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Kanonen für ein Wintermärchen

von Michael Schilliger und Flurin Clalüna
Neue Zürcher Zeitung vom 21.01.2023

Unternehmensportrait der Firma Technoalpin. Sie ist Weltmarktführer für Beschneiungsanlagen, die Skipisten zu hochtechnisierten, künstlichen Sportarenen machen. Am Beispiel des Schweizer Skigebiets Laax wird gezeigt, wie Kunstschnee den modernen Skitourismus als industrielles Massenphänomen überhaupt ermöglichte.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Kanonen für ein Wintermärchen

Der Schneekönig sitzt in Südtirols Hauptstadt Bozen vor seinem Schreibtisch, hinter sich die Sonne, die durchs Glas dringt, und starrt auf sein Handy. Darauf sieht er, wo es jetzt gerade schneit. Genauer: wo der Mensch es schneien lässt.
Alle 60 000 Schneekanonen und Schneelanzen, die sein Unternehmen auf der ganzen Welt aufgestellt hat, sind in einer App vereint. Der Schneekönig sieht, welche läuft, wie lange sie bereits läuft, wie viel Schnee sie produziert hat. Die modernsten Schneekanonen schaffen es, in einer Stunde fünf Lastwagenladungen Schnee herzustellen. Sie stehen überall auf der Welt, in der Schweiz, in Österreich, in den USA, in Australien und China. Ein paar wenige sogar im einzigen Skigebiet der Mongolei.
Der Schneekönig strahlt, als er die App öffnet. Wie oft er sie anschaut? «Viel zu oft, viel zu oft!»
Der Mann mit dem Handy heisst Erich Gummerer und ist 63 Jahre alt. Zusammen mit zwei Nachbarn aus seinem Heimatdorf hat er vor mehr als dreissig Jahren das Unternehmen Technoalpin gegründet. Die Firma ist Weltmarktführer für Beschneiungsanlagen. Sie hat Niederlassungen in 25 Ländern und beliefert 2400 Kunden in über 50 Ländern. Mehr als 60 Prozent Weltmarktanteil, zuständig für den Schnee an den Olympischen Spielen und in den Australischen Alpen.
Heute gibt Technoalpin ein fast schon obszönes Versprechen ab: dass sich der Wintertourismus an vielen Orten retten lässt. Wenn man denn will und die Skigebiete flächendeckend mit Schneekanonen und Schneelanzen beschneit.
Für viele ist das eine Provokation. In Zeiten des Klimawandels laute Maschinen am Berg installieren, die Strom verbrauchen und die Natur verschandeln; Wasser aus Bächen absaugen, in extra hierfür angelegten Teichen speichern, es über weite Rohrsysteme ins Tal leiten, auf die richtige Temperatur bringen und dann wieder hoch zu den Kanonen pumpen. Für manche Nichtskifahrer sind Schneekanonen eine Allmachtsphantasie, ein dekadenter Ausdruck der menschlichen Vergnügungssucht. Und selbst Skifahrer zweifeln, ob es sinnvoll ist, grüne Hänge mit weissen Kunstschneepisten zu überziehen.
Wobei die Branche den Begriff Kunstschnee sowieso ablehnt. Schneekönig Gummerer spricht von technischem Schnee. Wasser, Energie und tiefe Temperaturen – mehr braucht es nicht. Mit Kunst habe das gar nichts zu tun, sagt Gummerer. Und mit Chemie sowieso nichts.
Dafür haben die Schneekanonen viel mit unserem Bild von Wintersport zu tun. Die Geschichte der Schneekanone handelt auch von einer Illusion, der wir seit Jahrzehnten aufsitzen. Wir meinen, auf einem natürlichen Berg Ski zu fahren. Dabei ist dieser Berg längst ein von Kabeln und Rohren durchzogenes Winter-Disneyland.

Der künstliche Berg

Mitte Januar stehen zwei Männer an der Talstation des Skigebiets von Laax auf einem kleinen Hügel und schauen zu den Wolken hoch, aus denen seit Wochen einfach kein Schnee fallen will. Fast überall in der Schweiz war der Silvester so warm wie noch nie seit Messbeginn vor über 150 Jahren. Das ganze Land ist besorgt. Die drei Millionen Bewohner der Schweiz, die immer noch regelmässig Ski fahren, fragen sich, wie ihr Sport so überleben soll. In Gstaad schütten Helikopter Schnee auf die Pisten, und in Wengen schieben Touristen ihre Ski durch den Pflotsch.
Auf Tiktok gibt es ein Video davon mit 700 Kommentaren. Sie lauten: «Wann lernen wir, uns den Gegebenheiten anzupassen?» Oder: «Das hat mit Wintersport nix mehr zu tun.» Oder: «Keine Investitionen mehr in Schneesportanlagen auf dieser Höhe.» Ein paar Tage später schliesst Splügen sein Skigebiet, andere konnten gar nicht erst öffnen.
Die zwei Männer, die in Laax in den Himmel starren, müssten eigentlich das Schneeproblem lösen. Einer von ihnen, Martin Garbely, ist der Schneechef von Laax und Herr über 430 Schneekanonen und -lanzen. Der andere, Patrizio Laudonia, ist der Leiter von Technoalpin Schweiz, heute ist er auf Kundenbesuch in Laax. Laax ist ein alter und guter Kunde der Technoalpin. Das Bündner Skigebiet wird seit 1984 beschneit.
Laudonia und Garbely haben sich beruflich kennengelernt und sind Freunde geworden. Zwei Männer aus der gleichen Gegend, die die gleiche Sprache sprechen, vor allem wenn es um ihr Lieblingsthema geht: den Schnee.
Sie haben ihre Winterjacken geöffnet, es ist fünf Grad, viel zu warm – für Jacken, aber auch, um die Schneekanonen anzuwerfen. Als sie hinunter ins Tal spazieren und miteinander diskutieren, klingt es, als ob sie für ein Theaterstück üben würden. Aber die Sache ist ernst.
Laudonia fragt: «Du, Martin, was wäre eigentlich, wenn du deine Schneekanonen nicht vor Weihnachten hättest laufen lassen können?»
«Dann wäre das ganze Skigebiet geschlossen.»
«Heitere Fahne! Eine Katastrophe!»
«Wenn Gott es gut mit uns meint, könnten wir vielleicht noch die zwei Lifte auf dem Gletscher laufen lassen. Sonst gar nichts mehr.»
«Nur dort? Der Gletscher ist ja extrem hoch.»
«Auf über 3000 Meter.»
«Verrückt!»
Garbely, 46 Jahre alt, ein bärtiger Mann mit kräftigen Händen, war früher einmal Maurer. Das war sein Beruf, aber der Schnee ist sein Leben. Und so wurde er Snowboardlehrer und später Pistenbullyfahrer, seit neun Jahren macht er in Laax den Schnee und lässt seine Maschinen laufen. Die meisten sind fest installiert, andere werden mit dem Helikopter kreuz und quer übers Skigebiet geflogen. Im November und Dezember hat Garbely am meisten zu tun, in diesen Wochen legt er seinen Schneeteppich, später muss er nur noch etwas nachschneien. «Wenn alles gutgeht, könnte ich an Weihnachten nach Hawaii in die Ferien.»
Dieses Jahr ging nicht alles gut. Es gab Tage, da wollte er seine Maschinen anschalten, aber das war «als ob ich in einen Backofen hineingeschneit hätte». Es war zu warm und regnete auf über 2000 Metern. Am besten laufen Schneekanonen bei –10 bis –2 Grad, dann produzieren sie zuverlässig aus Wasser, Luft und Strom Schneekristalle und blasen sie 45 Meter weit auf die Pisten. Wird es wärmer, erzeugen sie weniger Schnee, bei Plusgraden und hoher Luftfeuchtigkeit keinen mehr. Dann hat Garbely keine Arbeit und ein Problem.
Garbely sagt, der Mensch habe keine Geduld, zu warten, bis es endlich vom Himmel herunterschneie. Kalendarisch beginnt der Winter erst am 21. Dezember. Aber die Leute wollen schon früher Skifahren, spätestens an Weihnachten müssen die Pisten perfekt sein. Vielleicht müsste man einmal mit den Kirchen reden und Weihnachten zwei Wochen nach hinten schieben, findet er. Dann wäre das Problem entschärft.
Die meisten Skifahrer haben keine Ahnung von Garbelys Sorgen und dem riesigen Maschinenpark, den er für sie anwirft. Jeder Ski- und Snowboardlehrer, der in Laax neu anfängt, muss zu ihm in den Kurs. Er sagt ihnen dann, was sie den Gästen über technischen Schnee erzählen sollen. Dass Kanonen nicht böse seien. Dass es ohne sie nicht ginge, und das schon sehr lange.
Im ganzen Alpenraum stehen Zehntausende Schneekanonen, die Schätzungen gehen weit auseinander, von 30 000 bis 80 000. Klar aber ist: Es werden immer mehr. In der Schweiz wurde vor dreissig Jahren ein Prozent der Pisten beschneit. Heute sind es 54 Prozent, 121 Quadratkilometer, eine Fläche dreimal so gross wie der Kanton Basel-Stadt. Das heisst: Wir fahren schon die meiste Zeit auf Kunstschnee Ski und Snowboard – auch dann, wenn es eigentlich schneit – aber wir merken es erst, wenn rechts und links kein Naturschnee liegt und sich nur ein trauriger weisser Streifen einen grün-braunen Hang an den Schneekanonen vorbei hinunterschlängelt.
Patrizio Laudonia, 45 Jahre alt, der Schweizer Chef der Technoalpin, trägt eine gelb-blaue Firmenjacke und eine Kappe mit dem Logo des Unternehmens. Er ist stolz darauf, für Technoalpin zu arbeiten, 240 Kunden hat die Firma in der Schweiz und einen Marktanteil von 70 Prozent. Schon als Bub hat er gerne Schneekanonen fotografiert. Andere mögen sie verteufeln, Laudonia findet sie schön.
Eine Zeitlang lebte Laudonia in Zürich, es gefiel ihm nicht schlecht, aber er war froh, wieder nach Hause in die Berge nach Trin zu kommen. Zu viel Puff in der Stadt, zu wenig Natur, kein Platz zum Spielen für die Kinder.
Wenn er über Technoalpin spricht, spricht er immer auch über seine Heimat. Ohne Schneekanonen kein Tourismus, ohne Tourismus kein Geld, ohne Geld kein Job. Aber, und das ist Laudonia wichtig: Schneekanonen bauen kann jeder. Technoalpin mache etwas viel Raffinierteres. Die Firma hat ein gigantisches Netzwerk an Rohren, Kabeln, Pumpen und Filteranlagen in den Berg oberhalb von Laax gelegt. Ein Versorgungssystem wie für eine Kleinstadt.
Es gibt elf Pumpstationen, zwei künstliche Seen, mehrere Ausgleichsbecken der Elektrizitätswerke und 80 Kilometer Leitungen, die unter der Erde liegen und Wasser, Strom und Pressluft zu den Schneemaschinen bringen. Man muss sich das System vorstellen wie einen Körper: Die Pumpstation ist das Herz, die Leitungen sind die Arme und die Kanonen die Finger. Das Wichtigste aber ist das Blut, ohne Blut ist der Körper tot. In einem Winter fliessen in Laax 500 Millionen Liter Wasser durch die Rohre und werden zu Schnee. Das sind drei Millionen volle Badewannen.
Der Laaxer Schneechef Martin Garbely kann das ganze System wie in einem Computerspiel mit ein paar wenigen Mausklicks steuern. Auf seinem Laptop wählt er jede der 430 Maschinen einzeln an. Drückt er auf einen Knopf, schneit es. Garbely kann Gott spielen vom Büro aus. Wenn er möchte, könnte er alles programmieren und sich dann ins Bett legen: Stimmen die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit, schalten sich die Systeme selber ein.
Eine moderne Schneekanone kostet so viel wie ein Mittelklasseauto, 45 000 Franken. 10 Millionen Franken hat Laax in den letzten zehn Jahren in die Beschneiungsinfrastruktur investiert. In Zukunft wird es noch mehr Geld brauchen. Hier werden erst 30 Prozent der Pisten beschneit.
Patrizio Laudonia zeigt auf seinem Computer eine Landkarte. Es ist der Masterplan für die Entwicklung des Skigebietes. Die Projekte sind in verschiedenen Farben angemalt, blau ist die Gegenwart, rot die Zukunft. Fast alles, was heute noch unbeschneit ist, erscheint rot. Das bedeutet: Schon bald werden wieder neue Rohre gelegt, Schächte ausgehoben und Kanonen installiert bis hinauf zu den höchsten Bergen.
Das Computerprogramm, natürlich von Technoalpin entwickelt, macht deutlich, was Laax heute ist: eine künstliche, überwachte, voll digitalisierte Sportarena. Auf topmodernen, teilweise beheizten Liften fuhren im vergangenen Winter eine Million Menschen auf den Berg. Und auf perfekt präparierten Kunstschneebahnen wieder runter. Dabei liegt Laax eigentlich hoch genug und gilt als schneesicher.
Aber auch Laax braucht eine Kunstschneelandschaft. Weil die Skitouristen sich das so wünschen.
Wie ist es dazu gekommen?

Die Schneekanone verändert den Wintersport

Die Erfindung der Schneekanone war ein Zufall. Ende der vierziger Jahre spritzte ein kanadischer Wissenschafter bei tiefen Temperaturen Wasser in eine laufende Flugzeugturbine, um zu untersuchen, ob diese vereist. Unerwartet entstand dabei Schnee, den die Forscher mühsam wegschaufeln mussten. Erst Jahre später erkannte ein amerikanischer Skihändler, dass sich mit künstlichem Schnee Geld verdienen liess, und meldete eine Propellerschneekanone als Patent an.
Kein Zufall ist, dass die meisten Schneekanonen der Welt heute in Südtirol gebaut werden. In Bozen steht der Schneepalast, der Hauptsitz von Technoalpin, das Herz des Reiches von Schneekönig Erich Gummerer, der mit dem Handy seine 60 000 Schneekanonen überwacht. Hier liegt an diesem Januartag zwar auch kein Schnee, die Berge, die die Kleinstadt umgeben, sind bräunlich, aber gerade weil der Schnee fehlt, ist hier so etwas wie das Schneecenter der Welt entstanden.
Knapp 20 Kilometer entfernt, im kleinen Eggental, wuchsen die Gründer von Technoalpin auf, in einem Dorf, das jahrzehntelang unter der Abwanderung litt, bis man dort 1974 ein Skigebiet gründete. Es gab bessere Orte für ein Skigebiet als das Südtirol, die Hänge sind sonnig, der Föhn bläst durch die Seitentäler, und die Berge sind nicht hoch. Schnee war hier schon immer ein unzuverlässiges Geschenk. Als die ersten Schneekanonen in den siebziger Jahren von den USA nach Europa kamen, stürzte man sich auf die Maschinen. Auch im Eggental.
Die Geschichte kennt in den Fabrikhallen von Technoalpin jeder Mitarbeiter. Sie geht so: Die zwei Ingenieure Gregor Eisath und Walter Rieder waren damals im Skigebiet Obereggen für die Beschneiung zuständig. Sie tüftelten an Schneemaschinen und überredeten ihren Nachbarn Gummerer, mit ihnen zusammen eine Schneekanonenfirma zu gründen. Ihre Arbeit im Skigebiet hatte ihnen gezeigt: Das ist die Zukunft.
Gummerer rast durch die Geschichte, wie jemand, der jedes Mal, wenn er einen Gedanken anfängt, sofort die nächste Eingabe bekommt. Er erzählt davon, wie sie zu Beginn ihren Besitz verpfänden mussten. «Alles haben wir verpfändet, alles, alles», sogar ihre Wohnungen. Aber trotzdem hätten sie keine Sekunde gezweifelt.
Ende der achtziger Jahre hatte es in Süd- und Nordtirol kaum geschneit, und die Technoalpin-Gründer waren zur richtigen Zeit mit dem richtigen Produkt am richtigen Ort. Und mit Gummerer hatten sie einen Mann, der erkannte: Wir müssen sofort die Welt erobern, weil der Heimatmarkt in den Alpen zu klein ist.
Aber angefangen hat es dann doch in den Nachbarländern. In der Schweiz hat man Gummerer und seine Schneekanonentüftler zuerst nicht verstanden. In der Schweiz hatte es ja Schnee. «Wir aber wussten», sagt Gummerer, «es geht bei der Beschneiung gar nicht um den Schnee.» Es ist einer dieser Sätze, die Gummerer sagt, und die komplett widersinnig erscheinen, aber nur, weil sie eine riesige Veränderung in wenigen Worten kondensieren. Wie ein Wasserstrahl, der in die Kanone gelangt und dann als Schneewolke vorne rauskommt. Dann erst ergibt das Ganze Sinn.
Gummerer sagt, es gehe eigentlich um die Pisten.
Zu Beginn hätten die Skigebietsbetreiber gedacht, sie würden die Schneekanonen nur brauchen, um punktuell, an Steil- oder Sonnenhängen prekäre Stellen zu überdecken. Aber dann hätten immer mehr Leute Ski fahren wollen, und man habe die Kapazitäten der Lifte erhöht, Bügellifte mit Vierer- oder Sechsersesselliften ersetzt. Plötzlich transportierte eine Anlage 4000 statt 400 Menschen in einer Stunde den Berg hoch.
Das Problem: Diese fuhren auch alle wieder runter. Die Pisten machten das nicht mehr mit. Auch wenn es normal geschneit hatte. Wenn zu viele Leute auf einmal den Berg runterfahren, drücken sie den Naturschnee immer mehr zusammen oder schieben ihn weg. Also brauchte es viel mehr und viel dichteren Schnee. Künstlichen, technischen Schnee.
Skifahren wurde dadurch auch einfacher. Quälten sich Skifahrer früher immer mal wieder über sulzige oder bucklige Pisten und schürften sich die Ski gelegentlich an einem Stein ab, fahren sie heute über Pisten, die absolut perfekt sind. «Wenn heute jemand über einen Stein fährt, steht er eine halbe Stunde später bei der Kasse und verlangt Schadenersatz», sagt Gummerer. «Erst durch die Beschneiung wurde es ein richtiges Skibusiness.»
In der Erzählung des Schneekönigs lässt sich die Huhn-Ei-Frage nicht aufschlüsseln. Gingen immer mehr Leute Ski fahren, weil Skifahren auf besseren Pisten mehr Spass machte? Oder begann man die Pisten zu verbessern, weil immer mehr Leute Ski fahren wollten?
Klar ist, dass die Skigebiete anfingen, die gesamten Pisten, vom Gipfel bis zum Tal, komplett zu beschneien. Eine Kanone alle fünfzig Meter, fünfzig Stunden im Betrieb bei Temperaturen von minus fünf Grad, und die Piste ist gelegt. Auch wenn es rundherum noch schneefrei ist und es nicht einen Tag geschneit hat.
Gummerer sagt: «Die weissen Bänder, die man jetzt auf den grünen Hängen gesehen hat – die hast du auch sonst. Aber man sieht sie nicht, weil rundherum Naturschnee liegt.» Und: Es gebe Skigebietsbetreiber, die ihm sagten, den Naturschnee wollen wir nur neben den Pisten.
Mit der Verwandlung des Skitourismus zum Massenvergnügen ist auch Technoalpin gewachsen. Von einer «Garagenfirma» mit fünf Mitarbeitern zu einem Mittelständler mit über 700 Angestellten. Gummerer beschreibt ein Startup, als es die Bezeichnung Startup noch gar nicht gab. In der Garage getüftelt, Fehler gemacht, Fehler korrigiert, wieder Fehler gemacht. «Hauptsache, man korrigiert sie sofort bei den Kunden, sie müssen darauf vertrauen können, dass wir da sind für sie.» Deswegen gebe es auch auf ihre Maschinen keinen Garantieanspruch. «Bei uns ist immer Garantie.»
In den Hallen in Bozen ist eine spezielle Kultur entstanden. Eine Art Verbesserungssucht, auf die auch die Mitarbeiter stolz sind. Ein Produktmanager, vor 23 Jahren als Ingenieur zur Firma gestossen, erwähnt etwa zehnmal den ölfreien Kompressor, den sie schon 2000 entwickelt hätten. Er entfernt an einer Kanone die Abdeckung, um zu zeigen, dass tatsächlich nur ein Motor drinsteckt – einer weniger als bei der Konkurrenz. Und zeigt auf dem Handy ein Video von einer auf einem Turm montierten Kanone, die sich auf die Piste heruntersenken lässt und so aussieht, als ob sie sich vor dem Kunden verneige.
Auf die gelben Wände sind die Firmenwerte gemalt. Sie klingen so unoriginell wie in fast allen Unternehmen dieser Welt – kundenorientiert, nachhaltig – aber einer ist einzigartig: schneekompetent.
«Armani-Schnee» nennen die Technoalpin-Leute ihren Schnee. Er ist griffig, körnig und langlebig. Gummerer sagt, ihre Maschinen seien vielleicht teurer gewesen zu Beginn, aber seine Gründerkollegen hätten immer gesagt: «Es hilft nichts, wenn sie einen grossen Haufen macht, aber der dann nur aus Eis besteht.»
Schneekompetent heisst auch, dass jeder hier Ski fahren kann. Sogar die Mitarbeiter aus der Buchhaltung. Und wenn sie es bei der Einstellung noch nicht beherrschen, lernen sie es. Gummerer besteht darauf. Man müsse einen Bezug haben zum Schnee. Deshalb zahlt die Firma ihren Mitarbeitern und auch deren Angehörigen Skikurse. Der Chef weiss genau, wie viele Leute momentan im Kurs am Üben sind: «197».
So erinnert man sich, wofür man das alles tut: um die Natur bestmöglich zu kopieren. Den Wintersport mit technischen Mitteln länger am Leben zu erhalten. Vielleicht rührt auch daher der Stolz der Technoalpin-Ingenieure, die strahlen, wenn sie in der Montagehalle ihre Maschine erklären. Jeder Tüftler liebt seine Maschine um ihrer selbst willen. Es ist der Stolz des Schöpfers.
Aber bei Schneekanoneningenieuren kommt noch etwas hinzu: das Wissen, mit ihrer Kreation die Natur nicht nur kopiert, sondern sogar etwas verbessert zu haben. Zumindest, wenn man den Schnee aus der Perspektive des Endverbrauchers Skifahrer betrachtet.
In der Fabrikhalle stehen heute nicht nur gelbe, sondern auch rote und hellgraue Kanonen. Auch Technoalpin versucht zu diversifizieren. Die roten sollen Brände löschen, mit den hellgrauen soll beim Abriss von Bauten Baustaub gebunden werden. Schliesslich steckt hinter der Kanone immer dasselbe Prinzip. «Wasser möglichst fein zerstäuben und zielgerichtet an den Ort bringen, wo es hinmuss», so beschreibt der Produktmanager die Kernkompetenz der Firma.
Dass Technoalpin andere Anwendungsmöglichkeiten für ihre Kanonen sucht, ist keine Reaktion auf den Klimawandel. In Bozen glauben sie nicht, dass die Schneekanonen bald überflüssig sein werden. Schliesslich gibt es da auch neue Märkte, neue Gebiete, die das Skifahren erst entdecken. China etwa. Oder die ganzen Hallenskifahrer. In Schanghai hat Technoalpin gerade 33 Schneekanonen in der grössten Indoorschneesportanlage der Welt installiert. Und vor drei Wochen wurden in der Mall of Oman ebenfalls 12 Snowguns eingebaut.
Schneekönig Gummerer war gerade erst in Bosnien. Dort hat er den Kindern 1000 Skisets verteilt, gratis. Um sie mit der Droge Skifahren anzufixen. «Keine schlechte Ware, richtig gute Skis haben wir denen geschenkt.»

Böse Kanone oder böser Skitourist?

Bei der Technoalpin gibt es ein altes Foto, das sich die Mitarbeiter von Handy zu Handy schicken. Wenn sie es anschauen, müssen sie lachen. Es zeigt einen Schlepplift mit einem Skifahrer, der auf einem dünnen Schneestreifen einen Hügel hochfährt. Rechts und links ist alles grün und braun. «Früher war alles besser», steht über dem Bild. Es stammt aus den fünfziger Jahren, ganz genau wissen die Technoalpin-Mitarbeiter das nicht. Aber das ist auch nicht so wichtig.
Entscheidend ist, wofür das Bild steht: dass es auch früher schon schneearme Winter gab, die Hysterie jetzt doch etwas übertrieben ist und man sich damals nicht an den weissen Bändern auf grünem Grund gestört hat.
Die Technoalpin-Mitarbeiter finden es absurd, dass man jetzt über den Sinn und Unsinn von Schneekanonen und Beschneiung diskutiert. Dass die Schneekanone immer noch als Feindbild herhalten muss.
Die Schneekanone ist seit ihrer Erfindung eine Art Teufelswerkzeug. Schliesslich spielt der Mensch mit ihr Gott. Ein Instrument der Hybris, das das Wild verschreckt, die Landschaft verschandelt, das Wasser verbraucht und verpestet und Strom verschlingt. Der CEO Gummerer erzählt, dass in Eggental der Skigebietsdirektor jahrelang vor den Journalisten technischen Schnee gegessen habe, um zu beweisen, dass dieser frei von Chemie sei. So gross war das Misstrauen.
Anfang der neunziger Jahre hat Technoalpin seine Kanonen deswegen blau-grau lackiert. Tarnfarbe nennt Gummerer das heute. Die Skigebietsbetreiber wollten die Maschinen möglichst verstecken. Dann verlangte ein Skigebiet nach gelb bemalten Kanonen, weil vom Traktor über den Pistenbully bis zu den Skiliften alles gelb angemalt war. Und Technoalpin begann umzudenken.
Die Skifahrer haben sich heute zwar an den Anblick der Schneekanonen gewöhnt. Aber sie stehen immer noch für all das, was den Massentourismus in den Bergen unsympathisch macht. In Laax kommt es immer wieder vor, dass Skifahrer oder Spaziergänger die Maschinen abschalten. Das geht ganz einfach: Man schlägt mit der Hand auf den Notknopf, und die Kanone hört auf zu schneien. Ob die Leute betrunken sind und sich einen Spass erlauben oder ob sie wirklich gegen künstliche Beschneiung sind, weiss in Laax niemand.
Im Wallis weiss man es hingegen sehr genau. In Verbier sind im Januar mehrere Beschneiungsanlagen beschädigt worden. Auf den kaputten Kanonen standen in roter Farbe Parolen gegen den Klimawandel.
Bei der Technoalpin sind sie überzeugt, dass ihre Schneeanlagen trotz Klimawandel auch in dreissig, vierzig Jahren noch funktionieren werden. Das Klima können sie nicht retten, den Wintertourismus hingegen schon. Was sie dafür brauchen, sind 50 Stunden Kälte, genug Wasser und vor allem effizientere Maschinen. Eine andere Frage ist, wie lange das alles noch Sinn ergibt. Ob die Beschneiung Skigebiete künstlich am Leben hält, die dann in zwanzig Jahren sowieso aufgeben müssen, weil sie sich ihre ganze Infrastruktur nicht mehr leisten können.
Noch widersinniger erscheint die technische Beschneiung angesichts des Klimawandels. Wie stark sie der Umwelt tatsächlich schadet, ist allerdings nicht einfach zu beantworten. Wasser geht bei der technischen Beschneiung nicht verloren. Der technische Schnee schmilzt im Frühling und versickert im Boden. Aber Wasser wird auch in den Bergen knapper werden, Nutzungskonflikte sind vorprogrammiert.
Was sich genauer berechnen lässt: Wie viel Energie die Beschneiung in einer Skisaison braucht. Gemäss Seilbahnen Schweiz sind es 65 Gigawattstunden. Das sind 40 Prozent des gesamten Stromverbrauchs der Schweiz an einem Tag.
Umweltschutzorganisationen wie zum Beispiel Mountain Wilderness finden das klar zu viel. In Deutschland hat Mountain Wilderness gerade einen Protest gegen künstliche Beschneiung gestartet. Der Schweizer Ableger plant zwar momentan zum Thema keine politische Arbeit, aber sagt: «Es ist absurd, dass durch Schneekanonen der Klimawandel befeuert und der Winter künstlich konserviert wird.»
65 Gigawattstunden ist eine abstrakte Zahl, und auch der Vergleich mit dem Stromverbrauch der Schweiz scheint irgendwie wenig hilfreich, um einzuordnen, wie umweltschädlich die Beschneiung ist. Schneekönig Gummerer sagt: «Der Flugreiseverkehr verbraucht ja Unmengen mehr Energie als die Beschneiung.» Und meint damit: Man sollte darüber nachdenken, wie sich all die Skifahrer vergnügen würden, wenn es keine Skigebiete mehr gäbe.
Mit sanftem Tourismus, entgegnen die Umweltschützer dann und nennen Winterwandern oder Schlittschuhlaufen als Alternativen. Aber Skitourismus ist heute Massentourismus. Die drei Millionen Menschen, die in der Schweiz immer noch regelmässig Skifahren, werden nicht einfach zu Winterspaziergängern. Sondern zu Fluggästen, die in die Wärme fliehen oder dorthin fliegen, wo immer noch Schnee liegt.
An Wanderern werden die Winterorte sowieso nie genug verdienen. Skilifte und Schneekanonen sind für die Menschen in den Bergtälern notwendige Infrastruktur, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Produktmanager von Technoalpin sagt: «Irgendwann muss man sich auch entscheiden: Will man in den Bergen wirtschaften, arbeiten und leben – oder will man das nicht?»
Für viele Stadtbewohner, die in die Berge fahren, ist die Schneekanone ein Objekt in der Natur, das irritiert. Eine künstliche Installation des Menschen, die sie daran erinnert, was aus dem Naturerlebnis Skifahren geworden ist: ein Industrieprodukt in einer hochtechnologisierten Sportarena.
Bei Technoalpin erzählt man sich eine Geschichte. In einem Skigebiet in der Nähe sei im Sommer ein Lift erneuert worden. Eine Wanderin habe das dortige Büro betreten, den Tränen nahe, und sich über die Zerstörung der Natur beklagt. Das gehe doch nicht. Da sei sie gefragt worden, wie sie denn auf den Berg gekommen sei. Dann machen sie bei Technoalpin eine Pause in der Erzählung und sagen: Mit der Seilbahn natürlich.
Die Geschichte klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Aber für die Leute von Technoalpin ist sie wahr.