Goldene Ära
von Joshua Kocher
ZEITmagazin vom 29.05.2023
Der Biologe Peter Beyer entwickelte in den 1990ern eine gentechisch veränderte Reispflanze, deren Vitamin-A-Gehalt Mangelernährung weltweit lindern könnte. Aufgrund von Protesten durch Umweltaktivisten und Gentechnik-Skepsis wurde sie bisher nicht zugelassen. Der Artikel begleitet den Biologen auf einer Reise zum ersten Anbauprojekt auf den Philippinen und erzählt die Geschichte des umstrittenen Produktes.
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Goldene Ära
Der Biologe Peter Beyer tritt um sieben Uhr morgens durch die Tür eines Konferenzhotels hinaus in die Schwüle der philippinischen Stadt Iloilo. Er trägt Karohemd, Socken und Sandalen. Draußen brummt schon der Motor eines Reisebusses, der den großen, schlaksigen Mann gleich ins Hinterland der Insel fahren wird. Hin zum bislang wahrscheinlich größten Moment seiner Forscherkarriere.
Beinahe hätte Beyer, 70 Jahre alt, diesen Moment nicht mehr erlebt. Es war im Sommer vor drei Jahren, als er plötzlich Stiche in der Brust spürte, das Herz, sagte der Notarzt, doch das Röntgenbild zeigte: Es ist die Lunge. Der Krebs hatte schon den gesamten rechten Flügel zerfressen. In einer Notoperation schnitten ihn die Chirurgen gerade noch rechtzeitig heraus.
Wochenlang hatte Peter Beyer vor seiner Reise auf die Philippinen zu Hause in einem Dorf bei Freiburg im Breisgau überlegt, ob er genügend Kraft dafür hat. Er ist kurzatmig geworden und starke Anstrengung sollte er vermeiden. Außerdem schmerzen ihn die Narben; oft steht er deshalb leicht gekrümmt da. „Diese Reise ist ein Härtetest für mich“, sagte er vor dem Abflug. Einer von vielen in seinem Leben.
Doch nun läuft Peter Beyer unter Palmen hindurch zu dem Bus, der am Straßenrand wartet und sagt zum Fahrer: „Es wäre besser, wenn du mich fahren lässt, dann brauchen wir nicht so lange.“ Der lacht bloß. Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.
25 Jahre lang hat Peter Beyer auf diesen Tag gewartet. Gleich wird er sich zum ersten Mal in seinem Leben eine Pflanze in freier Wildbahn anschauen. Seine Pflanze.
1993 hatten Beyer und sein Kollege Ingo Potrykus einen tollkühnen Plan. Sie wollten die Gene im Embryo eines Reiskorns so manipulieren, dass die Pflanze, die daraus erwächst, in ihren Körnern den Farbstoff Beta-Karotin ausschüttet. Das können sonst nur Karotten, Spinat, Paprika, Mangos und ein paar andere Obst- und Gemüsesorten.
Tatsächlich glückten die Experimente von Beyer und Potrykus: Durch ihre Genveränderung war nun auch diese Reispflanze in der Lage, Beta-Karotin zu produzieren. Eine Sensation.
Die Körner der Pflanze schimmerten nicht mehr weiß, wie üblich, sondern goldgelb, Beyer und Potrykus nannten sie deshalb: den Goldenen Reis.
Peter Beyer wollte mit diesem Reis eine der am weitesten verbreiteten Mangelerkrankungen der Welt bekämpfen. An Vitamin A, das der menschliche Körper aus Beta-Karotin gewinnt, mangelt es jedem dritten Kleinkind, sagt die WHO. Bis zu zwei Millionen Kinderleben, versprachen Beyer und sein Kollege, könnte ihr Reis jedes Jahr retten. Ihre Erfindung wurde zum Aushängeschild der Gentechnik.
Bis heute jedoch greifen Kritiker, allen voran die Umweltschutzorganisation Greenpeace, den Goldenen Reis beherzt an. Die Aktivisten befürchten, die Pflanze könne sich unkontrolliert ausbreiten und, sollte sie doch nicht so sicher sein wie angenommen, schlimmstenfalls die Ernährungsgrundlage der halben Weltbevölkerung gefährden. Sie nennen Beyers Erfindung: die „Goldene Illusion“.
Doch nicht nur Greenpeace stellte sich Peter Beyer in den Weg. Weltweit erschwerten oder verhinderten Behörden die Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen durch strenge Gesetze. Der Goldene Reis blieb eingesperrt in Labore und Gewächshäuser, fast drei Jahrzehnte lang. Nur in Ausnahmefällen wuchs er zu Forschungszwecken auf kleinen, umzäunten Feldern.
Peter Beyer flog um den halben Globus, von Konferenz zu Meeting, um für seine Erfindung zu kämpfen. Er wollte die Welt retten, doch es schien, als ob die Welt nicht von ihm gerettet werden wollte.
Vor zwei Jahren allerdings, kurz nach seiner Notoperation, erfuhr Beyer etwas völlig Unerwartetes: Das Landwirtschaftsministerium der Philippinen kündigte an, seinen Goldenen Reis anbauen zu wollen, als erstes Land der Welt. Vier Jahre lang hatte die Regierung die Zulassung geprüft, am Ende schien ihr der Nutzen größer als die Gefahr.
Peter Beyer steigt in den Reisebus. Gleich wird er zu einer riesigen Plantage fahren. Einer Plantage voller Goldenem Reis.
Die Fragen aber bleiben: Ist das jetzt der Durchbruch? Oder nur das nächste Zwischenhoch in einer Geschichte voller Rückschläge und Misserfolge?
Drei Tage vor dem großen Moment wartet Beyer mittags am Hauptbahnhof von Freiburg im Breisgau auf den ICE in Richtung Flughafen Zürich. Seine Frau hat ihn hergefahren, sie wohnen in einem Dorf südlich der Stadt. Den Morgen hatte Beyer noch damit verbracht, im Keller seine 25 Aquarien voller seltener Süßwasserfische zu putzen. Eine Woche lang wird er unterwegs sein, von Freiburg auf die Philippinen und zurück.
Der Zug fährt ein, Beyer geht gleich ins Bordbistro, bestellt ein Bitburger und scherzt mit dem Kellner: „Wollen Sie auch eins?“ Sein Gelächter knattert durch den Zug. Wenn er lacht, hat Beyer das gleiche lustige Gesicht wie der Fernsehkoch Horst Lichter. Gut, sein Schnauzer ist nicht ganz so imposant, dafür hat er mehr Kopfhaar.
Vergangenes Jahr wurde Peter Beyer 70 Jahre alt. Nach einer fast 40-jährigen Laufbahn als Zellbiologe an der Uni Freiburg ist er nun pensioniert und Großvater. Am Bistrotisch erzählt er von seinen Söhnen, beide Mitte 30, die ebenfalls Biologen wurden. „Hätten die mal was Anständiges gelernt“, sagt er. „Ich könnte jetzt eher jemanden gebrauchen, der mir das Garagentor repariert.“ Wieder das Knatterlachen.
Als der Zug kurz nach Basel ein Tal passiert, zeigt Beyer hinein und sagt: „Da wohnt der Ingo!“
Ingo Potrykus, der Mann, mit dem Peter Beyer den Goldenen Reis erfunden hat, war Biologe an der ETH Zürich, ist inzwischen 90 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Er hat sich längst von dem Projekt verabschiedet. Die vielen Rückschläge und die fehlende Anerkennung scheinen ihn verbittert zu haben: Nachdem eine Schweizer Reporterin ihn kürzlich besucht hatte, schrieb sie, Potrykus habe den Glauben an das Gute im Menschen verloren.
Beyer kramt sein Handy aus der Hosentasche und schreibt Potrykus eine E-Mail: „Ich bin jetzt wirklich auf dem Weg auf die Philippinen.“
Die beiden Biologen lernten sich im Juni 1993 kennen. Die Rockefeller-Stiftung hatte damals 20 Forscher in ihr New Yorker Büro eingeladen, die als Experten auf dem Gebiet der Karotinoide und der Genetik galten. Gemeinsam sollten sie herausfinden, so steht es im Protokoll der Veranstaltung, wie der Reis in seinem Korn Beta-Karotin ausbilden könne. Wenn das gelänge, ließe sich, zumindest theoretisch, ein gewaltiges Gesundheitsproblem bekämpfen.
Die Hälfte der Menschheit isst täglich weißen Reis, viele essen ihn zu jeder Mahlzeit, notfalls auch ohne weitere Zutaten. Er ist billig, schnell gekocht und er macht satt. Allerdings enthält er fast nur Kohlenhydrate und kaum Nährstoffe. Wegen dieser einseitigen Ernährung mangelt es vor allem Menschen in Entwicklungsländern an lebenswichtigen Vitaminen. Wissenschaftler nennen das Phänomen: den versteckten Hunger.
Vitamin A nimmt der Mensch in Form des Naturfarbstoffs Beta-Karotin zu sich, der im Darm umgewandelt wird. Das Vitamin pflegt die Haut, die Zellen in Darm und Lunge, es fördert Knochenwachstum und unterstützt das Immunsystem. Fehlt einem Menschen dauerhaft Vitamin A, auch Retinol genannt, dann kann er bei dämmrigem Licht und in der Nacht immer schlechter sehen. Bis zu 500.000 Kinder verlieren jedes Jahr deshalb sogar ganz ihr Augenlicht, sagt die WHO. An den Folgen des Mangels sollen, je nach Schätzung, jährlich zwischen 800.000 und drei Millionen Menschen sterben. Oft sind es Kleinkinder und schwangere Frauen.
Den Mangel bekämpfen Hilfsorganisationen bislang vor allem mit hochdosierten Vitaminkapseln. Der Mensch kann Vitamin A über Monate in der Leber bunkern. Die Kapseln bekommen mehrere 100 Millionen Kinder zweimal jährlich verabreicht. Diese Methode ist allerdings aufwendig und teuer – jedes noch so entlegene Dorf der Welt muss angefahren werden. 2021 bekamen nur zwei von drei betroffenen Kindern ihre Dosis, so das Kinderhilfswerk Unicef.
Ein Reis, der Beta-Karotin enthält, könnte den Menschen dauerhaft mit Vitamin A versorgen. Mit jeder Mahlzeit würde sich der Speicher füllen, die Reissamen müssten nur einmal in die betroffenen Gebiete geliefert werden. Doch lange Zeit wusste niemand, wie ein solcher Reis geschaffen werden könnte.
Check-In am Flughafen von Zürich. Im Duty-Free-Shop hält Beyer eine blaue Zigarettenschachtel hoch mit dem Aufdruck Drum, The Original. 20 Stück hat er an schlechten Tagen geraucht: „Ich war Stressraucher und Stress hatte ich immer.“
Unter Kollegen gilt Peter Beyer als wahnsinnig akribischer Wissenschaftler. Ein ehemaliger Praktikant erinnert sich an seine Zeit in Beyers Labor: „Wenn wir am Ende des Tages das Labor verließen, begann er immer mit seinen eigenen Experimenten.“ Das Licht in seinem Büro habe bis tief in die Nacht gebrannt.
Es ist nun gut 40 Jahre her, dass Beyer begann, an einer Frage zu forschen, die sein Lebensinhalt werden sollte: Warum bilden Pflanzen Karotinoide aus? Das wollte er schon in seiner Doktorarbeit Anfang der 1980er Jahre wissen, lange bevor er an den genmanipulierten Reis dachte. Er nutzte für seine Forschung die gelbblühende Narzisse. In einem Interview sagte er einmal: „Ich habe mich mein ganzes Leben damit beschäftigt, wie gelbe Farben in der Natur gebildet werden.“
Auch die Reispflanze war eigentlich durchaus in der Lage, Beta-Karotin zu produzieren. In den Blättern, im Stiel und in der Hülle findet man das Pigment. Nur im Korn schien es irgendeine Blockade zu geben. Das Ziel bei dem Treffen der Rockefeller-Stiftung in New York war es, diese Blockade mit gentechnischen Verfahren auszuhebeln.
Zu diesem Zeitpunkt war die Gentechnik gerade mal 20 Jahre jung: 1973 hatten zwei amerikanische Biochemiker ein Bakterium so verändert, dass es widerstandsfähig gegen ein Antibiotikum wurde. Zehn Jahre später gelang es Forschern erstmals, ein fremdes Gen mithilfe eines Bakteriums in eine Pflanze zu schleusen. Plötzlich ergaben sich Möglichkeiten, die mit konventioneller Züchtung niemals erreichbar schienen.
Bei dem Meeting in New York saßen neben Beyer auch Kollegen aus Frankreich und England. Sie beschäftigten sich ebenfalls mit den Karotinoiden. Doch Peter Beyer erinnert sich: „Es zeichnete sich schnell ab, dass nur zwei Männer irre genug waren, sich an dieser Wahnsinnsidee zu versuchen: Ingo Potrykus und ich.“
Dem damals 59-jährigen Biologen Ingo Potrykus war es zuvor gelungen, ein Fremd-Gen in eine Reispflanze einzufügen. Er verstand die Technik. Und der 41-jährige Peter Beyer hatte anhand der Narzisse die Theorie verstanden. Die beiden ergänzten sich perfekt.
Ihr Plan sah so aus: Um die Blockade im Reiskorn zu lösen, würden sie vier Gene künstlich einführen. Das hatte noch nie jemand vor ihnen geschafft. Dieser Plan sollte ihr Leben verändern.
Beyer und Potrykus begannen 1994 mit dem ersten Gen, es stammte aus der Narzisse. Das klappte erstaunlich schnell: Sie beschichteten winzige Goldpartikel mit vielen Kopien des Gens, luden damit eine Genkanone und schossen sie mit Hochdruck in die Zellen des Reis-Embryos. Für die drei anderen Gene allerdings brauchten sie fünf lange Jahre. Das Projekt stand zwischenzeitlich sogar auf der Kippe, also änderten sie ihre Strategie: Statt der Genkanone sollte ein Bodenbakterium die Gene in den Reisembryo schleusen.
An einem späten Abend im Frühjahr 1999 war Peter Beyer wie so oft noch im Labor. Vor ihm, daran erinnert er sich noch heute, lag in einer Petrischale ein Häufchen Reiskörner aus dem Gewächshaus seines Kollegen Potrykus. Stundenlang hatte Beyer sie mit Schmirgelpapier poliert und sah jetzt nichts als Mehlstaub. Sachte hielt er die Schale unter den Wasserhahn und als er wieder hinsah, traute er seinen Augen nicht. Jahrelang hatte sich kaum etwas geändert und jetzt: schimmerten die Körner plötzlich goldgelb, wie kleine Edelsteine. Der Goldene Reis war erschaffen.
Er schoss ein Foto und mailte es Potrykus. Zum Spaß formte Beyer aus den Reiskörnern einen Osterhasen, fotografierte ihn und schickte ihn an Bekannte: „Fröhliche Ostern!“
Dieser Prototyp, ergab die Analyse, enthielt tatsächlich 1,6 Mikrogramm Beta-Karotin pro Gramm Korn. Noch viel zu wenig, um wirksam zu sein. Doch die Tatsache, dass die Anreicherung grundsätzlich möglich war, änderte die Welt der beiden Forscher schlagartig.
Sie veröffentlichten ihre Erkenntnisse in [anderem Medium], einer der renommiertesten Wissenschaftszeitschriften der Welt, sie meldeten ein Patent an und landeten auf dem Cover [von anderem Medium II]. Beyer bekam eine außerplanmäßige Professur an der Uni Freiburg angeboten. Gäbe es einen Nobelpreis für Biologie, Beyer und Potrykus hätten wohl gute Erfolgsaussichten gehabt, sagen Forscherkollegen.
Zwischenlandung am Dubai International Airport. Bei der Taschenkontrolle legt Beyer einen silbernen Esslöffel auf das Band. Den hatte er in Zürich noch nicht dabei. Er grinst. Von jedem Langstreckenflug, und das waren wirklich unzählige in den Jahren nach der Erfindung, bringt er einen mit nach Hause. „Unsere Besteckschublade geht schon kaum mehr zu“, sagt er.
Als Erfinder des Goldenen Reises war er ein gefragter Fachmann und flog um die Welt. Allein hier in Dubai war er schon dutzendfach. „Beim ersten Mal sah es noch aus wie in tausendundeiner Nacht“, sagt er in einem Café im Wartebereich des Flughafens. Peter Beyer diskutierte mit Ministern, kooperierte mit dem weltweit tätigen Ernährungsprogramm Harvest Plus und leitete ein millionenschweres Forschungsprojekt der Stiftung von Bill und Melinda Gates. Er selbst habe, sagt Beyer, mit dem Goldenen Reis bis heute keinen einzigen Cent verdient. Die Rechte an der Technologie spendete er, statt sie zu verkaufen. „So viel Lebenszeit habe ich dafür aufgebracht, ich war der Sklave meiner eigenen Intention“, sagt Beyer. Er will sein Werk nun endlich wachsen sehen.
Dann steigt er für die letzte Etappe seiner Reise auf die Philippinen wieder in den Flieger – und döst sofort weg.
Anfang der 2000er Jahre, nach ihrem Durchbruch, dachten die beiden Biologen noch, es würde nicht lange dauern, bis ihr Reis in den ärmsten Gegenden der Welt wächst. Doch es sollte alles ganz anders kommen.
Potrykus hat einmal eine Art Essay über das Projekt geschrieben. Er nannte es: „Das Märchen vom Goldenen Reis“. In diesem Märchen, so schreibt er, spiegele sich die gesamte Geschichte der Pflanzengentechnik, eingeschlossen all die Misserfolge, Hindernisse — und die Kritik.
Die Kritik an der Gentechnik ist fast so alt wie die Technik selbst: Schon 1975, zwei Jahre nachdem es Forschern erstmals gelungen war, ein Gen zu transferieren, erlegten sich Molekularbiologen aus aller Welt erst ein Moratorium und dann strenge Regeln auf.
Aus dieser wissenschaftlichen Debatte erwuchs in den 1980er Jahren öffentlicher Widerstand, der sich, zumindest in Europa, immer mehr zuspitzte. 1990 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gentechnikgesetz. 1998 setzten die EU-Umweltminister ein fünfjähriges Anbau-Moratorium durch. 1999 verbannten deutsche Supermarktketten Gen-Food aus ihren Regalen, nach und nach folgten weitere EU-Staaten. Auf die anfängliche Begeisterung folgten, vor allem in Europa, strengste Restriktionen. Zu neu, zu unberechenbar und zu tiefgreifend erschienen die Möglichkeiten der Gentechnik.
Diese Angst, zeigen neuere Studien, war höchstwahrscheinlich unbegründet. Von transgenen Pflanzen gingen nicht mehr Gefahren aus, als von konventionell gezüchteten, heißt es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, von der EU-Kommission und von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie alle berufen sich unter anderem auf eine ungewöhnlich große Meta-Auswertung italienischer Forscher. Diese hatten 2014 mehr als 1800 Studien und Berichte ausgewertet und kamen zu einem eindeutigen Schluss: Die pauschale Ablehnung gentechnisch veränderter Pflanzen aus Sicherheitsgründen sei wissenschaftlich nicht haltbar.
Meistens ist die Kritik an Gen-Pflanzen wie dem Goldenen Reis jedoch viel grundsätzlicherer Natur. Es gebe, heißt es oft, viel effektivere Mittel, um die weltweite Ernährungssicherheit zu garantieren. Weniger Fleisch zu essen zum Beispiel und weniger Lebensmittel zu verschwenden, denn eigentlich ist ja genug Essen für alle da.
Auch verstärke gentechnisch verändertes Saatgut nur die Abhängigkeit von Agrarkonzernen wie Bayer und Syngenta. Diese halten fast alle Patente daran, weil die Entwicklung und Zulassung große Geldsummen verschlingt. Oft liefern sie auch noch die passenden Pestizide. Sollten sich genveränderte Pflanzen durchsetzen, so eines der Hauptargumente von Greenpeace, könnten die Konzerne ihr Monopol ausbauen und Entwicklungsländer noch abhängiger von den Industrienationen werden.
Und natürlich fehlen Langzeitstudien, die den Einfluss gentechnisch veränderter Lebensmittel auf den menschlichen Körper beobachten — weil diese Lebensmittel bislang eben kaum gegessen werden dürfen und demnach auch keine Studien möglich sind.
Doch ganz im Kern ist es eher ein Gefühl, das einen gegen Gentechnik sein lässt. Der Eingriff in die Natur fühlt sich falsch an. Dabei macht der Mensch das seit der Steinzeit, als er die ersten Wildgräser in das Getreide einkreuzte. Bis heute lehnen vier von fünf Deutsche einer Umfrage des Bundesumweltministeriums zufolge Gentechnik in der Landwirtschaft ab. In der Europäischen Union war 2021 mit der Maissorte MON810 nur eine einzige genveränderte Pflanze zum Anbau freigegeben.
Weltweit jedoch wachsen inzwischen auf 13 Prozent aller Felder gentechnisch veränderte Pflanzen. Brasilien baut fast ausschließlich transgene Sojapflanzen an, in Indien wächst zu 95 Prozent genveränderte Baumwolle und in den USA sind fast alle Flächen für Soja, Mais und Baumwolle mit gentechnisch veränderten Pflanzen bestellt.
Ankunft auf den Philippinen, einen Tag vor dem großen Moment. Am Provinzflughafen von Iloilo trifft Beyer ein paar andere Wissenschaftler. Ernährungsforscherinnen sind dabei, Ökonomen und Biologinnen. Sie werden Beyer auf seiner Reise begleiten. Gemeinsam bilden sie eine Art Aufsichtsrat, gegründet von der Gates-Stiftung. Mit dem Gremium will diese kontrollieren, ob auf den Philippinen alles nach Plan läuft. Ein paar seiner Wegbegleiter hat Beyer seit Jahren nicht gesehen, er umarmt einen alten Bekannten, schüttelt die Hand einer Frau. Es herrscht Stimmung wie bei einem Klassentreffen.
Gemeinsam steigen sie in einen Shuttle-Bus, der sie vom Flughafen in das Konferenzhotel mitten in der Stadt bringt. Zwei Tage lang wollen sie sich dort austauschen, darüber sprechen, wie der Anbau auf den Philippinen angelaufen ist. Überlegen, wie es weitergeht. Doch vor allem wollen sie mit eigenen Augen sehen, ob der Goldene Reis nun tatsächlich wächst. Am Abend vor dem großen Tag gehen sie früh schlafen.
Der Goldene Reis kam schon 2001 auf die Philippinen. Damals überreichten Beyer und Ingo Potrykus ihren Prototypen an das dort ansässige Internationale Reisforschungsinstitut IRRI. Dessen Züchter kreuzten den Labor-Reis mit lokalen Sorten, damit er unter tropischen Bedingungen wachsen konnte. Er sollte für eine mögliche Zulassung auf den Philippinen, in Indien, Bangladesch oder Indonesien bereitgemacht werden. Der Durchbruch, so schien es erneut, stand kurz bevor.
Doch dann veröffentlichte Greenpeace eine Pressemitteilung, die im Nachhinein als Startschuss einer jahrzehntelangen Kampagne gegen den Goldenen Reis zu verstehen ist. Die Aktivisten schreiben darin: Die Technologie sei gefährlich und habe potenziell unumkehrbare Folgen für die Umwelt und die menschliche Gesundheit. Außerdem würde der Reis das Problem der Mangelernährung in Entwicklungsländern nicht lösen, der Plan sei zu kurz gedacht. Eigentlich müsste man viel mehr die Ursachen des Vitamin-A-Mangels bekämpfen: Armut und den fehlenden Zugang zu abwechslungsreicher Ernährung.
Der Goldene Reis warf eine grundsätzliche Frage auf: Behandelt man die Krankheit oder die Symptome?
Peter Beyer kennt die Kritikpunkte inzwischen auswendig. Und auch seine Antworten darauf. Früher hat er sie seinen Kontrahenten oft bei Podiumsdiskussionen entgegen gehalten, das macht er heute nicht mehr – es kämen immer die gleichen Vorwürfe, völlig unabhängig vom aktuellen Forschungsstand. Für ihn ist klar: Der Goldene Reis ist preiswert, sicher und höchstwahrscheinlich wirksam. Wobei die Wirksamkeit bei tatsächlich von Vitamin-A-Mangel betroffenen Kindern erst getestet werden kann, wenn diese Kinder den Reis auch über einen längeren Zeitraum essen.
Am Morgen des großen Tages wartet im Reisebus schon eine kleine Delegation. Ein paar der Forscherinnen aus dem Aufsichtsrat, Angestellte des philippinischen Landwirtschaftsministeriums und einige Pflanzenzüchter. „Good morning everybody!“, sagt Peter Beyer und sinkt in einen Sitz in der ersten Reihe. Gemeinsam wollen sie gleich zu der riesigen Plantage fahren, auf der der Goldene Reis wächst.
Schon 2004 war der Goldene Reis nahezu perfektioniert. Potrykus war da bereits in den Ruhestand getreten, Beyer allerdings hatte weiter geforscht. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Agrarkonzerns Syngenta war es ihm gelungen, den Beta-Karotin-Gehalt im Reiskorn deutlich zu erhöhen. Der Goldene Reis war eigentlich bereit für die Zulassung.
Doch der nächste Schritt ließ 17 Jahre auf sich warten. In diesen 17 Jahren passierte unglaublich viel und irgendwie doch nichts.
2008: Eine Ernährungsforscherin findet mit einer Testgruppe chinesischer Schulkinder heraus, dass ihre Körper das Beta-Karotin aus dem Goldenen Reis besser aufnehmen als das aus Spinat. Später wird ihr jedoch vorgeworfen, sie habe den Eltern nicht ausreichend erklärt, dass es sich um ein genverändertes Produkt handle. Sie muss die Studie zurückziehen.
2013: Anti-Gentechnik-Aktivisten zerstören ein Testfeld auf den Philippinen. Beyer und Potrykus reisen nach Rom: Papst Franziskus segnet die Körner des Goldenen Reises.
2016: In einem offenen Brief fordern 109 Nobelpreisträger Greenpeace auf, ihre Kampagne gegen den Goldenen Reis einzustellen.
2017: Das philippinische Reisforschungsinstitut PhilRice reicht einen 1000-seitigen Antrag für den Anbau des Goldenen Reises beim Landwirtschaftsministerium in Manila ein. Australien und Neuseeland, die USA und Kanada geben daraufhin den Reis zum Verzehr frei, für den Fall, dass er irgendwann einmal importiert werden sollte.
Und dann – wurde es ruhig um den Goldenen Reis. Beyers Haare und sein Schnauzer hatten sich inzwischen grau gefärbt, er ging in Rente und kümmerte sich um die mehr als 2000 Fische in seinen Aquarien im Keller. Bis er plötzlich mit Lungenschmerzen umkippte.
Doch dann, am 21. Juli 2021, wenige Monate nach Beyers Notoperation, gab das philippinische Landwirtschaftsministerium seine Entscheidung bekannt. Vier Jahre lang hatte es gemeinsam mit anderen Ministerien geprüft, ob der Goldene Reis zugelassen werden darf – und entschied sich am Ende, zum Leidwesen lokaler Umweltaktivisten, dafür.
Die Regierung um Ferdinand Marcos, Sohn des gleichnamigen, langjährigen Diktators, will mit dem Goldenen Reis den in vielen Provinzen vorherrschenden Vitamin-A-Mangel bekämpfen. Nach Regierungsangaben ist davon jedes sechste Kleinkind im Land betroffen. Bis 2029 soll der Goldene Reis zehn Prozent der heimischen Produktion decken. Ende dieses Jahres soll er auf den Markt kommen – bislang brauchte es alle Körner zur Kultivierung weiterer Pflanzen und zu Marketing- und Forschungszwecken.
Eine Sache musste bei der Zulassung geändert werden: der Name. Gold klang nach Reichtum, nach einem teuren Produkt. Der Goldene Reis heißt auf den Philippinen nun „Malusog“, das heißt so viel wie: gesund.
Der Bus fährt los und schlängelt sich durch den Morgenverkehr der Stadt Iloilo. Beyer sah durch die Frontscheibe eben noch Bankgebäude vorbeiziehen, dann Hütten mit Wellblechdächern, und jetzt Wasserbüffel, die sich im Schlamm wälzen.
Er blickt kurz auf sein Smartphone und sagt: „Meine Familie fragt schon, ob das Zeug wirklich wächst.“
Nach einer halben Stunde Fahrt biegt der Bus rechts ab und fährt im Schritttempo durch ein Tor. Dahinter entfaltet sich eine riesige Plantage, rechts und links der Fahrbahn reihen sich hektargroße Felder mit wadenhohen Reisbüscheln, in einem kleinen Areal setzen ein paar Arbeiter unter der Morgensonne frische Pflanzen in den schlammigen Boden.
Der Bus kommt zum Stehen. Beyer setzt sich einen Sonnenhut auf, nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche und tritt hinaus in die Hitze. Er ist bereit für den großen Augenblick.
Draußen am Feld hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Zu der Delegation aus dem Bus haben sich ein paar weitere Behördenmenschen gesellt. Es scheint, als warteten sie alle nur auf Peter Beyer, den Mann mit den weißen Haaren, der jetzt langsam in seinen Sandalen heranschleicht.
Als er sich nähert, entdeckt er ein Schild, das zwischen kniehohen Reispflanzen auf dem Feld steckt: Malusog 1, gepflanzt am 12. Januar 2023.
Das also ist es, Peter Beyers Lebenswerk. Ein Feld, zwei Hektar groß, auf dem das wächst, was er vor 30 Jahren in einem New Yorker Hochhaus skizzierte: der Goldene Reis.
Peter Beyer lauscht den Worten einer Mitarbeiterin des Landwirtschaftsministeriums, die etwas von Ertrag und Qualität der ersten Ernte im Herbst erzählt. Dann schaut sie ihn direkt an und fragt: „Haben Sie den Reis auch in Ihrem Land schon angebaut?“ Beyer muss lachen.
Es beginnt nun eine Foto-Session, die erste von unzähligen an diesem Tag. Ein Gruppenfoto, Beyer in der Mitte; ein Foto vom Schild, Beyer daneben. Er macht das Spiel geduldig mit, zeigt nicht, wie arg es ihn anstrengt, man sieht es nur an einem Detail: Auf fast allen Fotos steht er leicht schräg da, die Narben schmerzen wieder.
Der Rest der Gruppe ist längst wieder am Bus, da steht Beyer immer noch am Feld und lächelt in die Kameras. Der Organisator drängelt schon. Beyer hebt entschuldigend beide Hände, winkt, grinst und schlurft über die Betonstraße. Am Bus wird er vom Projektleiter des IRRI empfangen. „Und Peter, wie fühlt sich das an? Dein großer Traum!“ Er sagt: „Unglaublich, einfach unglaublich. An so vielen Tagen habe ich das echt nicht mehr für möglich gehalten.“
Was ihn in all den Jahren nicht hat aufgeben lassen: vor allem seine nüchterne Beharrlichkeit. Wissenschaft, sagt er, sei furchtbar langweiliger Mist. Probieren, scheitern, modifizieren. Immer wieder. Bis das Experiment irgendwann gelingt. Meistens dann genau dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Die Tour geht weiter. Im Westen der Insel liegt Antique, eine der 17 Provinzen, in denen der Goldene Reis angebaut wird und bald verkauft werden soll. Bis in die Provinz sind es drei Stunden Fahrt. Am Straßenrand stehen bald nur noch Holzhütten, Hühner watscheln über die Straße, die mehr aus Geröll besteht denn aus Asphalt.
Ersten Umfragen und Testverkäufen des philippinischen Reisforschungsinstituts PhilRice zufolge herrsche großes Interesse an dem Reis, vor allem wegen der angepriesenen gesundheitlichen Vorteile. Die Farbe allerdings habe es noch etwas schwer, da müsse Überzeugungsarbeit geleistet werden. Geschmacklich ändert sich durch die Farbe nichts, Beta-Karotin schmeckt neutral.
Gegen Mittag erreicht die Gruppe das Gemeindezentrum einer kleinen Stadt in der Provinz. Helfer hängen den Wissenschaftlern Papierblumen um und geleiten sie zu ihren Sitzplätzen. Vorne tanzen ein paar Kinder: Es wird ein Erntedankfest gefeiert.
Nach der Begrüßung bittet der Moderator Beyer auf die Bühne. Er hasst solche Momente. Preußisch sei er da, sagte er mal, Wissenschaftler durch und durch, Nüchternheit statt großer Emotionen.
Beyer schlurft nach oben und blickt in fröhliche Gesichter. Ein paar Leute aus der Stadt sind da, aus den Behörden, dem Rathaus, auch einige Bauern. Er nimmt das Mikrofon in die Hand und sagt: „Aus dem Vater des Goldenen Reises wurde der Großvater, wie Sie an der Farbe meiner Haare sehen.“ Gelächter.
Dann scheint er einen Schalter umzulegen und versucht, ausnahmsweise mal etwas Pathos in seine Worte zu legen: „Was ihr hier auf den Philippinen erreicht habt, das ist größer als alles, was ich mir noch bis vor kurzem erträumt habe. Es gab so viele Tage, an denen ich dachte, wir schaffen das nie. Aber jetzt sehe ich das Gegenteil. Danke!“ Unter Applaus reicht er das Mikrofon an den Moderatoren zurück. Der ruft ihm hinterher: „Danke für den Goldenen Reis!“
Es gibt Mittagessen, auf dem Buffet steht, natürlich, eine Wanne mit Reis: Er ist gelb.
Peter Beyer reiht sich in die Schlange zwischen die Provinzbewohner. In all den Jahren hat er seinen Reis noch nie essen dürfen. Er ist in Deutschland ja bis heute nicht zum Verzehr freigegeben.
Beyer lädt sich eine Kelle auf den Teller, greift mit den Fingern hinein, steckt sich etwas Reis in den Mund und kaut. Er sagt: „Schmeckt wie … Reis.“
Zwei Wochen nach der Reise sitzt Peter Beyer in einem Café neben der Uniklinik Freiburg. Er kommt gerade von einer Kontrolluntersuchung, wirkt noch etwas erschöpft von den langen Flügen und doch auch gelöst. Er erzählt von einem Foto, das ihn einfach nicht loslässt. Darauf steht er neben einem Bauer aus der Provinz Antique, gemeinsam halten sie einen kleinen Sack Goldenen Reis in den Händen. „Ist das nicht schön?“, fragt er. „Die Dinge gehen ihren Weg.“
Dann lehnt er sich vor und ändert die Miene. „Das, was auf den Philippinen geschieht, ist nicht mehr als ein Anfang“, sagt er. Die im Konferenzhotel vorgestellten Statistiken hätten gezeigt: 115.000 Tonnen Goldenen Reis fuhren die philippinischen Bauern bei der vergangenen Ernte ein. Bei der nächsten, jetzt im Sommer, erwarten die Behörden 160.000. „Es braucht Millionen Tonnen, nicht nur auf den Philippinen“, sagt er. „Was ist mit Bangladesch? Was mit Myanmar? Mit Laos? Indonesien? Wir sind noch lange nicht am Ziel.“
Und tatsächlich, am 3. Mai 2023 erhalten die an der Zulassung des Goldenen Reises beteiligten Behörden und Forschungsinstitute ein Schreiben vom Supreme Court, dem höchsten Gericht der Philippinen. Darin werden sie von den Richtern aufgefordert, Stellung zu einer Klage zu beziehen. Greenpeace und eine gentechnikkritische Bauernorganisation würden behaupten, die Gesundheit der philippinischen Bevölkerung sei durch den genmanipulierten Reis gefährdet, weshalb der Anbau sofort zu stoppen sei.
Peter Beyer und seine Wegbegleiter müssen nun wieder einmal beweisen, dass der Goldene Reis kein Teufelszeug ist. Sie machen ja seit 25 Jahren nichts anderes.