Lange Leitung
von Jan Schmidbauer
Süddeutsche Zeitung vom 29.04.2023
Am Beispiel der infrastrukturell bedeutenden Nord-Süd-Stromtrasse Südlink schildert der Artikel, wie die Energiewende in Deutschland durch Bürgerproteste, "not in my backyard"-Mentalität und Lokalpolitik verschleppt wird. Versorgungssicherheit und Solidarität stehen gegen das Misstrauen vor Politik und Konzernen.
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Lange Leitung
Manchmal reichen ein paar Stunden, um den Gesamtzustand Deutschlands zu beschreiben. Der 15. Januar 2023, ein Sonntag, im Süden nur Wolken und Regen. Im Norden so starke Böen, dass die Windräder am frühen Abend fast so viel Strom produzieren konnten, wie das ganze Land braucht. In Süddeutschland hätten sie ihn gerne genommen, sogar die Schweizer und Österreicher wollten den günstigen Strom. Ging aber nicht.
In Baden-Württemberg ließ der Netzbetreiber Transnet BW also Kohlekraftwerke hochfahren, fragte die Schweizer nach zusätzlicher Kraftwerksleistung und bat die Stromkunden per App, zwischen 17 und 19 Uhr bitte keine Waschmaschine anzustellen.
Und im Norden drosselten sie die Windräder.
Solche Tage gibt es immer wieder in Deutschland, kriegt nur kaum einer mit. Dann produziert der Norden so viel Strom, dass sie gar nicht wissen, wohin damit. Und im Süden, wo sie ihn haben wollen, kommt er nicht an. Eigentlich sollte dieses Problem längst gelöst sein. Wenn die Bürokratie nicht wäre, die Zauneidechse in Bad Sooden-Allendorf, der wütende Heiko Ißleib in Marksuhl. Und, na ja, Bayern.
Ein Mittwoch im Februar: Der Netzbetreiber Tennet hat die Presse nach Wilster eingeladen. Am Horizont drehen sich ein paar Windräder. Davor ein Feld, 270 Meter lang, 200 Meter breit. Pünktlich zum Atomausstieg sollten hier die ersten Meter von Südlink liegen, einer Stromtrasse, die als künftige Hauptschlagader der deutschen Energiewende gilt. Bislang liegen auf dieser Baustelle aber nur 126 000 Tonnen Sand herum. Die Wüste von Wilster.
Hier soll diese Reise also beginnen. Eine Reise von Wilster in Schleswig-Holstein nach Bergrheinfeld in Bayern. Zwei Orte, die mit einer 538 Kilometer langen Stromleitung verbunden werden sollen. Mittlerweile heißt es, 2028 könnte es so weit sein. Dann sollen vier dicke Kupferkabel unter der Erde liegen und die Energie mit einer konstanten Spannung von 525 000 Volt durchs Land transportieren. Gar nicht konstant ist allerdings die gesellschaftliche Spannung auf dieser Strecke: Je südlicher man kommt, desto geladener sind die Menschen. Am Ende dieser Reise wird man in einem Ort ankommen, in dem Bürger wegen dieser Stromtrasse vor Gericht ziehen. Wo sie gelbe Warnschilder in die Felder gerammt haben: Betreten verboten! Also lieber erst mal zurück in den Norden.
Auch Tim Meyerjürgens ist nach Wilster gekommen, der Deutschlandchef von Tennet, einem niederländischen Staatskonzern. Wenigstens auf der anderen Seite der Landstraße kann er ja was zeigen. Da stehen zwei grüne Hallen. Und durch eine davon läuft er jetzt mit seinen Besuchern.
Meyerjürgens, 47, hat einen Helm aufgesetzt und eine textmarkergrüne Jacke angezogen. Er steht vor einem Gewirr aus Metallstangen, Isolatoren und Kabeln. Das wichtigste Kabel ist schwarz und nicht viel dicker als ein Unterarm. Kann aber so viel Strom transportieren, wie ein großes Kernkraftwerk erzeugt, sagt er. Seit zwei Jahren verbindet dieses Kabel mehrere Wasserkraftwerke in Norwegen mit dieser Halle in Schleswig-Holstein. Wenn in Norddeutschland zu wenig Wind weht, kann das Kabel den Strom aus Norwegen hierherbringen. Wenn die norddeutschen Windräder mehr Energie produzieren, als hier verbraucht wird, läuft die Sache andersrum. Nennt sich Nordlink.
In fünf Jahren soll dort, wo der Sand liegt, ein ähnliches Gebäude stehen. Der Startpunkt von Südlink. Dann soll der Strom weiterfließen nach Bayern, und auf einer zweiten Route nach Baden-Württemberg. Dahin, wo er gebraucht wird. Und theoretisch auch zurück. Wird nur seltener vorkommen.
„Eine Energiewende ohne Südlink wäre keine Energiewende“, sagt Klaus Müller, der Chef der Bundesnetzagentur.
„Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird stark von großen Netzausbauprojekten wie Südlink abhängen“, sagt der Chef von Tennet.
„Der Staat versucht, seine Bürger zu verarschen“, sagt der Vertreter einer Bürgerinitiative in Bayern.
Die Atomkatastrophe von Fukushima war gerade mal ein Jahr her, da erklärten die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber, was passieren muss, wenn Deutschland aus der Kernenergie aus- und in die Erneuerbaren einsteigt. 149 Seiten lang war ihr Bericht, und die entscheidenden Sätze standen am Schluss: „Bundesweit ergibt sich ein erheblicher Entwicklungsbedarf. Der Schwerpunkt sind leistungsstarke Nord-Süd-Verbindungen.“ Gemeint waren Stromtrassen, die die Energie Hunderte Kilometer weit transportieren, sogenannte Hochspannungs-Gleichstrom-Verbindungen.
Das war 2012. Und an der Diagnose der Netzbetreiber hat sich nichts geändert. Stromtrassen wie Südlink werden dringend gebraucht, sagen sie. Die zuständige Bundesnetzagentur sagt das auch. Tage wie der 15. Januar sind zwar nicht gefährlich, es drohte kein Blackout. Aber wenn Kohlekraftwerke im Süden hochgefahren und Windräder im Norden gedrosselt werden müssen, entsteht mehr Kohlendioxid als nötig. Und es entstehen Kosten. 2,2 Milliarden Euro mussten die Stromkunden allein im ersten Halbjahr 2022 für die Eingriffe ins Netz zahlen.
Die geplanten Stromautobahnen, zu denen neben Südlink auch Südostlink oder Ultranet gehören, sollen das ändern. Aber Vorsicht: Beim Wort Autobahn fängt aus Sicht der Gegner schon die Verarsche an. Südlink wird den Strom ohne Zwischenhalte von Nord nach Süd transportieren, weil dann weniger Energie verloren geht. Abfahrten in Hessen oder Thüringen gibt es nicht. Und dann ist da noch die Sache mit dem Stromhandel. Die neuen Trassen werden auch gebaut, damit der Strom innerhalb Europas besser fließen kann. So wie jetzt schon zwischen Schleswig-Holstein und Norwegen. Davon profitieren die Stromkunden, heißt es bei der Bundesnetzagentur. Die Trassengegner sagen, dass davon nur einer etwas hat: die Energiewirtschaft.
Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, ist der Widerstand gegen Südlink leiser geworden, heißt es bei Tennet. Es gebe weniger Diskussionen, weniger Bürgerinitiativen. Verschwunden ist der Widerstand aber nicht. Das wird später noch zu spüren sein. Man wird Leute treffen, die von „Monstertrassen“ reden, von „Lobbyismus“ und „Propaganda“. An der Elbe hört man so was nicht. Hier kreischen nur die Möwen.
Tennet baut Südlink gemeinsam mit dem Netzbetreiber Transnet BW aus Stuttgart. Bevor sie anfangen können, müssen sie aber noch auf die, Vorsicht Verwaltungsdeutsch, Planfeststellungsbeschlüsse warten. Die Genehmigungen für alle Abschnitte, in die Südlink unterteilt wurde. Losgehen soll es deshalb erst 2024. In Wewelsfleth an der Elbe hat die Bundesnetzagentur eine Ausnahme gemacht. Hier darf Tennet erste Arbeiten erledigen lassen. Jetzt, wo das Klima zu kippen droht und Deutschland unabhängig von Putin werden muss, darf’s ruhig ein bisschen schneller gehen. Die Kabel sollen die Elbe in einer fünf Kilometer langen Röhre unterqueren. Bis 2028 soll gebuddelt werden. Der Kassierer auf der Elbfähre Glückstadt-Wischhafen nimmt’s gelassen. Südlink? Kein Problem, sagt er. „Unser einziges Problem ist der Schlick.“
Knapp 60 Kilometer südlich der Elbe, in der niedersächsischen Gemeinde Anderlingen, wartet Friedhelm Brunckhorst schon am Feuerwehrhaus. Im Hauptberuf kümmert er sich um 1800 Ferkel. Im Nebenjob ist der 50-Jährige Bürgermeister, ehrenamtlich. Sehr ländlich, diese Gegend. Der Bürgermeister und Ferkelzüchter Friedhelm Brunckhorst sagt: „Wer kein Plattdeutsch kann, hat’s schwierig hier.“
Er fährt mit seinem Diesel-Golf durch die Gemeinde, vorbei an Maisfeldern, Biogasanlagen und Wiesen voller Zugvögel. „Kraniche, jo. Das sind noch wenig.“ Dann bleibt er stehen, mitten auf der Landstraße. Nicht für einen Kranich, sondern für die Trasse. Friedhelm Brunckhorst schaut aus dem Autofenster, der Diesel nagelt vor sich hin. Er sagt: „Die kommt hier links vom Acker runter, geht hier einmal unter der Straße drunter, geht hier wieder auf den Acker und läuft dann, so ganz grob, zu dem Schuppen dahinten.“
Dann fährt er weiter, vorbei an Wäldern und Feldern. „Was willst du hier groß für Einwände haben?“, sagt er. Gut, da drüben bei dem Waldstück hatten Archäologen wohl Bedenken wegen einer alten Grabstätte. „Weil da vor Tausenden Jahren mal irgendwelche verbuddelt worden sind“, sagt Brunckhorst. Ach ja, und der Kfz-Prüfer, der dicht dran wohnt am geplanten Verlauf der Trasse, war auch nicht begeistert. Was der Kfz-Prüfer bestätigt: „Wir haben so’n bisschen rumgemoppert.“ Das war’s aber auch.
In Anderlingen stehen keine Protestschilder, es gibt keine Bürgerinitiative, und es ist auch keiner der 900 Einwohner auf die Suche nach Feldhamstern oder Gelbbauchunken gegangen, jedenfalls hat der Bürgermeister keinen erwischt. Sie haben Tennet sogar Tipps gegeben. Zum Beispiel, welche Wege die Bauarbeiter meiden sollten, wenn sie mit ihren tonnenschweren Kabeltrommeln nicht einsinken wollen in den Moorlandschaften von Anderlingen.
Friedhelm Brunckhorst hat sein Auto wieder am Feuerwehrhaus geparkt. Eines will er noch loswerden. „Ihr im Süden habt doch mittlerweile Angst, dass die Industrie weggeht“, sagt er. „Sollen Mercedes und BMW doch hier oben ein Werk bauen. Ich glaub, wir könnten damit klarkommen.“
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder beschwert sich ja oft, wie viel sein Bundesland an die anderen zahlen muss, Stichwort Länderfinanzausgleich. Einen Länderelektrizitätsausgleich gibt es bis jetzt nicht. Aber würde es ihn geben, wäre die Fließrichtung eine andere. Dann würden Nord- und Ostdeutschland die Hauptlast tragen, weil es dort mehr Windräder gibt, also auch günstigeren Strom. An den Energiemärkten spielt das bislang keine Rolle: Im Süden kostet der Strom genauso viel wie im Norden. Die EU-Kommission will Deutschland deshalb schon lange in mehrere Preiszonen aufspalten. Würde bedeuten: Im Süden, wo BMW seine Autos baut und Wacker seine Chemikalien produziert, wird der Strom deutlich teurer. Deutschland konnte das immer mit dem Argument verhindern, dass sich das Problem durch die neuen Stromtrassen von selbst erledigt.
Bayern müsste also ein riesiges Interesse daran haben, dass sie kommen. Theoretisch. Praktisch aber haben viele Bürger in Bayern und nicht zuletzt die CSU diese Stromtrassen immer am lautesten bekämpft. Die CSU, der es damals gar nicht schnell genug gehen konnte mit dem Atomausstieg.
Im April 2011, vier Wochen nach Fukushima, gab Horst Seehofer [dem Medium] ein Interview. „Die Energiewende muss sitzen. Sie muss jetzt kommen, nicht irgendwann in ein paar Jahren“, sagte er. Es klang fast, als würde der Ministerpräsident gleich in eine Arbeitshose schlüpfen und den Freistaat höchstpersönlich mit Erneuerbaren zupflastern. Mehr als die Hälfte des bayerischen Stroms kam aus der Kernkraft. Und Seehofer wollte bis 2022 raus aus dieser Technologie, genau wie sein damaliger Umweltminister Markus Söder, der damals auffallend oft zur grünen Krawatte griff. Seehofer verkniff sich bei einer siebenstündigen CSU-Vorstandssitzung im Kloster Andechs sogar den Gang aufs Klo, damit nur keiner gegen den Atomausstieg stimmt. Mit Erfolg. Der Atomausstieg kam, im Juni stimmte auch der Bundestag dafür. Und klar war, dass die entstehende Lücke nicht nur mit Gaskraftwerken, sondern auch mit neuen Stromleitungen gestopft werden muss.
Drei Jahre nach Fukushima, im April 2014, lief Seehofer dann durch das bayerische Dorf Bergen bei Ingolstadt, wo die Menschen schon auf ihn warteten, mit Plakaten in der Hand und Wut im Bauch. In Berlin kämpfte SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel für neue Stromtrassen mit bis zu 75 Meter hohen Masten. In Bergen kämpften sie dagegen. Und Seehofer sagte: „Wir wären von allen guten Geistern verlassen, wenn wir diese wunderschöne Landschaft beschädigen oder zerstören würden.“ Atomausstieg ja, Stromtrassen nein.
Es gab damals überall Widerstand gegen den geplanten Ausbau der Netze, auch im Norden. Wer will schon neben Strommasten wohnen? Aber es war Seehofer, der sich 2015 durchsetzte. In Berlin entschied die große Koalition, den Südlink und die ähnlich große Trasse Südostlink, die von Sachsen-Anhalt nach Bayern laufen soll, unterirdisch zu verlegen, als Erdkabel. Schon damals war klar, dass das mindestens drei Mal so teuer wird, von zehn Milliarden Euro ist mittlerweile die Rede. Es war klar, dass drei Jahre Planung umsonst waren. Dass Erdkabel viel schwerer zu reparieren sein werden, weil sie nun mal unter der Erde liegen. Und doch versprach man sich etwas von dieser Lösung: Ruhe.
Der Chef der Bundesnetzagentur sagt: „Es gab ja die große Hoffnung, dass das zur Befriedung beitragen würde. Ich glaube, dass der Beweis zu dieser These immer noch aussteht.“
Der Chef von Tennet sagt: „Wir haben von Anfang an drauf hingewiesen, dass wir das nicht für beschleunigend halten.“
Wer dem geplanten Verlauf von Südlink folgt, der lernt nicht nur, wie unterschiedlich die Menschen in diesem Land sind, sondern auch: die Erde darunter. Südlink wird nicht unter Häusern und Wohnungen verlegt, sondern hauptsächlich unter landwirtschaftlichen Böden. In Anderlingen sind sie sandig, hier wächst nicht viel außer Mais. 156 Autokilometer südlich, in Ditterke bei Hannover, sieht das anders aus.
„Das ist hier eines der vielen fruchtbaren Gebiete, die wir in Europa haben“, sagt Steffen Mogwitz. Es ist Donnerstag. Er sitzt in seinem schwarzen Volvo-SUV und biegt auf einen Feldweg ab. Mogwitz ist 64 und der Geschäftsführer von Progranus, einem Familienbetrieb, der hier 1300 Hektar Land bewirtschaftet. Und was für eins. „Lössboden“, sagt er. Hält das Wasser länger als die sandigen Böden in Anderlingen, ist aber auch nicht so gierig wie ein Tonboden, der es gar nicht wieder hergibt. Ideal also.
Dass Tennet eine Schneise durch diesen Boden graben will, ist für Steffen Mogwitz „eine Megakatastrophe“. Draußen fängt es an zu regnen, aber er hat Allrad, spricht also nichts gegen eine Tour durch den Schlamm. Mogwitz schaut raus aufs Feld. „Sie sehen, hier ist alles gleichmäßig grün. Das wäre dann nicht mehr so.“ Das ist jedenfalls seine Sorge.
Bei Tennet sagen sie, dass mit der Entscheidung für das Erdkabel der Protest nur verschoben wurde. Von den Bürgern zu den Bauern.
Unter den Feldern von Steffen Mogwitz werden nicht nur vier Kabel liegen, die rein rechnerisch so viel Strom transportieren können, wie drei bis vier Kernkraftwerke produzieren. Unter seinen Feldern wird es auch wärmer. Auf bis zu 50 Grad sollen sich die Kabel erhitzen können, sagt Mogwitz, auch wenn sie bei Tennet sagen, dass es in der Praxis eher weniger ist und Gasleitungen mehr Wärme abstrahlen. Sicher ist aber, dass sein Acker umgegraben wird. 40 bis 45 Meter breit ist der sogenannte Arbeitsstreifen, der für die Verlegung der Kabel nötig ist. „Das heißt, Sie haben eine ganz andere Wasserführung hier in diesem Boden.“ Muss er ja immer wieder erklären. Dass so ein Acker ein empfindliches System ist. Dass hier Drainagen drinliegen, die wichtig für die Wasserführung sind. Kapieren vor allem die Städter nicht, sagt er. Die Leute, die so gerne die Grünen wählen.
Wenn in Deutschland ein Stromkabel vergraben wird, dann kommen nicht nur viele Kubikmeter Erde hoch, sondern auch die großen gesellschaftlichen Konflikte. Stadt gegen Land. Nord gegen Süd. Ost gegen West. Naturschutz gegen Klimaschutz. In Bayern hat ein Bauer mal einen Biologen vom Feld gejagt, sagen sie bei Tennet. „Schleich di oder i schiaß.“ Auch in Thüringen wurden immer wieder sogenannte Betretungsverbote ausgesprochen.
Steffen Mogwitz lässt die Arbeiter, die hier schon Probebohrungen machen, in Ruhe. Aber auch er hat seine Probleme mit Südlink. Mogwitz macht sich Sorgen, vor allem um seine Kartoffeln, mit denen er eine Fast-Food-Kette beliefert. Innovator heißt die Sorte, ideal für Pommes, sehr helles Fruchtfleisch. „Das finden die Deutschen gut.“
Die Kartoffel ist nur sehr empfindlich. „Eine Mimose“, sagt er. Und seine Angst ist, dass die Kartoffeln krank werden könnten. Dort, wo das warme Kabel läuft. Und später überall. Er schaut auf den Acker. „Nehmen wir an, hier wäre diagonal das Kabel durch und sie würden ein infektiöses Milieu haben, dann würde diese Kartoffel ihnen die ganze Partie des Feldes versauen, wenn sie die ins Lager tun.“ Weil unter seinen Ledersitzen mittlerweile auch eine südlinkartige Hitzeentwicklung spürbar ist, sucht Steffen Mogwitz jetzt nach dem Schalter für die Sitzheizung. Gefunden. Wenn’s so eine Taste bloß für die Trasse gäbe.
Wobei: Er will sie ja nicht stoppen. Er will nur dafür sorgen, dass sie entlang der Feldwege verlegt wird und nicht quer über den Acker. Damit die Temperatur und die Feuchtigkeit in seinem Acker gleichmäßig sind und die Kartoffeln sich gleich entwickeln. Noch ist das möglich, weil vor dem Abschluss des Planfeststellungsverfahrens nur ein 1000 Meter breiter Korridor feststeht. Also versucht er, das Schlimmste zu verhindern. Die Kommunikation laufe bislang gut, sagt er. Und trotzdem versteht er nicht, warum der ganze Ärger überhaupt sein muss. Warum man nicht einfach ein paar Masten aufstellt. Wie früher.
Die meisten Bauern haben für den Eingriff in ihre Äcker eine dauerhafte Pacht gefordert. Jetzt gibt es nur eine einmalige Entschädigung, die von vielen Faktoren abhängt, zum Beispiel von der Fruchtbarkeit des Bodens. Die Beispielrechnung von Tennet passt jedenfalls nicht auf einen Bierdeckel, sie füllt eine ganze Powerpoint-Präsentation. Der Konzern kommt auf gut 20 000 Euro für einen 100 Meter langen Abschnitt. Steffen Mogwitz hat seine Entschädigung noch nicht verhandelt. Er sagt nur, dass er drauf verzichten würde, wenn sie hier Masten aufstellen, statt Kabel zu verlegen. Was aber nicht geht, weil die Sache mit dem Erdkabel beschlossen ist.
Eines ist klar: Wenn alle so drauf wären wie er, hätte man Südlink billiger haben können.
Klar ist aber auch, dass es keine Energiewende gibt ohne Lösungen, die die Menschen spalten. In Befürworter und Gegner. Gewinner und Verlierer. Erst sollte die Trasse östlich an Hannover vorbeilaufen. Dann ist es doch der Westen geworden, seine Heimat. Und dann auch noch unter der Erde. So gesehen ist Steffen Mogwitz ein Verlierer. Aber auch dort, wo Verlierer leben, gibt es Gewinner.
Einer von ihnen sitzt in einem dunklen Cocktailsessel und schaut auf Loch 18. Nur zehn Kilometer liegen zwischen dem Kartoffelacker von Steffen Mogwitz und dem Restaurant des Golfclubs Hannover. Trotzdem sieht man die Sache mit dem Erdkabel hier ganz anders. Michael Wermelt kann das erklären, ein Mann mit blauer Steppjacke und weißem Haar.
Seit zwanzig Jahren ist er Präsident des Golfclubs, der zu den ältesten im Land gehört. In diesem Jahr wollen sie den 100. Jahrestag feiern. Er sitzt im Sessel, nimmt einen Schluck Cappuccino und schaut raus auf den Rasen. „Die Angst war: Wenn das Ding hier als Oberleitung durchgeht, dann haben wir keinen Golfplatz mehr.“
Sie waren also erleichtert, als die Entscheidung für das Erdkabel kam. „Danach haben wir nur noch diskutiert, wie wir Support liefern können“, sagt Michael Wermelt. Die Stromtrasse ist für seinen Club jetzt eine Chance. Warum, erklärt er draußen auf dem Platz. „Rehburg-Loccum ist frei“, sagt die Dame im Sekretariat. Rehburg-Loccum hat nur keinen Strom mehr. Also schnappt sich Michael Wermelt eines der anderen Golfcarts aus dem Geräteschuppen und fährt zu Loch 10.
Hier kommt die Trasse rüber, sagt er, hinter Loch 10, wo die Lkws über die A 2 rauschen. Als sich der Club Ende der Fünfziger von zwölf auf achtzehn Löcher vergrößern wollte, war die Autobahn schon da. Platz gab es nur noch auf der anderen Seite der A 2. Seitdem haben sie hier einige Superlative zu bieten. „Alles festhalten“, sagt Michael Wermelt, und zuckelt mit seinem Golfcart über die – nach allem, was man weiß – erste private Autobahnbrücke Deutschlands, unten die Lkws, oben der Präsident.
Die Autobahn war immer ein Problem, mit dem sie sich arrangieren mussten. Ist wie bei Südlink: Was der Allgemeinheit nützt, kann für Einzelne eine Last sein. Jetzt ist die Autobahn ihr Glück. Tennet wird die Erde hier nicht von oben aufgraben, um die Kabel reinzulegen. Die Kabel sollen stattdessen mit einer Bohrung unter der Autobahn durchgeführt werden, und unter dem Golfplatz und dem angrenzenden Fluss Leine gleich mit. Bei Tennet heißt das „geschlossene Bauweise“. Für Michael Wermelt heißt das: Sein schöner Rasen bleibt unversehrt.
Er kennt natürlich die Klischees über seinen Sport. Die Leute, die sagen, es sei gar keiner, sondern nur ein Zeitvertreib für Reiche. Totaler Blödsinn, findet er, nur 120 Euro im Monat koste die Mitgliedschaft. Aber sie stehen hier schon unter Rechtfertigungsdruck. Wasserverbrauch, Düngemittelverbrauch, Nachhaltigkeit: Alles Dinge, mit denen sich ein Golfclub-Präsident im Jahr 2023 beschäftigen muss. Eine positive Haltung zu Südlink schadet da nicht. „Es ist unsere Aufgabe, mitzuhelfen und nicht dagegen zu sein“, sagt Michael Wermelt. Die Trasse werde eben gebraucht. „Man muss ja kein Grüner sein, um das zu begreifen.“
Es gibt auf dieser Reise keine Grenze, die die Menschen trennt in Gegner und Befürworter. Und doch gibt es eine Art Premiere in Bad Sooden-Allendorf, Nordhessen. Als Besucher wird man hier von einem Protestplakat begrüßt, es steht gleich am Ortseingang. „Keine Megastromtrasse. Bad Sooden-Allendorf wehrt sich.“
Eigentlich war man mit Matthias und Karin Grabing verabredet, beide Mitglieder der Bürgerinitiative „Werra-Meißner gegen Suedlink“. Am Treffpunkt, auf einer Anhöhe über der Stadt, erscheint Matthias Grabing ohne seine Frau, dafür mit dem Who’s who der Bad Soodener Trassengegner. Der Bürgermeister ist da. Ein Landwirt. Eine besorgte Anwohnerin. Der Kassenwart, der gleich wieder losmuss. Dafür kommt der Elektriker, was beim Thema Kabel sicher auch nicht schadet.
Es ist Freitagnachmittag. Es regnet. Matthias Grabing und die anderen wollen zeigen, wo Südlink langlaufen soll, also geht’s einen matschigen Weg entlang. Auf einer Wiese, unter der alte Betonplatten durchschimmern, bleiben alle stehen. „Hier war früher Ende Gelände“, sagt die Anwohnerin. Über die Betonplatten fuhren mal die DDR-Grenztruppen. Die Reste der innerdeutschen Grenze kann man noch sehen. Die Kabel von Südlink werden nicht sichtbar sein. Und trotzdem spricht für die Anwesenden fast alles dagegen. Auch die Sache mit dem europäischen Strommarkt.
„In Polen werden neue Kohlekraftwerke gebaut“, sagt Matthias Grabing. „Und die beziehen die Kohle aus Argentinien“, sagt die Anwohnerin.
Was stimmt: Durch die neuen Stromtrassen wird nicht nur grüner Strom fließen. Was auch stimmt: Im vergangenen Jahr kam laut Bundesverband der Energiewirtschaft nicht einmal 0,1 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus Polen. Etwa dreißig Mal so viel kam aus Dänemark, wo der Anteil der Erneuerbaren bei 76 Prozent liegt. Was stimmt: Energiekonzerne profitieren vom Ausbau der Stromnetze. Was auch stimmt: Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Versorgungssicherheit und Solidarität. Als im vergangenen Sommer die Hälfte der französischen AKWs nicht lief, half Deutschland aus. Wenn hier mal Wind- und Sonnenflaute ist, kann es auch andersrum laufen.
Für die Trassengegner aus Bad Sooden-Allendorf ist Europa aber eh nicht der Hauptgrund gegen die Trasse. Der Hauptgrund ist Bad Sooden-Allendorf. Erstens, die Heilmittelquellen. Ist ja ein Kurort. Dann die vielen Wasserschutzgebiete. Streuobstwiesen, Kastanienbäume, Dachsbauten. „Eines ist ganz klar“, sagt Matthias Grabing. „Dass wir uns von Aluhelmträgern oder so distanzieren.“ Schiss vor Strahlung habe er jedenfalls nicht, sagt er. Fünf bis zehn Stunden beschäftige er sich pro Woche mit der Trasse. Und das Hauptproblem fasst er so zusammen: „Bei uns wird die Natur kaputtgemacht, und wir haben nichts davon.“
Bad Sooden-Allendorf liegt ziemlich genau in der Mitte Deutschlands. Ungefähr so fühlen sie sich hier auch. Die im Norden haben Windräder. Die im Süden kriegen Strom. Und Bad Sooden-Allendorf? Kriegt nur Baustellen. Wobei das nicht ganz richtig ist. Weil Deutschland eine Demokratie ist, kriegt jeder auch das Recht, sich zu beschweren. Wird ja gerne vergessen, wenn es wieder heißt, die Chinesen hätten in vier Jahren einen schlüsselfertigen Flughafen hingestellt.
Ob Südlink eine Monstertrasse ist, darüber lässt sich streiten. Sicher ist, dass Südlink ein Bürokratiemonster ist. Die Netzbetreiber müssen sich mit jedem Grundstückseigentümer einigen, der betroffen ist. Auch noch mit Matthias Grabing, weil die Kabel unter seiner Streuobstwiese langlaufen sollen. Es müssen aber auch alle Bedenken von Bürgern geprüft werden. „Hinweise“ werden sie genannt.
Matthias Grabing hat seine Hinweise 2019 an die Bundesnetzagentur geschickt. Auf sieben Seiten hat er aufgelistet, was alles gegen eine Stromtrasse in Bad Sooden-Allendorf spricht. Feldwiesel, Waschbären, Mopsfledermäuse. Der Rotmilan, der Eichelhäher, der Zilpzalp, der so heißt, weil er zilpzalpt. Auch die zoologischen Eigenschaften der Zauneidechse hat er den Beamten schriftlich erläutert: „Sie ist von gedrungenem Körperbau und wirkt im Vergleich zur Mauereidechse kräftig und dick.“ Steht wortgleich in einem Online-Lexikon.
Es geht in Bad Sooden-Allendorf um die Frage, um die es überall geht, wenn in Deutschland die Energiewende vorangebracht werden soll: Wer verdient mehr Schutz? Die Natur oder das Klima? Der Zilpzalp oder der Planet, auf dem er zilpzalpt?
Matthias Grabing sagt, sie werden die Trasse nicht mehr verhindern. Aber sie wollen unbequem sein. Nerven. Damit Südlink so weit entfernt vom Ort verläuft wie möglich. Die Netzbetreiber hätten zwar schon reagiert, den Verlauf der Trasse weiter vom Ortskern entfernt. Matthias Grabing und die anderen wollen trotzdem weiter kämpfen, um jeden Meter, während anderswo um jeden Kubikmeter gekämpft wird. Die Energiekrise? Ändert daran nichts, sagen sie hier. Geht es nach ihnen, gäbe es ja sowieso bessere Lösungen als diese Stromtrasse. Sie stehen jetzt alle im Kreis. „Dezentralität, das ist das A und O“, sagt Grabing. „Genau“, sagt die Anwohnerin. „Wir sind ja nicht gegen die Energiewende“, sagt der Elektriker.
Deutschland braucht eine dezentrale Energiewende: Das sagen alle Trassengegner auf dieser Reise. Statt den Strom durchs Land zu transportieren, sollte man ihn dort erzeugen, wo er verbraucht wird, also mit Solaranlagen und Windrädern im Süden. Klingt gut. Nur sind Windräder in Süddeutschland so selten, dass man sie auch gleich unter Artenschutz stellen könnte. Neun Stück hat Baden-Württemberg im vergangenen Jahr gebaut, Bayern 14. In Schleswig-Holstein waren es 132. Und dann ist ja noch die Frage, wo der Strom für die Industrie herkommen soll? Wasserstoff, sagen die Trassengegner.
Haben sie natürlich alles geprüft bei der Bundesnetzagentur. Es wird auf absehbare Zeit nicht nur zu wenig Wasserstoff geben, um ganz Deutschland damit zu versorgen. Man braucht auch riesige Mengen Strom, um ihn herzustellen. „So reichlich sind wir dann im Norden auch wieder nicht mit Erneuerbaren gesegnet“, sagt ein Abteilungsleiter von der Bundesnetzagentur. Und der Vorschlag mit den deutschen Gasnetzen, den man immer wieder hört? Dass man sie nutzt, um Wasserstoff durchs Land zu schicken? Der Abteilungsleiter sagt: „Wenn Sie jemanden finden, der mir das organisiert, dass wir am Tag X die bestehenden Leitungen auf Wasserstoff umstellen, dann geht das. Das wird aber nicht funktionieren.“ Dann müssten sie ja die Gasleitungen erst mal stilllegen und Millionen Menschen hätten keine Heizung. Wasserstoff ist ein Element, das sich leicht verflüchtigt. Und oft wirkt es, als sei das mit den Argumenten für Wasserstoff genauso.
Vor allem aber ist die Frage, wie lange alles noch dauern soll, wenn Deutschland seinen Plan jetzt wieder ändern würde. Von vorn anfängt. Tennet hat mal nachgezählt: 4,5 Milliarden Euro sind für Südlink insgesamt schon ausgegeben worden oder fest beauftragt, zwei Milliarden allein für die Kabel. Auf 12 000 Ordner und 6000 USB-Sticks an Genehmigungsunterlagen kommen sie mittlerweile, 106 Tierarten wurden untersucht, 13 659 Bürgeranfragen bearbeitet, 689 Infoveranstaltungen organisiert, 70 000 Brötchen belegt. Wär’ alles für die Tonne.
Der Chef der Bundesnetzagentur sagt: „Ich möchte eben auch nicht erleben, dass Unternehmen mir mitteilen: Die Stromversorgung ist so unsicher geworden, dass wir eine andere Investitionsentscheidung treffen.“ Heißt: Im Ausland produzieren.
Der Tennet-Chef sagt: „Eine der Bürgerinitiativen hat neulich wieder stolz propagiert, dass sie uns schon fünf Jahre gekostet hätten. Das wären aber fünf Jahre, die der Energiewende fehlen.“
Der Mann, der das mit den fünf Jahren gesagt hat, heißt Heiko Ißleib, ist 58, hat lange Haare und eine kurze Zündschnur, zumindest, wenn’s um Stromtrassen geht. Er wartet vor einer Kirche in Marksuhl, in einem weißen Lieferwagen, der eigentlich sein Tourbus ist. Es ist Samstagmorgen. Gestern hat er mit seiner Band auf einer Hochzeit gespielt. Ißleib ist Musiker. „Unterhaltungshure“, sagt er. Seit Jahren kämpft er gegen Südlink, zehn bis fünfzehn Stunden pro Woche.
Er startet den Motor und fährt los, durch einen Ort mit vielen Fachwerkhäusern und wenigen Menschen auf der Straße. Auf einem Schotterweg hält Heiko Ißleib wieder an. Er schaut hoch zum Ende des Weges, wo hohe Tannen stehen, der Thüringer Wald, seine Heimat. „Da werden sie rauskommen, wenn sie es bauen“, sagt er.
Wenn?
Heiko Ißleib glaubt, dass Leute wie er diese Stromtrasse noch verhindern können. „Logisch“, sagt er. Auch wenn sich durch den Krieg und die Energiekrise viel verändert hat, auch für ihn. Es sei schwieriger geworden, die Leute zu erreichen, sagt er. „Diese Propaganda läuft ja.“ Und nein, er meint nicht die Propaganda von Putin. Er meint die „Propaganda“ der deutschen Bundesregierung, von Habeck, von den Netzbetreibern.
Heiko Ißleib ist hier aufgewachsen. Er hat viele Jobs gemacht in seinem Leben. Seit der Pandemie laufe die Sache mit der Musik nicht mehr so gut, sagt er, sein Geld verdient er jetzt als Hausmeister. Gelernt hat er mal Fleischer, da stand die Mauer noch. Und als er irgendwann selbst Lehrlinge ausbilden sollte, habe man ihn gefragt, ob er in die SED eintreten will. Wollte er nicht, sagt er. „Ungefähr eine Woche später war ich raus aus dieser Lehrwerkstatt und durfte nur noch Schweineköpfchen abpulen und so Zeugs.“
Heute hängt Heiko Ißleib Plakate auf und spricht von einem „Trassenwahn“. Er hat einen Protestsong gegen Südlink aufgenommen. Er darf alles sagen in diesem Land. „Nee, darf man auch nicht“, sagt er. Und dann ist er schnell bei Corona, bei den Demos, die er im Fernsehen gesehen habe. Das habe ihn „sehr an DDR-Verhältnisse“ erinnert, sagt er.
Im Tourbus von Heiko Ißleib vermischt sich etwas, das sich immer wieder vermischt auf dieser Reise. Die Ablehnung einer Stromtrasse und die Ablehnung gegen Politiker, gegen den Staat. Früher haben sich die Leute über die DDR-Bonzen aufgeregt, darüber, dass Honecker in Wandlitz Bananen kaufen konnte, sagt er. „Wie sich heute die Leute die Gelder zuschachern, in welchen Größen!“ Heiko Ißleib redet nicht von Mauertoten. Er redet von den Maskendeals. Von korrupten Politikern. Er sagt, dass diese Stromtrasse nicht für die Menschen gebaut werde, sondern nur für Energiekonzerne und Netzbetreiber, von denen einer auch noch aus dem Ausland ist.
Dass Tennet ein niederländischer Staatskonzern ist, hat das Misstrauen bei vielen Trassengegnern noch größer gemacht. Tennet hat das Netz 2010 vom deutschen Energiekonzern Eon übernommen. Der musste es abgeben, weil er aus Sicht der EU-Kommission seine Marktmacht ausgenutzt haben soll. Und wo Heiko Ißleib recht hat: Mit einer Stromtrasse lassen sich sehr gute Renditen erzielen. Bis es so weit ist, müssen aber erst mal Milliarden investiert werden. Tennet verhandelt schon mit der Bundesregierung und könnte das Netz wieder an Deutschland verkaufen, die Gespräche laufen seit Monaten. „Es geht ihnen das Geld aus“, sagt Heiko Ißleib und grinst.
Allein ist er hier nicht mit seinem Protest. Ganze Städte und Gemeinden haben sich in Thüringen mit den Bürgerinitiativen zusammengeschlossen. Auch die Landesregierung kämpfte lange mit. Neben Südlink soll ja auch der Südostlink durch Thüringen laufen. 2027 soll er fertig werden und ebenfalls in Bayern enden. „Wir sind nicht das Stromklo Deutschlands“, hat Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow mal gesagt, das war 2020, drei Jahrzehnte nach der Wende. Es hat auch mit der deutschen Geschichte zu tun, dass es so schwierig ist, ein paar Stromkabel durch Deutschland zu verlegen.
Thüringens Regierung verklagte damals sogar den Bund, ohne Erfolg, kündigte aber an, wieder zu klagen, sobald die Baugenehmigung für Südlink da ist. Doch Ramelows Regierung hat sich mittlerweile umentschieden. „Das Land Thüringen wird an einer Klage nicht festhalten“, sagt eine Sprecherin der Staatskanzlei. Grund sei unter anderem die „veränderte geopolitische Lage“.
Was nicht heißt, dass der Groll verschwunden wäre. Der Groll auf den Süden. Ramelow hat gerade nochmal nachgelegt, was vor allem mit Markus Söder zu tun hat, der die Kernenergie jetzt doch wieder nutzen will, und sei es für den Wahlkampf. „Ach, noch was zur Deutschen Solidarität“, twitterte Ramelow: „Welches Bundesland hatte niemals ein AKW, keinerlei Kohlekraftwerke, keinerlei Großkraftwerke, bekommt aber alle MegaStromleitungen um Bayern abzusichern (…)?“ Ja, richtig. Und Bayern? Das Land, das die Leitungen braucht? Dorthin geht es jetzt. Ans Ziel dieser Reise.
Es regnet nicht mehr am Samstagmittag in Bergrheinfeld. Es hagelt. Und doch muss man jetzt mal raus aus dem Auto. Erstens, um sich die gelben Warnschilder anzuschauen, die hier mit Kraft in die Äcker gerammt wurden: Zutritt für Netzbetreiber verboten. Zweitens, um den Mann zu treffen, der hier lange mitgekämpft hat gegen Südlink.
Der Bürgermeister kommt im Elektro-Renault zum Umspannwerk gefahren. Dorthin, wo die Kabel einmal ankommen sollen. Tennet gehört zu den größten Gewerbesteuerzahlern in Bergrheinfeld. Trotzdem ist der Widerstand gegen Südlink hier so groß wie fast nirgendwo sonst in Deutschland. Immer schon. Warum, will Ulrich Werner beim Griechen im Vereinsheim erzählen und nicht hier draußen, wo ihm die Hagelkörner um die Ohren fliegen.
Um ihn herum sitzen Familien und essen Fleischplatten mit Reis und Pommes. Dazwischen sitzt Ulrich Werner und bestellt einen Cappuccino. Der Bürgermeister hat Karteikarten mitgebracht, Bergrheinfeld in Zahlen. 5300 Einwohner, 180 Strommasten, zwei Autobahnen, ein stillgelegtes Kernkraftwerk. Ulrich Werner, 59, CSU-Bürgermeister und von Anfang an Mitglied der Bürgerinitiative gegen Südlink sagt: „Wir kriegen immer alles ab.“
Das Kernkraftwerk hat streng genommen der Nachbarort Grafenrheinfeld abbekommen. Leben mussten allerdings auch die Bergrheinfelder damit. Seit 2015 ist es vom Netz. Die vielen Stromleitungen, die dazugehören, sind aber noch da. Das ist auch der Grund, warum Südlink bei ihnen ankommen wird. Von hier kann der Strom gut weitertransportiert werden. So einfach ist das. Und so kompliziert.
Es waren auch Bergrheinfelder, die mit ihrer Wut das Erdkabel herbeiprotestierten. Dass danach trotzdem keine Ruhe einkehrte in diesem Vorort von Schweinfurt, hat vor allem mit einem grünen Gebäude zu tun, das Tennet ein paar Hundert Meter vor dem Umspannwerk hinstellen will. Der Südlink-Konverter. Der nächste Brocken Infrastruktur. Eine grüne Halle, in der der der Strom aus der Trasse in Wechselstrom umgewandelt werden soll. Dass Tennet die Menschen in Bergrheinfeld erst spät darüber informiert hat, trug, vorsichtig gesagt, nicht zur Beruhigung der Situation bei.
Russlands Krieg und Deutschlands Energiekrise haben aber auch hier etwas verändert. Ulrich Werner sagt, er werde kaum noch angesprochen auf den Südlink. Stattdessen wollen sie in Bergrheinfeld jetzt vier Windräder bauen. Und ja, es gebe auch hier im Norden von Bayern große Industriebetriebe, sagt er. Unternehmen, die viel Strom verbrauchen, aber auch viele Menschen beschäftigen, die ihre Jobs ganz gerne behalten würden. „Jeder weiß, wo wir hier leben, was für einen Energieverbrauch wir hier haben“, sagt der Bürgermeister. Er hat seine Karteikarten auf den Tisch gelegt. Auf einer steht: „Der Südlink wird kommen.“
Ein Satz, den die anderen aus der Bürgerinitiative so allerdings nicht unterschreiben wollen. Anfang April hat das Bündnis eine Klage beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht. Es geht um die Teilgenehmigung für den Konverter. Um Wasserrecht, um Landschafts- und Artenschutz, um den Feldhamster. Aber natürlich geht es vor allem darum, den Südlink auszubremsen. Deshalb soll diese Reise nicht beim Griechen enden, sondern in einem deutschen Wintergarten.
Richard Bethmann hat drüben im AKW gearbeitet, 25 Jahre lang. Er hatte die Lizenz, den Reaktor zu steuern, sagt er. Und wenn er nicht im Kernkraftwerk war, konnte er von zu Hause zusehen, wie das Kernkraftwerk die Menschen mit Energie versorgt. Die Wolke aus dem Kühlturm sieht er jetzt nicht mehr. Das AKW ist aus und er schon lange in Rente. Aber mit der deutschen Energieversorgung beschäftigt er sich immer noch. „Sie brauchen mir nicht irgendwas erzählen“, sagt er. Ein Satz, der den weiteren Verlauf des Gesprächs ganz gut zusammenfasst.
Das meiste hat man auf dieser Reise schon gehört, nur der Ton wird noch mal rauer im Wintergarten von Richard Bethmann. Der Staat? „Versucht, seine Bürger zu verarschen.“ Tennet? „Der totale Lobbyverein.“ Die Trasse? Viel zu teuer. Was er nicht sagt: Dass Südlink auch wegen Leuten wie ihm so teuer geworden ist. So teuer wird. Dass jede Klage und jede Verzögerung Geld kostet. Muss es nicht irgendwann einen Kompromiss geben?
Schon, sagt Richard Bethmann. „Aber man sollte so Kompromisse machen, dass es wirtschaftlich ist.“
Was ist wirtschaftlich? Was ist sinnvoll? Was ist die beste Lösung für die deutsche Energieversorgung? Es gibt darauf keine Antwort, die allen gefällt. Es werden also Enttäuschte zurückbleiben, Wütende. Menschen wie Richard Bethmann.
Er sitzt in seinem Wintergarten, zwischen Kakteen und Gartengerümpel. Was er will, sagt Richard Bethmann, ist eine gute Zukunft. Für seine Kinder und Enkelkinder. Für ihn heißt das auch: eine Zukunft ohne diese Stromtrasse.