Schalterschluss
von Nils Heck (geb. Wischmeyer)
Süddeutsche Zeitung vom 19.08.2022
Zwischen spezialisierten Groß- und digitalen Neobanken muss Thomas Jakoby ein neues Geschäftsmodell für die angestaubte Volksbank Münsterland etablieren: Statt von der Zinsdifferenz zu leben, will die Bank durch Fusionen ihr Beratungsangebot vergrößern und ausdifferenzieren. Dazu sollen flexible, digitale Arbeitsstrukturen geschaffen werden, Teilautomatisierung soll Personalkapazitäten für Beratung frei machen.
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Schalterschluss
Thomas Jakoby zeigt sich blendend gelaunt an diesem Morgen. Er ist Banker, silberne, randlose Brille, seine kurzen Haare hat er nach oben geföhnt. Jetzt setzt er sich auf einen der Stühle im holzvertäfelten Konferenzraum. Lässig legt er einen Arm über den Stuhl daneben, schon plaudert er los. Wenn er „Champion“ sagt, klingt das wie „Schämpien“. Während er gestikuliert, strafft sich das blau karierte Sakko ein wenig.
Jakoby ist Rheinländer, herzlich und jederzeit zu einem Plausch bereit. Doch er wirkt auch wie ein Macher. Aber gegenwärtig ist er wohl eher eine Art Chirurg.
Thomas Jakoby muss operieren, und das möglichst präzise und schnell. Schließlich geht es hier um ein Herz, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne. Aber wie immer, wenn es um Herzen geht, gilt auch hier: Der Eingriff ist heikel. Jakoby weiß das. Aber viel riskanter wäre, gar nichts zu tun. Also hat er vor einigen Monaten den ersten Schnitt gesetzt und angefangen, dieses nicht mehr ganz gesunde Herz zu operieren.
Thomas Jakoby ist Vorstand der Volksbank Münsterland Nord, und das Herz, mit dem er es zu tun hat, sind die Abläufe und Prozesse in seinem Geldhaus, vor allem aber das Geschäftsmodell. Alles muss möglichst rasch so zusammenpassen, dass dieses Herz auch künftig noch Blut durch die Adern der Bank pumpen kann.
Man könnte die Aufgabe auch so beschreiben: Jakoby hat zwei Söhne, der eine ist 28, der andere 31, aber würden die beiden heute noch freiwillig ein Konto bei der Volksbank Münsterland Nord eröffnen? Es geht also darum, ob das Institut – von der Schalterhalle mit dem goldfarbenen „V“ für „Volksbank“ bis hin zu den kleinen Zweigstellen im Münsterland – eine Zukunft hat. Dabei genießen die regionalen Volksbanken, schon weil sie auch in Dörfern und kleineren Städten die Bargeldversorgung sicherstellen, eigentlich viel mehr Sympathien als die kühlen, vorwiegend auf Profit bedachten Großbanken.
Doch das mit dem stabilen Blutkreislauf ist längst nicht mehr so einfach für die Volksbank Münsterland Nord. Sie ist eingequetscht zwischen sogenannten Neobanken, die viel digitaler sind, und Großbanken, die viel größer und spezialisierter sind. Dazu kommt der eigene Anspruch, auch vor Ort und für jeden in der Region präsent zu sein. Das kann schon Beklemmungen auslösen.
Und sowieso haben alle Banken seit Jahren ein gravierendes Problem. Eigentlich nehmen sie Geld von Kunden und verleihen es als Kredit. Und dann, so war es jedenfalls früher, leben sie von der Differenz zwischen den Zinsen, die ihre Sparer bekommen, und den deutlich höheren Zinsen, die Kreditnehmer zahlen müssen. Doch diese „Zinsspanne“ sank bei allen Genossenschaftsbanken seit 2015 um 33 Prozent, bei der Volksbank Münsterland Nord seit 2018 immerhin um 25 Prozent. Zwar haben die Zentralbanken inzwischen eine Zinswende eingeleitet, aber es dürfte noch eine ganze Weile dauern, bis wieder eine Normalisierung einkehrt.
Und jetzt? Jakoby ist klar: Verändert sich seine Bank nicht, droht langfristig der Tod ihres Geschäftsmodells. Doch verändert sie sich zu schnell, droht Chaos. Also muss alles gleichzeitig anders werden und doch irgendwie stabil bleiben. Wie bei einer Herz-OP, bei der Jakoby spontan entscheiden muss, ob ein Stent reicht, oder ob ein Herzschrittmacher nötig ist oder sogar noch mehr.
Thomas Jakoby will mit seiner Bank so etwas wie der Prototyp für den Wandel sein: Früh angefangen, klarer Plan, erste erfolgreiche Schritte hinter sich. Auch wenn das beim Betreten der Bankzentrale eher nicht gleich ins Auge springt.
Das große Foyer der Volksbank Münsterland Nord eG, wie sie korrekt heißt, führt zu den klassischen Schaltern, dahinter eine kreisrunde Halle mit gläsernen Beratungskästen. Alles erscheint ein wenig düster, die Glaskästen für die Beratung wirken verlassen, der Geruch von Reinigungsmittel liegt in der Luft, fast wie im Krankenhaus. Ein Aufzug führt in den dritten Stock, zur Vorstandsetage. Hier gibt es statt Steinfußboden Holz und Teppich, statt Glaskästen große Einzelbüros. Hinter den mehrfach verglasten Fenstern dringt kein Laut von der Straße herauf, und es wirkt, als gäbe es das Gewusel draußen und den Wandel nicht. Kaffeeduft zieht durch die Gänge, als Jakoby in den holzvertäfelten Konferenzraum bittet, an der Wand ein riesiger Bildschirm für Videokonferenzen.
>> Er wedelt mit dem iPhone herum und zählt auf, was früher undenkbar war <<
Die Fakten sind eindrucksvoll: Gab es 1970 noch über 7000 Genossenschaftsbanken, so waren es 2021 nur noch ganze 772. Und auch die Zahl der Bankstellen schrumpfte von mehr als 18 000 auf zuletzt kaum mehr als 8000. Allein unter den Genossenschaftsbanken zählte die Bundesbank 45 Fusionen. Für Heinz-Gerd Stickling, Partner im Beratungshaus Zeb, ist das eine logische Entwicklung, denn Fusionen könnten helfen, die „Kosten zu senken und dauerhaft auf niedrigem Niveau zu stabilisieren“, so der Bankenexperte. Und dann sind da noch die klassischen Größeneffekte, sagt Banker Jakoby: „Als kleinere Volksbank hat man keine wirkliche Chance, die Zukunft zu gestalten.“ Es fehle ausreichend Personal für Digitalisierung und Innovation, und wer klein sei, könne keine großartigen Beratungsleistungen anbieten.
Immerhin: Platz 23, so weit nach oben ist die Volksbank Münsterland Nord in der langen Liste der größten Volksbanken Deutschlands dank diverser Fusionen bereits gekraxelt. 2014 kam der erste Zusammenschluss, dann 2020 eine Dreierfusion, wodurch die Bilanzsumme auf 7,1 Milliarden Euro wuchs. Bald könnte der nächste Deal folgen, diesmal sprechen sie mit der Volksbank Warendorf. Klappt die Fusion, wäre die künftige Volksbank Münsterland Nord die größte in Nordrhein-Westfalen. Das bedeutet mehr Budget und vor allem mehr Menschen, die Kunden zugeschnitten auf deren Bedürfnisse beraten können. So soll das Geld reinkommen, das die Zinsen nicht mehr hergeben. Deswegen hat die Volksbank beispielsweise eine Beratung für Landwirte und angestellte Agraringenieure eingerichtet. Oder eine Vermögensverwaltung für Reiche. Diese Angebote seien es, sagt Jakoby, die das Geld bringen, was an anderer Stelle fehle. Ohne solche Dienste sei man nur eine von vielen Banken.
Plötzlich nimmt Jakoby die Hand vom Stuhl und greift nach dem iPhone, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Er wedelt damit herum und zählt auf, was früher undenkbar war. Die Bankkarte: im Smartphone. Das Konto: im Smartphone. Die Versicherung: im Smartphone. Und die Aktien: ebenfalls im Smartphone. „Alles austauschbar, das kann heute jede Bank“, sagt er. „Egal, ob so ein hipper Schuppen in Berlin oder wir, da macht der Kunde keinen Unterschied. Wir müssen uns deshalb durch besondere Beratungsleistungen abgrenzen.“ Jede einzelne davon spreche zwar nur wenige Kunden an, die Vermögensverwaltung etwa lediglich zwei Prozent. Doch sie bringt Geld, das Jakoby dringend braucht. Denn sein traditionelles Kerngeschäft bröckelt, gleichzeitig aber bleiben die Kosten hoch. Besonders die Filialen sind teuer, obwohl immer weniger Kunden dorthin kommen.
Für jeden Euro, der in der Filiale verdient wird, muss Jakoby derzeit rechnerisch 1,07 Euro investieren, ein Verlustgeschäft, das so nicht bleiben kann. 850 Vollzeitstellen gibt es bei der Bank zurzeit, langfristig sollen es 700 sein. Dabei hat die Volksbank eigentlich einen Vorteil: Sie muss und will keine gigantischen Gewinnmargen einfahren, wie es von Großbanken oder Start-ups erwartet wird. Sie muss nur so viel verdienen, dass sie weiterhin ihre Aufgabe als Anlaufstelle für Menschen erfüllen kann.
Nur: Um sich in einer Bankenwelt zu behaupten, die sich nicht mehr an Schaltern abspielt, sondern auf Smartphones, reicht es nicht aus, bloß die Kosten zu senken. Neobanken wie N26 mit schicken Büros in Berlin, in denen mehr Programmierer als Banker arbeiten, haben das in den vergangenen Jahren radikal vorgemacht. Das Bankgeschäft von heute spielt sich nur noch auf kleinen Displays ab: Entsperren des Smartphones, klick, Überweisung, wisch, klick, noch schnell in die Kamera lächeln, damit das iPhone den Kontoinhaber erkennt, und fertig.
Jakoby weiß: Wenn er nicht bei der Volksbank arbeiten würde, dann hätten seine eigenen Söhne ihre Konten längst bei einem Start-up wie N26. Und dann sind da auch noch die Großbanken, die viel mehr Geld in Apps und Start-ups stecken können als eine Volksbank.
Doch die neue Größe durch Fusionen, so Jakobys Plan, wird das ändern. Denn mit Größe kommt Personal, kommt Budget. Und plötzlich geht es nicht mehr nur um Kosten senken, sondern um Wachstum, um neue Apps und Möglichkeiten. Um das zu erreichen, hat Jakoby in den vergangenen Monaten eine Mannschaft zusammengestellt: zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eine davon ist Carina Beckmann, die, wie sie selbst sagt, jeden Schnellsprechwettbewerb gewinnen könnte. Sie ist bei der Volksbank zuständig für Digitalisierung und sagt: „Wenn wir heute das Tagesgeschäft hinbekommen, aber nicht an die Zukunft denken, überleben wir heute, aber stehen morgen schon wieder unter Druck.“
Wer der Frau mit dem weißen Rollkragenpullover und der lachsfarbenen Stoffjacke zuhört, hört viel über die neue Bankenwelt, über „Agilität“ und „Sprints“. An Tatendrang fehlt es Beckmann jedenfalls nicht, und zu tun gibt es so einiges. Bisher, erklärt sie, waren es die Hierarchien, die es möglich machten, dass die Bank überhaupt funktioniert: dass morgens einer aufschließt und dass nicht plötzlich irgendwann Geld fehlt. Hierarchien machten eine Bank aber auch starr. Das, sagt Beckmann, sei schlecht für Innovationen. In der Bank soll es deshalb bald offene Büros statt Einzelzimmerchen geben. Und, ach ja: Längst reden sie sich hier untereinander mit „Du“ statt „Sie“ an.
Mit einem Selbsttest hat Beckmanns Team vor mehr als zwölf Monaten begonnen, zum Beispiel mit Fragen wie dieser: Für wie digital hält sich die Bank, auf einer Skala zwischen 1 und 5? Ergebnis: 2,6. Nun ja, da ist noch Luft nach oben. Fünf Arbeitsgruppen haben sich daraufhin Projekte vorgenommen, beispielsweise den Aufbau einer digitalen Poststelle, die Einführung der E-Signatur oder des neuen Online-Bankings. Sieben Personen sind das im Schnitt pro Team, jede und jeder arbeitet etwa einen Tag in der Woche in der neuen Struktur mit kleinen Projektgruppen und ohne direkte Chefs; die anderen Tage in der alten, starren Struktur der Bank. Einfach ist das oft nicht. Wenn Vorgesetzte kein Verständnis haben, schütten sie die Mitarbeiter mit Arbeit zu und finden eine Ausrede, warum gerade die Arbeit unter ihrer Führung wichtiger sei. Dann muss Beckmann eingreifen.
Viel vermitteln, viel erklären, das ist die Aufgabe der Chefs beim Wandel und natürlich auch bei all den Fusionen. „Die Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter an die Hand nehmen“, sagt Zeb-Experte Robert Seibert. Menschen, so erklärt er, müssten den Wandel auch verstehen. Die Botschaft müsse lauten: Wir wollen euch Arbeit abnehmen, sie euch nicht wegnehmen. Wir wollen Kosten senken, damit es eure Jobs noch geben kann. Wir wollen digitalisieren, um zu überleben.
>> Jede noch so kleine Veränderung stiftet erst einmal Verwirrung bei den Kunden <<
Und was hat sich bisher schon verändert? Beispiel Roboter: Zwei davon setzt die Volksbank mittlerweile ein. Einer liest die Post digital und verschickt sie zwischen den Filialen im Münsterland. Klingt simpel, macht aber einen großen Unterschied. Bisher kam die Post zentral an, musste sortiert und dann quer durchs Münsterland gekarrt werden. Kostet Zeit, kostet Geld, macht keinen Spaß, also automatisieren. Ähnlich funktioniert der Pfändungsroboter. Die Briefe für eine Pfändung bekommt die Bank, wenn sie beispielsweise ein Konto einfrieren soll. Bis vor Kurzem sortierten Mitarbeiter die von Hand und gaben Informationen dazu per IT-Maske ein: Name, Geburtsdatum, Kontonummer und so weiter. 30 Minuten dauerte das je Pfändung, und davon gibt es bei der Volksbank im Jahr 60 000. Das neue Programm drückt die Zeit auf zehn Minuten. Das spart Zeit, Personal, Arbeit.
Zeit, Personal, Arbeit, die sie wiederum in andere Projekte stecken können. Beispiel Online-Banking: Das haben sie bei den Volksbanken vor einigen Monaten komplett umgestellt. Zunächst stiftet das immer erst Verwirrung bei den Kunden. Gerade Menschen, die nicht so vertraut sind mit dem Online-Banking, können leicht verzweifeln, wenn sie den Schalter für Überweisungen oder Nachrichten suchen.
Früher, ja früher hätten sie in solchen Fällen bei der Volksbank den Kunden einfach einen Brief geschickt: Alles neu, alles toll, viel Spaß damit. Flapsig ausgedrückt: Soll doch jeder selber sehen, wie er damit klarkommt!
Doch diesmal boten sie stattdessen Workshops an: Mitarbeiter zeigten den Kunden, wie das Online-Banking funktioniert – ähnlich wie im Apple-Store, wo die Mitarbeiter sogar Kurse anbieten für den Umgang mit Smartphone oder Laptop.
Ist das nicht ein simples Angebot, das mit geringem Aufwand zu stemmen ist? Das Ergebnis überraschte die Volksbanker. In wenigen Tagen waren sie ausgebucht, die Nachfrage war viel größer als das Angebot. Auch das gehört zum Wandel: die Dinge mal etwas anders machen als früher. Sogar in einer Volksbank.