Jobs für Joe
von Katharina Kort, Astrid Dörner, Felix Holtermann, Moritz Koch und Annett Meiritz
Handelsblatt vom 05.05.2023
Mit dem Chips Act und dem Inflation Reduction Act vollführten die USA einen Paradigmenwechsel in ihrer Industriepolitik: Lieferketten sollen zurück ins Land verlagert werden, die Förderung des freien Weltmarkts soll amerikanischem Protektionismus gegen autokratische Regime weichen. Europa plant eine eigene Subventionsinitiative, der Green Deal Industrial Plan soll weniger komplex, kleinteilig und langsam sein. Der Artikel diskutiert Joe Bidens Wiederwahl, Anreize der amerikanischen Bundesstaaten und transatlantische Konkurrenz.
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Jobs für Joe
Die Zukunft der USA passt in eine 16.000 Quadratmeter große Ausstellungshalle. Die 50 US-Bundesstaaten präsentieren sich im Gaylord Convention Center, einem Kongresszentrum am Rande Washingtons, von ihrer besten Seite – mit dem Ziel, so viele Investoren wie möglich anzulocken.
Gigantische Werbetafeln verraten, wo die „Future of Innovation“ (Indiana) zu finden ist, wo „Passion meets Purpose“ (Colorado) oder wo „The good life is calling“ (Nebraska). Auf dem „Select USA“-Kongress gab es in dieser Woche keine Provinznester, sondern nur Chancen. In Zeiten, in denen staatliche Fördermittel in den USA milliardenweise verteilt werden, brummt das Geschäft mit den Firmenansiedlungen. Allein deutsche Unternehmen waren mit mehreren Dutzend Vertretern vor Ort.
„Es gibt keinen besseren Ort für Ihr Geschäft als die Vereinigten Staaten“, ruft US-Wirtschaftsministerin Gina Raimondo zum Auftakt des Kongresses und preist die „historischen Investitionen“ der Regierung von Präsident Joe Biden, „um die nächste Generation amerikanischer Innovationen zu entfesseln“. Laut Raimondo flossen im vergangenen Jahr 248 Milliarden US-Dollar an ausländischem Unternehmenskapital ins Land. Ein Rekord, der 2023 wahrscheinlich gebrochen wird.
Kein Wunder, denn unter seiner Präsidentschaft wurden die zwei größten industriepolitischen Förderprogramme aller Zeiten beschlossen: Im August 2022 unterzeichnete Biden zunächst den „Chips Act“, der die Halbleiterbranche in den USA mit 280 Milliarden US-Dollar fördert. Darin enthalten sind direkte Subventionen, Steueranreize und Mittel für Forschung und Entwicklung.
Wenige Tage später folgte der „Inflation Reduction Act“, kurz IRA. Er pumpt laut Regierungsschätzung knapp 370 Milliarden US-Dollar ins verarbeitende Gewerbe mit einem Schwerpunkt auf grünen Zukunftstechnologien.
Da der IRA vor allem auf nicht gedeckelten Steuererleichterungen beruht, könnten am Ende auch weit größere Fördersummen herauskommen. Die US-Ökonomen John Bistline, Neil Mehrotra und Catherine Wolfram halten eine Fördersumme von 1,2 Billionen Dollar für denkbar.
Das würde ein Vielfaches an investiertem Kapital bedeuten. In den acht Monaten seit der Verabschiedung von Chips Act und IRA haben Unternehmen laut Jack Conness von der University of Washington bereits mehr als 216 Milliarden Dollar an Investitionen angekündigt und wollen damit 77.000 Jobs schaffen. Im kommenden Jahrzehnt könne der IRA allein für saubere Energieprojekte bis zu drei Billionen Dollar an Investitionen mobilisieren, schätzen die Analysten von Goldman Sachs in einem Report.
Mit „Bidenomics“, wie die Wirtschaftspolitik des Präsidenten in den USA inzwischen genannt wird, könnte gelingen, was Vorgänger Donald Trump einst nur versprochen hatte: eine Renaissance der amerikanischen Industrie. Finanziert freilich durch immer neue Staatsschulden. Das Haushaltsdefizit der USA lag 2022 bei 5,5 Prozent der US-Wirtschaftsleistung und dürfte in den kommenden Jahren weiter ansteigen.
Seit Bidens Amtsantritt kamen 800.000 neue Jobs in der Fertigung dazu. Insgesamt knapp 13 Millionen Amerikaner arbeiten heute im produzierenden Gewerbe – fast 200.000 mehr als vor der Pandemie. Wo einst die Schwerindustrie im „Rust Belt“ der USA verkümmerte, beleben nun Ausläufer eines „Battery Belt“ für Zukunftstechnologien ganze Regionen. Und fast täglich kommen neue Ankündigungen hinzu – von neuen Chip- über Autofabriken bis hin zu Forschungs- und Entwicklungszentren.
Zugleich setzt das Biden-Programm andere Wirtschaftsmächte unter Druck. Wenn Amerika profitiert – wer verliert dann? Da wäre zum einen China. Biden will vollbringen, was Trump nicht schaffte: Chinas Einfluss auf Zukunftsbranchen zumindest eindämmen.
Doch nicht nur Peking muss sich Sorgen machen, sondern auch Europa und hier insbesondere der Industriestandort Nummer eins des Kontinents, Deutschland. Eine Studie des Jacques Delors Centre, die [dem Medium] exklusiv vorliegt, hat nach Sektoren errechnet, wie stark sich die Produktion in den USA durch den IRA verbilligt – und wo Europa dadurch unter die Räder zu geraten droht.
Bei Batterien etwa dürften die durchschnittlichen Produktionskosten in den USA um ein Drittel sinken. Das wäre deutlich günstiger als in Europa und konkurrenzfähig gegenüber den führenden Herstellern aus China.
Dazu nutzen die USA ökonomische Anreize, die mit den Regeln der World Trade Organization (WTO) nicht vereinbar sind: Vorrechte für Firmen, die in den USA produzieren oder von dort ihre Rohstoffe beziehen, müssen ebenso für solche Unternehmen gelten, die das in anderen WTO-Mitgliedstaaten tun. Sowohl der Chips Act als auch der IRA verstoßen in mehreren Punkten dagegen.
Unter anderem fördern die USA den Kauf von E-Autos mit bis zu 7500 Dollar pro Fahrzeug, jedoch nur dann, wenn die Modelle und Batteriekomponenten überwiegend in den USA gefertigt wurden. EU-Hersteller fürchten massive Benachteiligungen auf dem US-Markt.
Und auch der Chips Act stellt Bedingungen auf: Wer in den Genuss der Anreize kommen will, darf unter anderem für zehn Jahre keine neuen Geschäfte mit China abschließen.
Theoretisch könnten die Europäer oder China die USA vor einem WTO-Schiedsgericht verklagen und würden irgendwann vermutlich recht bekommen. Doch ändern würde das vermutlich nichts.
Die EU-Kommission präferiert daher eine andere Antwort auf IRA und Chips Act: Es wird zurücksubventioniert. Mit eigenen industriepolitischen Programmen und gelockerten Beihilferegeln wollen die Europäer nun selbst Unternehmen aus Zukunftsbranchen anlocken oder zumindest am Abwandern in die USA hindern. Das neue transatlantische Dogma lautet: Gut ist, was Jobs bringt.
1. Der Mann hinter Joe Bidens Plan
„Wir stehen an der Schwelle zu einer Revolution!“, ruft Biden an einem Dienstag Ende April in den Ballsaal des Washingtoner Hilton. Die Milliardenpakete für Infrastruktur, grüne Technologien, Chips und Fertigung seien „die bedeutendsten Investitionen in der Geschichte der Welt“.
Gerade hat er angekündigt, bei der Präsidentschaftswahl im November 2024 erneut antreten zu wollen. Biden wird dann 82 Jahre alt sein. Doch von „Sleepy Joe“, vom schläfrigen Joe, wie ihn seine Gegner verspotten, ist im Hilton nichts zu spüren. Seine erste öffentliche Rede nach der Verkündigung hält Biden vor der Jahreskonferenz der North America’s Building Trades Unions, eines Gewerkschafts-Dachverbands.
Biden ist hier unter Freunden. „Four more years!“ ruft ihm das Publikum entgegen. Auf der Bühne preist Biden das „Comeback im Fertigungsbusiness“ an: „Wir stellen amerikanische Produkte her, von amerikanischen Arbeitern, mit amerikanischem Material.“ Mit diesem Versprechen will er die nächste Wahl gewinnen.
Wer die Ursprünge – und damit die Zukunftsvision – von Bidens Industriepolitik verstehen will, kommt an Jake Sullivan nicht vorbei. Der 46-Jährige ist der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus. Er begleitet Biden seit dessen Zeit als Vizepräsident von Barack Obama und ist der Kopf hinter Bidens Industriepolitik.
Im September 2020, nur wenige Wochen vor Bidens Wahlsieg gegen Trump, veröffentlichte Sullivan ein Konzeptpapier mit dem Titel „Why foreign policy has to work for the middle class“ – warum die Außenpolitik der USA vor allem der amerikanischen Mittelklasse zugutekommen müsse. In Teilen erinnerte der Inhalt an Trumps „America first“, nur war das Papier strategischer aufgebaut und netter formuliert – in der Sache jedoch nicht weniger radikal.
Im Kern forderte Sullivan, dass Lieferketten in die USA zurückverlagert werden müssen. Um den Niedergang des produzierenden Gewerbes zu stoppen und um unabhängiger von Gegnern wie China und Russland zu werden. Im Rückblick liest sich Sullivans Konzept wie eine Blaupause für Bidens Gesetzespakete.
Bei Sullivans Auftritt bei der Denkfabrik Brookings am vergangenen Donnerstag drängeln sich die Zuschauer bis auf den Flur. Sullivan präsentiert ihnen das „big picture“ eines „Paradigmenwechsels“ in der Industriepolitik, den er mit „den neuen Weltordnungen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg“ vergleicht: „Amerika hat nicht einfach nur Produktion verloren.“
Gescheitert sei vielmehr das Konzept der „ökonomischen Integration“ Chinas, etwa über die WTO. Wirtschaft und nationale Sicherheit gingen dabei Hand in Hand. „China wurde nicht daran gehindert, seine militärischen Ambitionen auszuweiten, und Russland wurde nicht daran gehindert, seinen Nachbarn zu überfallen. Keines der Länder wurde verantwortungsbewusster“, mahnt Sullivan.
Auch in den USA gibt es Kritik an den hohen Kosten der Biden-Subventionen – und ihren Zielen. Eine Zuschauerin fragt, warum die USA nicht lieber das viele Geld nähmen und es in Kitaplätze steckten, eine gute Ausbildung und soziale Absicherung? Sullivan lächelt milde.
Er als Demokrat würde das soziale Netz sofort stärken, „wenn die Republikaner mitmachen“. Aber all das funktioniere nicht ohne eine solide Basis, ohne Wachstumsaussichten und sichere Arbeitsplätze.
2. Run auf Amerika
Ende März tritt Scott Keogh aus dem Hauptportal des State Capitol von South Carolina. Gemeinsam mit dem Gouverneur und allen Parlamentsabgeordneten des Bundesstaats schreitet Keogh die Freitreppe herunter und tritt ans Mikrofon. „Es ist an der Zeit, dass Amerika wieder groß träumt. Und wieder großartige Dinge baut“, ruft der US-Chef der neuen VW-Konzerntochter Scout.
Zwei Milliarden Dollar investiert Volkswagen in South Carolina. Hinzu kommen weitere Millioneninvestitionen bei Zulieferern. 200.000 Elektro-Pick-ups und -SUVs vom Typ Scout sollen hier ab Ende 2026 jährlich vom Band rollen, 4000 Jobs geschaffen werden.
Volkswagen will an die Biden-Subventionen ran. Und die 7500 Dollar Steuerrabatt aus dem IRA bekommen nun einmal nur Autos, die in den USA produziert werden und deren Batteriematerialien zu großen Teilen aus Nordamerika stammen.
„South Carolina ist offen für Business“, sagt der Gouverneur des Staates, Henry McMaster, [dem Medium]. Und legt zu den Subventionen aus Washington noch Geld obendrauf.
VW profitiert insgesamt von Anreizen in Höhe von 1,291 Milliarden Dollar, über 60 Prozent der Investitionssumme: Steuergutschriften von bis zu 180 Millionen Dollar, ein 200-Millionen-Dollar-Darlehen und Gewerbeflächen zum Sonderpreis. Der zuständige Landkreis („County“) finanziert Scout sogar drei Jahre lang die Firmenbüros.
Auch BMW investiert 1,7 Milliarden Dollar im nahen Spartanburg, wie der Autobauer im Herbst erklärte. Das dortige größte Werk des Konzerns wird für eine Milliarde Dollar auf die Produktion von Elektroautos vorbereitet. 700 Millionen Dollar fließen in den Aufbau einer eigenen Batteriefertigung.
Offiziell erklärt BMW zwar, seine langfristigen Investitionsentscheidungen nicht von Förderpaketen aus Washington abhängig zu machen. Hinter verschlossenen Türen bestätigen Manager der großen Autokonzerne aber die Sogwirkung der Programme.
Laut [Medium]-Informationen erwägen sowohl Mercedes-Benz als auch BMW aktuell, die Elektroproduktion in Nordamerika auszuweiten. Die Autos der Schwaben und Bayern kommen bisher nur beim Leasing in den Genuss der IRA-Subventionen für Elektroautos. Durch verstärkte lokale Produktion und Rohstoffbeschaffung soll sich das ändern.
Ein weiteres Ziel der Biden-Regierung ist der Ausbau der Ladenetze für Strom- und Wasserstofffahrzeuge. Auch hier sieht der IRA Steuergutschriften von bis zu 30 Prozent vor. Daimler Truck investiert in ein 650 Millionen Dollar schweres Joint Venture zum Aufbau eines Strom- und Wasserstoff-Tankstellennetzes. Mercedes-Benz hat im Januar Pläne für ein Schnellladenetz in Nordamerika vorgestellt. Investitionsvolumen: 500 Millionen Dollar.
Gradmesser für den grünen Boom sind Gigafactorys, riesige Anlagen zur Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien. Die Gründungen sind zuletzt „durch die Decke gegangen“, sagt Michael Plante, Experte für Elektromobilität an der Federal Reserve Bank von Dallas.
So flossen seit Bidens Amtsantritt mehr als 54 Milliarden US-Dollar in neue Batterieprojekte, hat Plante errechnet. Besonders nach dem IRA zog das Tempo an. Zwischen August und Dezember 2022 wurden Produktionsanlagen im Wert von 16 Milliarden Dollar angekündigt. Das ist mehr als dreimal so viel wie im gesamten Zeitraum von 2018 bis 2020.
Der schwedische Batteriehersteller Northvolt erwägt derzeit, ein neues Werk nicht wie geplant im deutschen Heide aufzubauen, sondern doch lieber in die USA zu gehen. „Wir setzen uns derzeit mit den jeweiligen, vor Ort geltenden Rahmenbedingungen auseinander“, erklärt der deutsche Northvolt-Sprecher Martin Höfelmann.
Die EU hat auf den Inflation Reduction Act von US-Präsident Biden reagiert und ebenfalls finanzielle Hilfen für Industrieansiedelungen in Aussicht gestellt. Höfelmann: „Wir analysieren das derzeit.“
Deutschland und die EU stecken in einem Dilemma: Entweder sie versuchen, mit den Biden-Subventionen mitzuhalten– was viele Milliarden an Steuergeld kosten wird. Oder sie riskieren, dass immer mehr Unternehmen aus grünen Zukunftsbranchen auf die andere Seite des Atlantiks abwandern.
3. Europas schwierige Antwort auf die USA
Ursula von der Leyen strahlt. Hinter ihr prasselt der Kamin, und neben ihr stimmt Joe Biden ein Loblied auf die Führungsstärke der EU-Kommissionschefin an. Im März ist sie nach Washington geeilt, Ziel der Mission: Die protektionistischen Vorgaben des IRA zu entschärfen.
Bei ihrer Audienz im Oval Office erreicht von der Leyen ein paar Zugeständnisse. Doch von ihrer wirtschaftsnationalistischen Grundausrichtung rücken die USA nicht ab.
Nach der Verabschiedung des IRA dauerte es Monate, ehe die Europäer die industriepolitische Intention des Gesetzes verstanden. Die Reaktionen fielen dann umso heftiger aus. Die Angebote an europäische Firmen seien „super aggressiv“, beschwerte sich Frankreichs Präsident Macron.
Die EU-Kommission, durch die Subventionsoffensive der Amerikaner aufgeschreckt, bastelte eilig ein eigenes Gesetzespaket zusammen: den Green Deal Industrial Plan. Kernstück ist ein Förderprogramm für grüne Technologien – und implizit das Eingeständnis, dass die bisherigen Bestrebungen der EU in diesem Bereich zu komplex, zu kleinteilig, zu langsam waren.
Mit dem Green Deal Industrial Plan steigen die Europäer in den Subventionswettbewerb ein, den sie eigentlich verhindern wollten. Firmen, die Förderangebote aus Amerika erhalten, sollen künftig in Europa ebenso stark gefördert werden können. Dafür lockert die EU das Beihilferecht.
Auf den ersten Blick ähneln sich die Programme der Amerikaner und der Europäer. So subventionieren die USA den Kauf eines Elektroautos mit 7500 Dollar, die EU-Staaten fördern im Schnitt mit 6000 Dollar, wie das Brüsseler Wirtschaftsinstitut Bruegel errechnet hat.
Die Clean-Tech-Industrie erhält in den USA demnach Beihilfen von 37 Milliarden, in Europa sind es 35 Milliarden Dollar. Die Produktion erneuerbarer Energie wird in Europa mit 800 Milliarden sogar wesentlich stärker gefördert als in Amerika mit 208 Milliarden Dollar.
Die Unterschiede werden erst auf den zweiten Blick deutlich. Die US-Zahlen sind lediglich Schätzungen, wie stark die nicht gedeckelten Subventionen tatsächlich in Anspruch genommen werden. Auch die Art der Subvention unterscheidet sich.
Kern der europäischen Industriepolitik sind die sogenannten Ipceis – wichtige gemeinsame Projekte im europäischen Interesse. Diese erlauben Ausnahmen von den strengen Beihilferegeln des EU-Binnenmarkts, um strategische Vorhaben voranzutreiben, die Energiewende etwa oder die digitale Transformation.
Insgesamt fünf solcher Ipceis gibt es inzwischen: zwei für Wasserstoff, zwei für Batterien, eines für Mikrochips. Aber mit ihnen darf nur die Markteinführung neuer Technologien gefördert werden, nicht der industrielle Hochlauf verfügbarer Produkte.
Anders in den USA. „Der IRA konzentriert sich hauptsächlich auf die massenhafte Einführung von Technologien der aktuellen Generation“, bilanziert eine Bruegel-Studie. Darüber hinaus diskriminierten die USA ausländische Firmen, wohingegen die europäischen Beihilfen im Prinzip allen Anbietern offenständen.
Was den IRA aus Unternehmenssicht attraktiv macht: Er fördert auf besonders einfache Weise – mittels Steuergutschriften über zehn Jahre. Vereinfacht gesagt: Für ihre grünen Investitionen bekommen die Unternehmen einen bestimmten Prozentsatz der Investitionssumme vom Finanzamt zurück. Dagegen sind die europäischen Beihilfen ein kompliziertes Geflecht aus unterschiedlichen Förderprogrammen, um die sich Firmen bewerben müssen.
Bruegel-Direktor Jeromin Zettelmeyer sieht im IRA dennoch eine Chance – auch für Europa: „Die Welt ist mit dem IRA besser als ohne.“ Nicht nur, weil das Gesetz ein „wichtiges Klimainstrument“ sei. Sondern auch, weil die USA eine Alternative zu chinesischen Produkten in Bereichen wie Solarzellen schafften: „Diese positiven Aspekte wiegen die Nachteile für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auf, so sehr man die ernst nehmen muss.“
Erste Ansätze für eine Annäherung zwischen Washington und Brüssel gibt es. So verabredeten die beiden Seiten eine transatlantische Rohstoffpartnerschaft. Ziel ist ein neues Lieferkettennetzwerk für kritische Rohstoffe, Mineralien und seltene Erden – mit den G7-Staaten als Ankerpunkt und in Abgrenzung zu China. Details könnten beim G7-Gipfel am 19. Mai in Hiroshima bekannt werden. Das Abkommen wäre der erste Schritt zu einem „Käuferklub“ für kritische Mineralien innerhalb der G7.
Wird die Rohstoffpartnerschaft besiegelt, könnten europäische Batteriehersteller doch noch von den IRA-Subventionen profitieren. Beispielsweise könnte ein in der EU ansässiges Unternehmen Lithium, Nickel oder andere Materialien für in Nordamerika hergestellte Elektrofahrzeuge liefern – und käme in den Vorzug der Anreize. Doch damit erschöpft sich das amerikanische Entgegenkommen.
Gerade im Bereich der kritischen Rohstoffe fürchtet Brüssel, dass die USA das begrenzte, nicht-chinesische Angebot auf dem Weltmarkt abgreifen und die Abhängigkeit Europas von China damit sogar verstärken könnten. Dieses Argument nutzte Ursula von der Leyen auch, als sie Biden im Weißen Haus besuchte: Es könne nicht im Interesse der Amerikaner sein, ihre Bündnispartner noch stärker in die Arme der Chinesen zu treiben.
Die USA sehen in ihrem Ansatz freilich keinen Widerspruch. Protektionismus ist Teil ihrer Industriepolitik, und Industriepolitik Teil ihrer Chinapolitik.
Diese Industriepolitik ist keineswegs auf Batteriefabriken begrenzt. „Das Gesetzespaket zeigt vor allem, dass die USA den klaren Willen zur Reindustrialisierung haben“, sagt Lanxess-Vorstandschef Matthias Zachert bei einer Veranstaltung in New York. Deutschland hingegen verliere wegen seiner Bürokratie immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit.
„Wir bei Lanxess prüfen derzeit daher intensiv, welche unserer Wachstumsprojekte im Rahmen des Inflation Reduction Act förderfähig sind, und danach werden wir unsere Investitionsentscheidungen ausrichten“, sagt Zachert. „Wir wollen unsere deutschen Standorte verteidigen – aber Zukunftsinvestitionen wird es wohl vor allem in den USA geben.“
Neben dem IRA wirkt auch der Chips Act als Investitionsbeschleuniger. Erst vergangene Woche hat Bosch das mit 1,5 Milliarden Dollar größte Investment der Konzerngeschichte angekündigt. Bosch kauft eine bestehende Chipfabrik des kalifornischen Unternehmens TSI Semiconductors. Ein wichtiger Anreiz: die großzügigen Subventionen aus Washington und aus Kalifornien, wie Bosch unverhohlen zugibt.
Bis Mitte des Jahrzehnts dürften Chipkonzerne mehr als 122 Milliarden Dollar in neue Werke in den USA stecken, zeigte eine Auswertung des Lieferkettenspezialisten Everstream für [das Medium]. In der EU gingen bis 2025 lediglich Fabriken mit einem Investitionsvolumen von 32 Milliarden Dollar in Betrieb.
Windanlagenbauer, Autobauer, Chemiekonzerne, Chipfirmen: „Es gibt kaum Unternehmen, die die USA derzeit nicht auf der Agenda haben“, sagt Julian Schoof, der das Investmentbanking der Deutschen Bank im deutschsprachigen Raum leitet.
Unternehmen verlagerten ihre Produktion nicht direkt weg aus Deutschland. „Aber wenn sie darüber nachdenken zu expandieren, dann schauen sie derzeit verstärkt in die USA“, sagt Schoof. „Das liegt nicht nur am IRA, sondern auch an den niedrigen Energiekosten und dem starken US-Markt.“
Und schließlich fließe nicht nur aus Washington Geld. Auch die Bundesstaaten buhlten um Unternehmen. Sie setzen dabei nicht nur eigene Subventionen auf die der Bundesebene, sondern bieten auch einen Rundumservice, von dem investitionswillige Unternehmen in Deutschland oft nur träumen können. „Viele Bundesstaaten rollen uns derzeit den roten Teppich aus“, berichtet Lanxess-Chef Zachert. „Das geht von finanzieller Förderung bis hin zu extrem unbürokratischen und schnellen Genehmigungsverfahren.“
4. Buhlen auf allen Ebenen
Auf dem „Select USA“-Gipfel müssen die US-Bundesstaaten auffallen, wenn sie nicht in der Masse der Aussteller untergehen wollen. Das ländliche Kansas hat sein Separee mit Kornähren umkränzt und verteilt Jumbo-Schokoladenkekse.
New York bietet Mini-Fusselroller an. Am Stand von Georgia wird um Punkt 17 Uhr eine Bar aufgebaut. Es gibt Rotwein aus dem Bundesstaat im Südosten der USA, Craft-Bier und grünen Spargel in Blätterteig. Eine große Delegation aus Japan lässt sich einschenken.
Allein seit Herbst 2022 hat ein halbes Dutzend deutsche Unternehmen Georgia zum Investitionsziel gemacht: Aurubis investiert 340 Millionen Dollar in eine neue Metallrecyclinganlage, Hapag-Lloyd 18 Millionen Dollar in die neue Nordamerikazentrale, Böhringer Ingelheim 57 Millionen Dollar in ein Forschungszentrum. Georgia schickt im Rahmen des Weiterbildungsprogramms „Quick Start“ eigene Mitarbeiter nach Deutschland, die Zeit in einer investitionswilligen Firma verbringen, um zu prüfen, welche Fähigkeiten das Unternehmen braucht.
Der Bundesstaat Virginia wiederum hat einen eigenen Talent Accelerator, der nicht nur die benötigten Fachkräfte für investitionswillige Unternehmen ausbildet, sondern auch das Recruiting übernimmt, berichtet Antje Abshoff. Sie leitet die internationale Wirtschaftsförderung Virginias.
Ihr Werben hat Erfolg: Der dänische Spielzeughersteller Lego hat 2022 eine neue Fabrik für rund eine Milliarde Dollar angekündigt, in der 1750 Menschen arbeiten sollen. Da der Spielzeugriese seine Energie aus einer neben der Fabrik angesiedelte neuen Solaranlage bekommen will, profitiert auch er von der Biden-Förderung.
„Wir helfen dabei, unsere Unternehmen darüber aufzuklären, wie sie die komplizierten Steuergutschriften nutzen können“, berichtet Ned Lamont, demokratischer Gouverneur von Connecticut. „In Connecticut sehen wir vor allem rund um Ladegeräte für E-Mobilität viel Interesse. Bei Anfragen aus dem Ausland geht es am häufigsten um Batterietechnologie.“
Dominick Casey, Stadtdirektor von Roseville, stellt Bosch am Standort seiner neuen Chipfertigung in Kalifornien besonders günstige Energiepreise in Aussicht. Roseville habe einen eigenen Elektrizitätsversorger. „Für Großabnehmer wie Bosch gibt es natürlich Rabatt“, so Casey. Möglich seien Strompreise von unter zehn Cent je Kilowattstunde, rund ein Viertel des deutschen Werts.
Billige Strompreise sind eine traditionelle Stärke der USA. Zusammen mit den Subventionspaketen wirken sie als wahre Investitionsbeschleuniger – gerade für energieintensive Branchen. Viele Bundesstaaten haben außerdem sogenannte „shovel-ready sites“ ausgewiesen – Gewerbegrundstücke, die bereits eine Strom-, Wasser- und Straßenanbindung haben.
5. Das Trump-Trauma wirkt nach
Im April hat Christian Sewing im New Yorker Edelrestaurant „Cipriani“ gerade eine Managerauszeichnung vom American German Institute erhalten. Seine Dankesrede nutzt der Deutsche-Bank-Chef, um vor einem Hochschaukeln der protektionistischen Maßnahmen auf beiden Seiten des Atlantiks zu warnen.
„Ein Auge-um-Auge-Ansatz wäre für beide Seiten schädlich“, ruft Sewing. Das Publikum applaudiert, es sind vor allem Unternehmensvertreter. Wall Street, nicht Main Street, wie man in den USA sagt. Nicht das Publikum also, das bei den nächsten Wahlen über eine weitere Amtszeit für Biden entscheidet.
Tief sitzt bei Biden der Schock von 2016, als Donald Trump auch deshalb siegte, weil er besonders viele Stimmen unter weißen Arbeitern holte, eigentlich demokratische Stammwählerschaft. Die damalige Kandidatin Hillary Clinton galt bei dieser Klientel als arrogant und abgehoben. Zu viel Wall Street, zu wenig Main Street.
Auch für Biden geht es bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ums politische Überleben. Seine mauen Beliebtheitswerte spiegeln die Erfolge von „Bidenomics“ bislang nicht wider. Fast die Hälfte der demokratischen Anhänger sieht seine erneute Kandidatur skeptisch, vor allem wegen seines hohen Alters.
Im Wahlkampf dürfte Biden umso stärker darauf setzen, dass die Erfolgsnachrichten von der Industriefront bei der Masse der Wähler ankommen. Connecticut-Gouverneur Lamont bringt die Hoffnung auf den Punkt: „Ich denke, dass er wiedergewählt werden wird. Weil sein Vorgänger alle sehr nervös gemacht hat und weil Biden das größte Infrastrukturgesetz durchgesetzt hat, das dieses Land seit Dwight Eisenhower gesehen hat.“
Wichtige Swing-Staaten wie Pennsylvania, Michigan, Ohio oder Georgia profitieren besonders vom Boom in der Fertigung. Diese Staaten schwanken politisch mal in die eine, mal in die andere Richtung und entscheiden in Zeiten knapper Mehrheiten über die Macht im Weißen Haus.
Diesen potenziellen Vorteil will Biden nicht verspielen. Und das ist auch der Grund, warum die USA der EU im Subventionsstreit nicht grundlegend entgegenkommen dürften. Mit dem IRA hat Washington bewiesen, dass die US-Regierung im Zweifel vorprescht, Fakten schafft – und erwartet, dass ihre Handelspartner nachziehen.
Das Weiße Haus versucht nicht einmal, diese Absicht zu kaschieren. „Wir wollen hier in unserem Land Dinge erschaffen. Aber wir bitten alle anderen Verbündeten, sich uns anzuschließen“, sagt Biden-Berater Sullivan. Dann, so Sullivan, könnte „aus anfänglicher Reibung ein neues, gemeinsames Zeitalter der Stärke“ entstehen.
Von einem „New Washington Consensus“ ist in den USA die Rede. Gemeint ist ein radikaler Bruch mit der liberalen Doktrin der 90er- und 2000er-Jahre – ebenfalls unter dem Schlagwort „Washington Consensus“. Damals ging es darum, Märkte zu öffnen, Regulierung abzubauen und Staatsausgaben zu begrenzen.
Inzwischen hat sich sowohl bei den Demokraten als auch bei vielen Republikanern die Einschätzung durchgesetzt, dass der Marktliberalismus ein schlechter Deal für Amerika und ein guter Deal für China war. Die Chinesen nahmen den freien Weltmarkt gern in Anspruch, ohne ihren eigenen Markt zu öffnen. Die Antwort der Amerikaner ist ein eigener Wirtschaftsnationalismus – zu dessen Spielball die deutsche Industrie zu werden droht.