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Götterdämmerung für Studierte

von Adrian Lobe
Die Welt vom 19.04.2023

Der Artikel erörtert die Auswirkungen, die die rasche Entwicklung KI-basierter Sprachmodelle wie Chat-GTP auf den Arbeitsmarkt haben könnte. Entgegen der Annahme, dass vor allem technische Berufe mit repetitiven Aufgaben von Robotern ersetzt werden, sei es nun wahrscheinlicher, dass vermeintlich "sichere" Branchen wie Recht, Verwaltung und Kultur betroffen sein werden.

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Götterdämmerung für Studierte

ChatGPT hat seit seiner Veröffentlichung im November 2022 eine steile Karriere hingelegt: Das Sprachmodell, das mir riesigen Datenmengen aus dem Internet trainiert wurde, hat Jura-Prüfungen an US-Hochschulen bestanden, Reden von Abgeordneten verfasst und Bücher geschrieben. Auf Amazons Plattform Kindle Direct Publishing sind bereits über 200 E-Books gelistet, die von ChatGPT (mit-)verfasst wurden. Gerade erst hat die Entwicklerorganisation das multimodale Nachfolgemodell GPT-4 vorgestellt, das mit 100 Billionen Parametern sechsmal so groß wie sein Vorgänger sein soll und auch Bilder verarbeiten kann, und während sich die Fachwelt gerade ungläubig den Feenstaub aus den Augen reibt und über die Ergebnisse dieses Wunderwerkzeugs staunt, wird schon über den Nachfolger GPT-5 diskutiert, dessen Training im Dezember dieses Jahres abgeschlossen sein soll.
In Informatiker-Kreisen raunt man sich zu, dass das neue Sprachmodell „Allgemeine Künstliche Intelligenz“ erlangen könnte, also so intelligent wie ein Mensch sein könnte. Das würde selbst die kühnsten Prognosen übertreffen, die der Zukunftsforscher Ray Kurzweil in seinen Büchern gewagt hat. Unterdessen machen im Netz Fake-Fotos vom Papst in weißer Daunenjacke oder der herbeifantasierten Trump-Verhaftung die Runde. Die Szenen gab es nie, aber die Bilder lassen sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Open AI-Chef Sam Altman warnte kürzlich vor den Gefahren der Technik, die für Desinformationen oder Cyberattacken missbraucht werden könne. Die Entwicklung schreitet so schnell voran, dass eine Reihe von KI-Experten, darunter Tesla-Gründer Elon Musk, der Universalhistoriker Yuval Noah Harari sowie Apple-Gründer Steve Wozniak, in einem Offenen Brief eine sechsmonatige Pause für KI-Systeme fordern, die leistungsfähiger als GPT-4 sind.
Die Unterzeichner äußern darin die Sorge, dass Softwareschmieden in einem KI-Wettrennen immer mächtigere Modelle entwickeln, die selbst ihre Schöpfer nicht mehr verstehen und kontrollieren könnten. Der Brief zeichnet ein dystopisches Bild der Lage: KI-Systeme würden „tiefgreifende Risiken für die Gesellschaft und Menschheit“ bergen. „Sollen wir es zulassen, dass Maschinen unsere Informationskanäle mit Propaganda und Unwahrheiten fluten? Sollen wir alle Jobs wegautomatisieren, einschließlich die erfüllenden?“, fragen die Unterzeichner.
Doch selbst ein Memorandum wird die Entwicklung wohl nicht aufhalten. Der Geist ist aus der Flasche, und was da gerade in den Softwareschmieden des Silicon Valley zusammengeschraubt wird, ist ein Sturm, der die Welt mehr durcheinanderwirbeln könnte als Erfindungen wie der Webstuhl oder das Internet. Generative KI hat das Potenzial, den Arbeitsmarkt zu revolutionieren. Das Medienunternehmen Buzzfeed nutzt ChatGPT, um Leserfragen zu beantworten, der US-Spielzeughersteller Mattel lässt mithilfe einer Bild-KI Modellautos designen, und der chinesische Streamingdienst Tencent Music hat vor ein paar Monaten 1000 Songs veröffentlicht, die von einer KI gesungen werden. Wer braucht noch Musikschaffende, wenn es KI gibt? Wird es in Zukunft noch Arbeit für Werbetexter, Grafiker und Tontechniker geben? Welche Jobs sind von der KI-Revolution am meisten bedroht?
Die Entwicklerorganisation Open AI hat kürzlich gemeinsam mit OpenResearch und der University of Pennsylvania eine Studie veröffentlicht, die die Auswirkungen von Sprachmodellen auf den Arbeitsmarkt untersucht. Ergebnis: 80 Prozent der US-Arbeitskräfte werden bei mindestens zehn Prozent ihrer Aufgaben von Sprachmodellen betroffen sein. 19 Prozent der Arbeiter werden sogar bei der Hälfte ihrer Tätigkeiten von KI beeinflusst.
Das klingt noch recht vage, doch die Studie schlüsselt einzelne Berufsgruppen nach ihrer „exposure“, also ihrem Automatisierungsgrad, auf. Demnach sind vor allem Datenverarbeiter, Medien und Versicherungsverkäufer von der Automatisierung betroffen. Dagegen sind Branchen wie Pflegedienste, Lebensmittelverarbeitung und Forstbetriebe wenig von Sprachmodellen tangiert. Verglichen mit dem alarmistischen Ton des Offenen Briefs liest sich die Studie eher wie ein bürokratischer Leitfaden. Tenor: Sprachmodelle stellen keine Bedrohung dar, sondern dienen dazu, Aufgaben schneller zu erledigen.
Der Princeton-Ökonom Ed Felten hat kürzlich zusammen mit zwei Kollegen von der University of Pennsylvania und New York University in einer ähnlich angelegten Studie („How will Language Modelers like ChatGPT Affect“) einen etwas feinkörnigeren „Exponiertheitsscore“ errechnet. Demnach sind vor allem Telefonverkäufer, Politikwissenschaftler und Lehrer von Sprachmodellen betroffen. Dagegen brauchen sich Tänzer, Dachdecker oder Steinmetze keine Sorgen über Sprachmodelle machen. Wie soll ihnen auch ChatGPT bei der Arbeit helfen?
Welch gewaltige Transformation gerade auf die Arbeitswelt zurollt, machen Zahlen deutlich, die die US-Großbank Goldman Sachs kürzlich präsentiert hat. Laut der Studie sind durch Generative KI weltweit 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze gefährdet. Vor allem der Verwaltungs- und Rechtssektor ist betroffen, wo fast die Hälfte aller Arbeitsplätze durch KI ersetzt werden könnten. Schon heute ergehen in öffentlichen Verwaltungen Verwaltungsakte automatisiert, in Kolumbien hat ein Richter sogar ein Urteil mithilfe von ChatGPT verfasst. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Sprachmodelle eigenständig Klageschriften oder Urteile verfassen können. Die Modezeitschrift [anderes Medium] hat bereits ein Cover mit der Bild-KI Dall-E designen lassen, das renommierte Architekturstudio Zaha Hadid nutzt den Bildgenerator Midjourney als Werkzeug, um Häuser zu entwerfen. Und der Künstler Robbie Barrat hat für die Modemarke Balenciaga sogar eine ganze KI-generierte Kollektion entworfen.
Bislang galten vor allem technische Berufe mit repetitiven Aufgaben als von der Automatisierung bedroht. Maler? Lackierer? Installateure? Braucht bald niemand mehr, dafür gibt es ja Roboter! Das war jahrelang der Glaubenssatz der Automatisierungsdebatte. Doch so schnell, wie sich neuronale Netze entwickelt haben, ist die Entwicklung der Robotik stagniert. McDonald's-Chef Chris Kempczinski sagte im vergangenen Jahr, dass Roboter für die überwiegende Mehrheit der Restaurants „nicht praktikabel“ seien. Und in Japan hat ein Hotel die Hälfte seiner Roboter „entlassen“, weil sie Aufgaben nicht korrekt erledigten und Gäste nervten. Wo angesichts des Fachkräftemangels Köche und Rezeptionisten gefragt wie nie sind, erscheinen durch den Siegeszug der KI plötzlich auch solche Berufe von Automatisierung bedroht, die bislang als immun galten: Programmierer, Juristen, Journalisten.
IBM-Präsident Thomas Watson nannte seine Computer einst „Dampfmaschinen des Geistes“: „Unsere Maschinen befreien den menschlichen Geist, indem sie ihm langweilige Routinearbeit abnehmen“. Die Elektronengehirne, die in den 1950er Jahren aus tonnenschweren Rechnern konstruiert wurden, haben mit den Denkmaschinen von heute kaum noch etwas gemein. Die Rechenleistung neuronaler Netze ist um ein Vielfaches höher als die der schrankgroßen Rechnerungetüme.
Denkt man die Metapher weiter, müsste man Sprachmodelle als „Elektromotor des Geistes“ bezeichnen. So schnell, wie KI-Systeme Texte schreiben und Bilder malen, kommt keine eiweißbasierte Intelligenz mit. In der Kreativbranche geht die Angst um. Sind Grafiker, Werbetexter und Übersetzer die Laternenanzünder und Weber von heute?
Es hat in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder technologische Arbeitslosigkeit gegeben; Berufe starben aus, neue kamen hinzu. Doch im Gegensatz zur ersten industriellen Revolution ist die vierte industrielle Revolution eine, die nicht die Muskelkraft, sondern die Geisteskraft mechanisiert: Texte, Bilder oder Musik, die bislang Manufakturarbeit waren, können durch Generative KI automatisiert und seriell hergestellt werden.
So wie der mechanische Webstuhl Fäden verkreuzte, spinnen die Elektromotoren des Geistes alte Muster zu neuen Texten und Bildern. Kulturproduktion wird zur Massenproduktion. Das heißt nicht, dass von heute auf morgen alle Texter, Übersetzer und Lektoren arbeitslos werden. Sprachmodelle gibt es ja schon länger, und wer mal einen Text durch Google Translate gejagt hat, weiß um die Dürftigkeit und Fehlerhaftigkeit der Ergebnisse. Es wird aber in Zukunft weniger Menschen dafür brauchen. KI wird keine Übersetzer und Anwälte ersetzen, sondern die, die das Werkzeug nicht nutzen. Dadurch, dass es technisch möglich ist, Artefakte in Serie zu produzieren, wächst der ökonomische Druck auf Kulturberufe, die sich in der Masse an Billigprodukten behaupten müssen. Bevor der Roboter die erste Wärmepumpe installiert, könnten Sprachmodelle technische Redakteure arbeitslos machen.