedingt Teil des wachsenden indischen Marktes sein. Das westliche Interesse an Indien kommt in Wellen. Das Versprechen hat sich am Ende nie erfüllt.
Diesmal soll alles anders sein. Wahrscheinlich warb Indien noch nie lauter um westliche Investoren, noch nie gab sich das Land so selbstbewusst wie unter Modi: Indien soll bis 2025 eine 5-Billionen-Dollar-Wirtschaft sein, so einer seiner Slogans. Am Ende des UP Global Investors Summit sagen die Verantwortlichen, es seien 400 Milliarden Dollar zusammengekommen, die im Teilstaat investiert werden sollen. Eine eindrückliche Zahl. Allerdings beruht sie auf Absichtserklärungen. Bürokraten strichen während dreier Tage geflissentlich durch die weissen Zelte, sie hatten eine Quote zu erfüllen: Jeder von ihnen musste so viele unterschriebene Absichtserklärungen wie möglich abliefern. Die Gipfel-Teilnehmer unterschrieben fleissig. Nur: Bindend ist so eine Absichtserklärung nicht.
Es ist in Indien nicht immer einfach, zu unterscheiden, was echt ist und was Schein. Kann Indien sein Versprechen diesmal halten?

Kein Herz für die Kleinen

Umesh Sharma sitzt in der Zuschauerreihe in einem der weissen Zelte, auf der Bühne redet ein Vertreter der niederländischen Botschaft von länderverbindender Freundschaft. Sharma sagt: «Keiner der Grossen hier spricht mit uns.» Neben Sharma sitzt sein Geschäftspartner Jan Roger Peacock aus England. Die zwei fabrizieren in Indien eines jener Produkte, von denen die Welt kaum weiss, dass sie existieren. Und dies, obwohl wir fast täglich darauf gehen: doppelte Böden für Bürogebäude – ein eleganter Weg, um in einem Büroturm oder auch an einem Flughafen Kabel zu verstecken.
An den Investorengipfel sind sie gekommen, weil sie ein Problem haben: Das Land ihrer Fabrik wird illegal besetzt, Sharma spricht von einer «Mafia», die unerlaubt gebaut habe. Sie wollen den stellvertretenden Chefminister bitten, sich der Sache persönlich anzunehmen. Und der sitzt neben den Niederländern auf der Bühne.
Nach den Reden rauschen Sharma und Peacock los, um den Brief zu übergeben. Aber vorher laden sie noch dazu ein, ihre Fabrik zu besichtigen – die «echten Geschäftsmänner» zu besuchen, so nennt Sharma jene, die sich aus ziemlich wenig ziemlich viel aufgebaut haben.
Indiens Wirtschaft, das sind immer grosse Pläne. Der erste Premierminister, Jawaharlal Nehru, entwarf nach der Unabhängigkeit Fünfjahrespläne. Er versuchte den Big Push nach vorne. Die Schwerindustrie sollte die Lokomotive für das indische Wirtschaftswachstum sein. Nehru hatte wenig übrig für kleinere und mittlere Unternehmen. Seine Fünfjahrespläne scheiterten, das indische Wirtschaftsversprechen hatte sich ein erstes Mal nicht erfüllt. Die Tradition der ganz grossen Pläne und Ankündigungen ist geblieben.
Umesh Sharma und Jan Roger Peacock warten ein paar Wochen später vor ihrer Fabrik in Aligarh, einem Ort in Uttar Pradesh mit etwa einer Million Einwohnern, einer indischen Kleinstadt. Eine Fabrik hinter der indischen Aufbruchskulisse. Es gibt kein Schild. Ein Schild locke nur Bürokraten und Inspektoren an, sagt Sharma, Profiteure also, die gerne mitverdienen würden. Sharma ist ein untersetzter, sehr freundlicher Mann. Er und Peacock hatten sich vor Jahren kennengelernt. Peacock ist ein pensionierter Manager, er hat einst Restaurants und Hotels in Europa geführt, und er wirkt fast zu elegant für diese Fabrik im Nirgendwo.
Seit 2014 stellen Sharma und Peacock hier Metallstützen für doppelte Böden her, fünf Komponenten, eigentlich simpel, «aber schwieriger, als es aussieht», sagt Peacock: Die Maschinen, welche die Gewinde schneiden und die Stützen in Form pressen, sind in die Jahre gekommen. Es ist viel Handarbeit nötig. Vollautomatische, ausländische Maschinen seien zu teuer in der Wartung, zu anfällig, wenn wieder einmal der Strom ausfalle. Es dauerte Monate, bis Peacock mit der Qualität zufrieden war. Heute exportieren sie monatlich drei Container voller Stützen nach Europa. Es laufe gut, sagt Peacock.

Langsame Verbesserung

«Vieles ist in Indien in den vergangenen Jahren besser geworden», sagt er. Von Delhi aus gibt es nun eine Autobahn bis fast nach Aligarh. Unter Modi wurden die Steuern vereinheitlicht, es gibt nun eine Mehrwertsteuer – «vorher mussten wir, wenn wir die Stützen durch Indien transportierten, in jedem Teilstaat Steuern entrichten», sagt Peacock. Und Sharma sagt: «Vor 2014 haben wir von der Politik nichts erwartet» – 2014 kam Modi an die Macht.
Sharma und Peacock sind kein Vorzeigeprojekt der Modi-Regierung, sie halten normalerweise Abstand zur Politik – wem die Politiker einen Gefallen erweisen, der ist wieder einen Gefallen schuldig, und sei es nur eine Wahlkampfspende. Überfluss gibt es in dieser Fabrik keinen: Die siebzig Arbeiter schleppen die Metallstützen in Plastikeimern von Arbeitsschritt zu Arbeitsschritt, es ist günstiger als ein Förderband.
Aber auch hier, hinter den Kulissen, ist so etwas wie Aufbruchsstimmung zu spüren, einfach nüchterner. Die Korruption sei seltener geworden, sagt Sharma, «die Bürokraten können nicht mehr überall abzwacken. Dafür nehmen sie da, wo sie können, umso mehr».
Peacock und Sharma würden gerne expandieren. Das Land haben sie schon. Nur hat jemand illegal darauf gebaut, hastig errichtete Mauern, um das Land zu besetzen. Sharma sagt, die Eigentumsrechte seien klar: Es sei ihr Land. Aber es kann Jahre dauern, bis Gerichte in Indien eine Entscheidung fällen. Deshalb der Brief an den stellvertretenden Chefminister während der Investorenkonferenz. Sind sie zu ihm vorgedrungen? Sharma sagt, der Assistent des stellvertretenden Chefministers habe den Brief in Empfang genommen und versprochen, das Anliegen weiterzuleiten.
Den Sprung nach Indien gewagt hat auch die Cleanfix Reinigungssysteme AG, deren Hauptsitz in Henau, ausserhalb von Wil im Kanton St. Gallen, liegt. Cleanfix baut Reinigungsmaschinen, zum Beispiel den RA395 IBC, eine Scheuersaugmaschine für Industrieböden, im Logo steht «Swiss made quality».
Felix Rüesch, der CEO, ist ein Mann mit Schnurrbart und einer ansteckenden Begeisterung für Scheuersaugmaschinen, aber auch für das neuste Abenteuer von Cleanfix: «Als Nachahmer, als Letzter im globalen Wettbewerb, musst du nicht mehr nach China rennen. So kommst du nicht weiter. Also sagte ich: ‹Lass uns nach Indien gehen.›»
Das Interesse des Westens an der indischen Wirtschaft kommt in Wellen, und die jüngste hat auch mit Geopolitik zu tun. Mehrere Hersteller lösen sich gerade von der jahrelangen Abhängigkeit von China und suchen nach Alternativen. Es ist ein Grund, nach Indien zu kommen: die sogenannte China-plus-eins-Strategie. Prominentes Beispiel sind die iPhone-Hersteller Wistron und Foxconn, sie produzieren neu einen Teil der iPhones für den Weltmarkt in Indien.
Ein weiterer Grund: Indien hat China gerade als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholt. Zum indischen Wirtschaftsversprechen gehören die 1,4 Milliarden potenziellen Kunden im heimischen Markt.
2019 vermittelte ein Vertrauter dem Cleanfix-CEO Rüesch den Kontakt zu einem indischen Geschäftsmann: Sam Cherian, einem Hersteller von Reinigungsmitteln aus dem südindischen Mysore. Cherian kam nach Uzwil und offerierte Rüesch eine Zusammenarbeit.
Rüesch war bis dahin noch nie in Indien gewesen, er sagt, er sei nach dem Treffen mit Cherian sechs, sieben Mal nach Indien gereist. Er informierte sich über den Mann, der mit ihm ins Geschäft kommen wollte. Er war beeindruckt von dem, was er sah. Rüesch, der Firmenchef aus Uzwil, war in Indien der CEO aus der Schweiz – plötzlich öffneten sich Türen.
Cherian habe ihn sofort den Wichtigsten der Branche vorgestellt, den «Häuptlingen», wie Rüesch sie nennt. Manchmal ist man als Europäer erstaunt, wie scheinbar leicht man in Indiens Elite vorstösst, man sitzt bei einem Abendessen plötzlich neben einem Parlamentarier oder einem Multimillionär.
Cherian sagt am Telefon: «Es war einfach für Cleanfix, nach Indien zu kommen. Sie konnten einfach in den Markt hineinlaufen.» Cherian kümmerte sich um die Bürokratie und um die Lizenzen.

Nicht ohne lokalen Partner

Heute steht in Mysore die Cleanfix-Schevaran-Fabrik, sie ist ein Joint Venture. Dieses beschäftigt 38 Mitarbeiter. Cleanfix-Schevaran bietet einerseits Reinigungen für grosse Flächen an und lässt sich pro Quadratmeter zahlen.
Cleanfix will in Indien auch Reinigungsmaschinen produzieren und verkaufen. Das ist schwieriger: Viele Maschinenteile müssen importiert werden, die Firma zahlt hohe Importzölle – etwas, was die Regierung gerne verschweigt, wenn sie um Investoren wirbt. Zudem gilt Indien als preissensibel, sprich: Für den Käufer zählt, wie günstig ein Produkt ist, nicht unbedingt die Qualität.
Um in Indien erfolgreich zu sein, brauche es Zeit, sagt ein erfahrener Geschäftsmann, der andere Schweizer Unternehmen in Indien berät. Es brauche einen unglaublichen Ehrgeiz und jemanden, der sich leidenschaftlich um das Projekt kümmere; einen lokalen Partner oder einen Angestellten, der viel Zeit in Indien verbringe. Was man in Indien brauche, sei Fokus, sagt der Geschäftsmann. Man muss unterscheiden, was Schein ist und was echt.
Rüesch glaubt an das Indien-Abenteuer, er hat einen Fünfjahresplan. Er glaubt an das indische Versprechen. Rüesch spricht oft von den Menschen, die er in Indien trifft. Junge Menschen, die unbedingt lernen wollen. Cleanfix-Schevaran baut eine Art Fachhochschule auf, wo sie Facility-Manager ausbilden.
Die Hälfte der Inder ist unter 28 Jahre alt, die demografische Dividende Indiens: Millionen junger Männer – die Beschäftigungsquote der Frauen ist tief – drängen in den Arbeitsmarkt. Rüesch spricht auch von Nachhaltigkeit. Indiens Flüsse und Städte sind stark verschmutzt, und es gibt ein Bewusstsein auch bei vielen Wirtschaftsführern, dass es so nicht weitergehen kann.
Das Joint Venture Cleanfix-Schevaran soll wachsen: «Das Ziel ist, die Maschinen nicht nur in Indien mit importierten Teilen zusammenzubauen. Wir wollen in unserer Fabrik komplett auch für den indischen und den asiatischen Markt produzieren», sagt Rüesch.
Sein Geschäftspartner Cherian sagt, in den nächsten fünf Jahren wolle man erst Indien und dann Asien erobern.

Das BIP als Schlachtruf

Dieses Jahr soll die indische Wirtschaft um rund sechs Prozent wachsen, im vergangenen Jahr waren es fast neun, so die offiziellen Zahlen. Analytiker zweifeln – mehrere betonen, dass es schwer sei, das tatsächliche Wachstum zu beziffern: Die Wirtschaft wachse nicht, sie erhole sich nur nach den Pandemiejahren. Die Regierung allerdings hat Indiens Wachstum zu einer Glaubensfrage erhoben: Wer nicht an den Aufstieg glaubt, ist ein Miesmacher, ist gegen die Nation, ist gegen Modi. Das Bruttoinlandprodukt ist nicht mehr einfach ein Wert, sondern ein Schlachtruf: die 5-Billionen-Dollar-Wirtschaft.
Das Bruttoinlandprodukt verbirgt jene Zahlen, die den Optimismus bremsen könnten. Ein Bericht der Beratungsfirma Nielsen IQ zeigte, dass in den vergangenen Monaten der Konsum von Zahnpasta und Seife im ländlichen Indien abnahm. Laut dem unabhängigen Analytiker Hemindra Hazari stocken auch die Verkaufszahlen von günstigen Kleinwagen und Rollern – also Fahrzeugen, die sich jemand leistet, der in die Mittelklasse aufsteigt.
Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Hazari sagt, all dies seien Signale dafür, dass vor allem die Elite konsumiere, «ich sehe kein nachhaltiges Wachstum, nur einzelne Wirtschaftszweige, denen es gutgeht».
Nicholas Boehnlein liess sich einst selber vom Schein blenden. Der Schweizer kam vor drei Jahren nach Indien, im Gepäck eine App-Idee. Er liess sich in Gurgaon nieder, einer Satellitenstadt ausserhalb Delhis. Gurgaon erinnert etwas an Singapur: polierte Glasfassaden, durch die Strassen eilen junge Menschen mit Firmen-Badges von IBM und Siemens am Gürtel. Man kann für ein Abendessen mehr bezahlen als in einem Schweizer Restaurant.
Heute lebt Boehnlein in Old-Delhi, einem der lautesten, wildesten und ärmsten Teile der indischen Hauptstadt. «Hier sehe ich das echte Leben», sagt er. Vor einem Jahr zog er mit seiner Freundin in ihr Elternhaus, sie haben ein Zimmer auf dem Dach. Er ist kürzlich 30 geworden, sein Lachen hat noch immer etwas Bubenhaftes.
Die App ist Wirklichkeit geworden: Hey Oye ist ein soziales Netzwerk, aber nicht nur. Es gibt den Nutzern die Möglichkeit, ihre Daten zu kontrollieren. Statt dass zum Beispiel Standortdaten von den grossen Techfirmen abgegriffen werden, können die Hey-Oye-Nutzer ihre Daten für Kleinstbeträge selber verkaufen.
«Wir haben über die Jahre gemerkt: Um erfolgreich zu sein, müssen wir nahe zu den Leuten. Und zwar nicht zu jenen drei, vier Prozent der indischen Gesellschaft, denen es sehr gut geht», sagt Boehnlein. Die potenziellen Nutzer seiner App leben nicht in Gurgaon, nicht in Delhi oder Mumbai – es sind die Hunderte Millionen Menschen in den kleinen und mittelgrossen Städten Indiens.
Sie haben ein Smartphone und möchten mit ihren Daten zwei Franken im Monat verdienen. Boehnlein und sein indischer Geschäftspartner reisen jetzt durch Indien und versuchen lokale Influencer für die App zu begeistern.
Die App gewinnt an Bedeutung. 35 000 Nutzer hat sie laut Boehnlein. Im Silicon Valley gälte seine Idee längst als gescheitert: zu langsames Wachstum, zu wenig Einnahmen. Seine Eltern fragten ihn kürzlich, wie lange er mit der App noch weitermachen wolle. Dann besuchten sie ihn in Indien: «Sie haben begriffen, dass hier alles länger dauert.»

Die Sache mit den Einhörnern

Indien hat weltweit am drittmeisten Einhörner, also Startups, die mit über einer Milliarde Dollar bewertet werden. Es ist eine Zahl, die an Investorengipfeln gerne erwähnt wird; nur die USA und China haben mehr Einhörner. Die indischen sind meist Tech-Startups. Eine Vielzahl verglüht wieder. Westliche Investoren merken erst später, dass sich mit diesen Apps kaum Geld verdienen lässt, weil die meisten Nutzer zwar Internet haben, aber keine Rupie übrig für In-App-Käufe.
«Mich stört, wenn Indien in den Medien verherrlicht wird. Indien ist die Zukunft, das glaube ich auch. Aber lebst du einmal hier, wird dir klar: Nur ein paar Prozent leben so, wie in den Medien beschrieben», sagt Boehnlein. Die meisten Leute in Old Delhi kratzen Geld zusammen, um zu überleben. So geht es den allermeisten Menschen in Indien.
Wer über 280 Franken im Monat verdient, gehört laut dem «State of Inequality»-Bericht zu den bestbezahlten zehn Prozent im Land. Die Korruption im täglichen Leben ist hoch – «you pay, you play», nennt es Boehnlein. Oft fehlt es an einfachster Infrastruktur, in Boehnleins Wohnung fällt manchmal tagelang der Strom aus, oder die Nachbarn versuchen, seine Wasserpumpe zu klauen.
Dennoch ist Boehnlein überzeugt, dass er am richtigen Ort ist.
Es gibt ein schönes geflügeltes Wort in Hindi: Jugaad. Es heisst, ein Problem für den Moment zu lösen, etwas so zu reparieren, dass es erst einmal hält – wie lange, ist nicht wichtig. Jugaad ist auch eine Art, die Geschäftswelt zu verstehen: Dinge müssen nicht perfekt sein, es gibt viele Wege zum Ziel, einfach einmal etwas versuchen. «Ich glaube, Jugaad wird die Innovation in Indien befeuern», sagt Boehnlein.
Es mangelt nicht an Unternehmertum in Indien, auch nicht an Ehrgeiz, man sieht es an jeder Strassenecke in Delhi: Vergessen von den ganz grossen Wirtschaftsplänen der Regierung, wächst ein Samosa-Stand zum Restaurant, und ein fliegender Händler verkauft seine Smartphone-Hüllen plötzlich im eigenen Laden.
Indiens Wirtschaft ist ein Versprechen. Aber vielleicht anders, als es sich die meisten vorstellen.