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Generation Mangelware

von Reto U. Schneider
Neue Zürcher Zeitung vom 05.11.2022

Der Artikel verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen gestörten Lieferketten, Gasimporten und Konsum am Beispiel der Europalette, dem Einkauf des Universitätsspitals der ETH Zürch (Pumpspender), Industrieruss zur Reifenproduktion und der energieintensiven Düngerproduktion. Diese Störungen würden den Preis verteuern und Innovationen fördern.

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Generation Mangelware

Wer sich über das Weltgeschehen informieren will, kann die Zeitung lesen oder die Preise von Holzpaletten der Holliger Paletten Logistik AG studieren. Für eine vierseitig unterfahrbare Europalette bezahlte man im Sommer 2019 noch 6 Euro 50, ein Jahr später waren es bereits 22 Euro und im Mai 2022 sogar 25 Euro, im Moment liegt der Preis bei 16 Euro. Die Preisturbulenzen sind die Folge von Ereignissen, die weit weg von Boniswil ihren Ursprung haben, wo Walter Holliger vor 105 Jahren die Schreinerei eröffnete. «Solange ich mich erinnern kann, hat es eine solche Situation noch nie gegeben», sagt Pascal Holliger, Urenkel von Walter Holliger und Mitglied der Geschäftsleitung. «Die Logik scheint ausgehebelt.» Wenn der Welthandel aus den Fugen gerät, spüren die Palettenhersteller das als Erste.

Holliger ist nicht der Einzige, der mit neuen Gegebenheiten zurechtkommen muss. Bis vor kurzem lebten wir in einer Welt, in der die Regale voll waren und der Strom aus der Steckdose kam. Dass 1049 Firmen aus 45 Ländern die Komponenten für ein einzelnes iPhone liefern, nahmen wir allenfalls fasziniert zur Kenntnis. Gekümmert hat es uns nicht. Doch das hat sich geändert. Zu Beginn der Pandemie stellten wir erstaunt fest, dass neues Toilettenpapier nicht einfach durch Zellteilung über Nacht im Laden entsteht. In Spitälern fehlten plötzlich Medikamente, die es nicht mehr von China in die Schweiz schafften. Ebenso erging es neuen Brettspielen, die jetzt mit Hometrainern und Möbeln um einen Platz auf einem Containerschiff kämpften. Die weltumspannende Kaskade aus Produktion und Logistik war schon vor Corona hin und wieder ins Stocken geraten. Doch erst der globale Lockdown gab preis, wie instabil der gewohnte Lauf der Dinge war. Der Krieg in der Ukraine offenbarte uns ein zweites Geheimnis: Bevor die Produkte zu uns reisen können, müssen sie hergestellt werden. Das braucht Arbeitskraft und Energie, oft in Form von Gas oder Strom, die nun ebenfalls knapp wurden.

Und so folgt auf die Millennials, die Generation Z und die Generation Alpha nun die Generation Mangelware, vereint im Warten auf Velo, Waschmaschine und Wärmepumpe. Weil vieles dann doch geliefert wird, wenn vielleicht auch teurer und später als versprochen, erfahren wir wenig von der Nervosität in den Unternehmen, den nächtelangen Verhandlungen und der Suche nach Ersatzprodukten. Welche konfusen Vorgänge, erstaunlichen Abhängigkeiten und seltsamen Stoffe dabei eine Rolle spielen, zeigen einige Beispiele aus der wunderbaren Welt der Lieferschwierigkeiten.

Der Palettenmarkt steht kopf

Der globale Handel lastet auf 11 Brettern und 9 Klötzen, die von 78 nach vorgeschriebenem Nagelbild positionierten Rillennägeln zusammengehalten werden. Heute wird selbst ein so einfaches Produkt wie eine nervöse Aktie zu ständig ändernden Preisen gehandelt. Die Fertigungsvorschriften stammen aus den 1960er Jahren, als die europäischen Eisenbahnen festlegten, wie eine Europalette auszusehen hat.

Seit 1991 wacht mit der Europäischen Paletten-Vereinigung (Epal) eine eigene Organisation über die Qualität der Paletten. Nur deshalb können sie ihren grossen Vorteil ausspielen: Es besteht die Möglichkeit, sie zu tauschen, ohne dass jemand befürchten muss, übers Ohr gehauen zu werden, denn nur zertifizierte Paletten dürfen das Brandzeichen der Epal tragen. Die Güter bleiben so bis zum Endverbrauch auf den Paletten stehen und müssen nicht umgeladen werden. Sie werden einfach gegen gleichwertige leere Paletten getauscht oder in einer Art E-Banking für Paletten als Schulden geführt.

Die Grösse der Palette wurde zum Mass aller Dinge in der Logistik. Für Gabelstapler, Hochregallager und Lastwagen gab es nur noch eine Einheit: 120 mal 80 mal 14,4 Zentimeter. Mit der Weltwirtschaft wuchs auch der Palettenausstoss bei Holliger. Heute stellt das Unternehmen pro Jahr an mehreren Standorten – einer in Deutschland – 1,5 Millionen Paletten her und repariert 650 000.

Wenn man Pascal Holliger fragt, was zur Erschütterung im Palettenmarkt der letzten Jahre geführt habe, fragt er zurück: «Wie viel Zeit haben Sie?» Der Crashkurs in angewandter Palettenökonomie dauert schliesslich eine Dreiviertelstunde. Darin treten auf: ein Virus, das Klima, der Borkenkäfer, ein Krieg und Schwedenöfen.

Als Erstes muss man wissen: Paletten werden wie andere Verpackungsmaterialien aus Nadelbäumen gefertigt, weil dieses Holz leicht ist und trotzdem grosses Gewicht tragen kann. Dabei benutzt man die sogenannte Seitenware eines Baumstammes, also das Material am Rand. Aus der kostbaren Hauptware – dem Holz im Kern – werden Dachstöcke und Möbel gebaut. Weil es sich für die Sägewerke nicht lohnte, ihre Maschinen für die billige Seitenware anzuwerfen, galt lange Zeit die heilige Regel der Palettenproduzenten: Wenn es auf dem Bau gut lief, fiel als Nebenprodukt auch viel Seitenware für die Herstellung der Paletten an.

Doch dieser Grundsatz wurde schon vor Corona brüchig. Weil der Holzbau in Europa einen Boom erlebte, setzte man nicht mehr nur Massivholz ein, sondern auch Sperrholz, Brettschichtholz und andere verarbeitete Hölzer aus der Seitenware. Die Paletten bekamen Konkurrenz. Zudem hatte sich der amerikanische Immobilienmarkt endgültig von der Krise von 2008 erholt. Normalerweise deckten sich die Amerikaner in Kanada mit Bauholz ein. Doch in Kanada hatte es wegen anhaltender Trockenheit Waldbrände gegeben, und der Borkenkäfer ging um. Also wichen die Amerikaner nach Europa aus. Doch auch hier war in den Jahren 2017, 2018 und 2019 wenig Regen gefallen, was den Wald stark strapazierte. «Es fielen enorme Mengen Schadholz an, die man schiffsweise nach China verfrachtete», sagt Holliger, «einfach um sie loszuwerden.» Dieses Holz fehlte, als im Januar 2020 ein Virus mit dem seltsamen Namen Sars-CoV-2 von China nach Europa gelangte.

Doch Holliger hatte Glück: Als sich abzeichnete, welch dramatische Auswirkungen Corona auf das Frachtgeschäft haben würde, stockten die Unternehmen ihre Lager auf. Und worauf standen die Waren in den Lagerhallen? Auf Paletten.

Auch Masken und anderes Schutzmaterial musste irgendwie transportiert und gelagert werden. Als die Schweiz es auf den Sitzen von Passagierflugzeugen aus China einfliegen liess, war Holliger am Flughafen in Zürich mit Paletten zur Stelle. Die Europäische Paletten-Vereinigung verzeichnete 2020 und 2021 mit 96 und 101 Millionen Neupaletten Rekordjahre. «Es ist die erste Krise, an die ich mich erinnern kann, die die Palettenhersteller nicht traf», sagt Holliger. Weil die Kunden auf die Paletten angewiesen waren, konnte er ihnen die höheren Herstellungskosten verrechnen.

Anfang 2022, als die Pandemie abflaute, schien sich sie Situation für die Holliger AG zu beruhigen. Doch am 24. Februar 2022 griff Wladimir Putin in den Palettenmarkt ein. Der Überfall auf die Ukraine brachte drei weitere Komplikationen. Einer der grossen Holzlieferanten Europas ist Weissrussland, das wie Russland mit Handelssanktionen belegt wurde. Auch Holliger bezog 9 Prozent seiner Rohware von dort und musste einen anderen Lieferanten finden. Die Achterbahnfahrt nahm kein Ende. Nachdem der Preis für Schnittholz bis Ende 2021 wieder gefallen war, stieg er zwischen Januar und Mai 2022 um fast 50 Prozent.

Nägel aus Russland

Das nächste Problem traf unerwartet die zweite Komponente, aus denen Paletten bestehen: die Nägel. Epal-Paletten müssen mit zertifizierten Rillennägeln gebaut werden. Holliger bezog seine Nägel zwar von drei Lieferanten in Italien, Deutschland und Polen. Doch Nachforschungen des Bundesverbands Holzpackmittel, Paletten, Exportverpackung in Deutschland ergaben, dass 90 Prozent der Palettennägel letztlich aus russischem Stahl bestanden, der ebenfalls unter die Sanktionen fiel. Das sah im ersten Moment nach einem grossen Hindernis aus. Denn ob ein Produkt aus über 10 000 unterschiedlichen Bauteilen besteht wie ein Auto oder aus 2 wie eine Palette: Wenn auch nur eines davon fehlt, kann es nicht fertig gebaut werden. «Man kann so viel Holz haben, wie man will, ohne Nägel fabriziert man keine einzige Palette mehr», sagt Pascal Holliger.

Doch wie so oft löste hier das erste Grundprinzip des Kapitalismus das Problem: Wegen der höheren Nachfrage stiegen die Nagelpreise stark an. Vor dem Krieg kostete eine Tonne Palettennägel um die 1100 Euro, nach Kriegsbeginn zuweilen über 3000 Euro. Hersteller ausserhalb Russlands vergrösserten ihre Kapazitäten.

Die dritte Komplikation trat auf, weil Holz ein ungewöhnlich vielseitiger Werkstoff ist. Er lässt sich nicht nur in Häusern und Kisten verbauen, sondern auch verbrennen. Als die Behörden davor warnten, dass wegen des Kriegs das Gas knapp werden könnte, entdeckten die Menschen ihre alte Liebe zum Cheminée und zum Schwedenofen. Die Nachfrage nach Holzpellets liess ihren Preis innerhalb eines Jahres von 370 Franken pro Tonne auf 680 Franken steigen. Jetzt zankten sich schon drei Kontrahenten um die früher billige Seitenware: die Palettenproduzenten, das Baugewerbe und die Heizpellethersteller.

Diese erratischen Marktverschiebungen haben bizarre Folgen. «In Europa wird ein einfaches Brett zuweilen teurer verkauft als eine verarbeitete Holzplatte», sagt Holliger. «Im Moment müssen wir die Preise der Paletten im Monatsrhythmus neu kalkulieren.»

Während Holliger zwei Dinge an Lager haben muss, damit sein Laden läuft – Holz und Nägel –, sind es im Zentrallager des Universitätsspitals Zürich 40 000. Nicht alle davon sind gleich wichtig, aber von einigen kann das Überleben der Patienten abhängen. Täglich landen in den sechs Ladebuchten an der Zürcherstrasse 123 in Schlieren durchschnittlich 14 Tonnen Material an. Und täglich wird von dort etwa gleich viel Material an 900 Empfänger – Krankenabteilungen, Operationssäle, Intensivstationen – verteilt. Der Einkauf ist für die Beschaffung von sämtlichen Produkten zuständig, die bei der Behandlung von Patienten eine Rolle spielen: Tupfer und Skalpell, Beinschiene und Bleischürze, Stethoskop und Augenlaser. Die Medikamente kommen hingegen nicht von hier. Darum kümmert sich die Kantonsapotheke.

41 000 Handschuhe pro Tag

Jahrein, jahraus werden im Universitätsspital jeden Tag durchschnittlich 5 neue Geräte angeschafft, 10 000 Spritzen verabreicht und 41 000 Handschuhe verbraucht – alle vier Sekunden ein Paar. Pro Jahr kommen so 75 000 Bestellungen bei 2000 Lieferanten zusammen. «Der Einkauf ist extrem komplex geworden», sagt die Qualitätsbeauftragte des Universitätsspitals Zürich, Florentina Pichler. Vor sieben Jahren, als Pichler hier anfing, arbeiteten 17 Leute im Einkauf, heute sind es 35. Das hat auch mit Corona zu tun, liegt aber vor allem an der Zentralisierung und Professionalisierung des Einkaufs.

«Vor ein paar Jahren versuchten wir noch, möglichst nur einen Lieferanten pro Produkt zu haben», sagt Pichler. Grössere Mengen verbesserten die Verhandlungsposition, um tiefere Preise zu erzielen. «Das sieht jetzt natürlich anders aus. Dort, wo wir nur einen Lieferanten hatten, gab es punktuell Probleme.» Die einfachste Lösung wäre natürlich, sehr viel von allem an Lager zu nehmen. Doch Pichler winkt ab: «Dafür ist die Kapazität des Lagers zu klein und die Zahl der Produkte zu gross.» Vieles von dem, was geliefert wird, wird in der Nähe der Lastwagentore zwischengelagert, weil es gleich wieder hinausgeht. Zwei Dutzend Männer und Frauen packen in der grossen Halle Waren um, etikettieren sie neu und bereiten sie für die Abholung vor. Falls die Lastwagen ausbleiben sollten, würde der Vorrat der wichtigsten Artikel noch ein bis zwei Monate reichen.

Hinter einem deckenhohen Regal mit Tausenden von Operationsmasken, Infusionsschläuchen und Blutsammelröhrchen findet sich der Gefahrengutraum 1, wo an der Position G-01-01 Kisten von Flaschen mit Handdesinfektionsmittel auf einer Epal-Palette stehen. Wie Holligers Paletten bestehen auch sie nur aus wenigen Komponenten, doch auch bei ihnen gilt: Es reicht, dass eine Zutat fehlt, damit es Schwierigkeiten gibt. In diesem Fall war es der Pumpspender, um den Alkohol zu dosieren. Er konnte zu Beginn der Pandemie wochenlang nicht geliefert werden. Das war in einer gewissen Weise grotesk, denn es fehlte nicht das Desinfektionsmittel, um das es im Grunde ging, sondern bloss die Vorrichtung, um es effizient auf Hände zu verteilen.

Im Zentrallager behalf man sich als Erstes damit, gebrauchte Pumpspender von leeren Flaschen nicht mehr wegzuwerfen, sondern sie sterilisiert wiederzuverwenden. Als das nicht mehr reichte, baute der technische Dienst Ständer für die 25-Liter-Nachfüllflaschen, für die es noch Pumpspender gab. Das hatte einen zusätzlichen Vorteil. Die Flaschen waren so schwer, dass sie nicht gestohlen wurden, was bei den 500-Milliliter-Flaschen hin und wieder vorgekommen war.

Um herauszufinden, wo es noch zu Engpässen kommen könnte, fragte Pichler in Italien und im Tessin nach: «Was geht euch aus?» Als die Fallzahlen wuchsen, bestellte der Einkauf mehr Schutzmaterial, weil man wusste: Zwei Wochen später würden auch die Spitaleintritte ansteigen. Als es keine Schutzbrillen mehr gab, stellte man diese zusammen mit der ETH in 3-D-Druckern her.

Aber es ist nicht nur die Pandemie, die die Arbeit im Einkauf und in der Logistik grundsätzlich verändert, hinzu kommen eine neue Medizinprodukteverordnung und das Fehlen eines Rahmenabkommens mit der Europäischen Union, die die Beschaffung erschweren. Heute versucht der Einkauf möglichst für jedes kritische Produkt einen zweiten Lieferanten und einen alternativen Artikel zu haben. Trotzdem bleibe vieles schwer vorhersehbar, sagt Pichler, «wir können den Lieferanten ja nicht in die Karten schauen». Auch wenn die Waren zu einem grossen Teil aus inländischen Quellen bezogen werden, stammen sie ursprünglich oft aus dem asiatischen Raum. Die vielen Vorstufen der Herstellung sind dem Endkunden unbekannt. Wie bei Holligers Palettennägeln bieten alternative Lieferanten oft nur eine Scheinsicherheit, wenn sie gewisse Rohstoffe aus ein und derselben Quelle bezogen.

Das Zentrallager des Universitätsspitals ist nicht nur von seinen 2000 Lieferanten abhängig, sondern auch von deren Lieferanten und diese wiederum von ihren Lieferanten: ein filigranes Netz aus unzähligen, grösstenteils unbekannten Partnern.

«Früher hat man einfach nachbestellt, wenn ein Produkt zur Neige ging», sagt Pichler. Doch diese Methode ist den neuen Umständen nicht gewachsen. Deshalb wird im Einkauf nun eine künstliche Intelligenz eingesetzt, die aus vergangenen Bestell- und Verbrauchsmustern einen Materialmangel vorhersagt, lange bevor ein Mensch ihn bemerken würde. Um immer einen Schritt voraus zu sein, sollen dereinst auch Operationspläne, das Wetter, Grossanlässe und das Freizeitverhalten einfliessen. Die künstliche Intelligenz schlägt dann vor, zwei Wochen vor dem voraussichtlich ersten Tag mit Glatteis Schienen für Handgelenkbrüche zu bestellen.

Ohne Russ stünde die Welt still

Der Krieg in der Ukraine traf überraschend auch einen Rohstoff, von dem die meisten Leute nicht einmal ahnen, dass er einer ist: Russ. Ohne Industrie-Russ oder Carbon Black, wie ihn die Fachleute nennen, stünde die Welt im wörtlichen Sinn still: In jedem Autoreifen stecken etwa drei Kilogramm davon; deshalb sind sie schwarz. Russ verbessert nicht nur die Abriebeigenschaften der Reifen, sondern schützt sie auch vor der Ultraviolettstrahlung der Sonne, die den Gummi sonst brüchig macht. «Es ist noch nichts Besseres als Russ gefunden worden», sagt Pierre Schäffer, Vertriebsleiter beim Reifenwerk Heidenau bei Dresden. Heidenau ist ein mittelständischer Fabrikant, der zum Beispiel Pneus für Motorräder oder Gokarts herstellt.

Russ entsteht bei der unvollständigen Verbrennung von Kohlenwasserstoffen wie Öl, Petroleum oder Gas. Er ist der schwarze Rauch, der sich am Glas einer Sturmlaterne niederschlägt. Für die industrielle Herstellung von Russ gibt es Spezialöfen. «Da darf man sich keinen Schornstein zu Hause vorstellen, wo man das Zeugs von der Esse kratzt», sagt Schäffer, «es gibt vielmehr ganz verschiedene Korngrössen und Spezifikationen für unterschiedliche Zwecke. Es gibt sogar Rennrusse, die im Rennsport zum Einsatz kommen.» Heute fliesst zwei Drittel der Weltproduktion von Carbon Black in die Reifenherstellung.

Die Probleme begannen augenblicklich mit Kriegsbeginn in der Ukraine, denn in Europa stammt rund ein Drittel des Carbon Black aus Russland. «Das kam aus heiterem Himmel», sagt Schäffer. Heidenau lässt seinen Kautschuk ausser Haus mit den verschiedenen Hilfsstoffen mischen, zu denen der Russ gehört, und man hatte mehrere Lieferanten zur Auswahl. Aber wieder zeigte sich der beschränkte Nutzen mehrerer Lieferanten, wenn diese auf die gleichen Quellen in Russland zurückgreifen. Nun jagte bei Heidenau eine Krisensitzung die andere. Für vier bis sechs Wochen reichte das Lager. Aber dann? «Es stand ein Produktionsstopp im Raum», sagt Schäffer.

Schliesslich fanden die Einkäufer andere Quellen. Wo Heidenau heute den Industrie-Russ herhat, will Schäffer nicht preisgeben. Aber in der Branchenzeitschrift «Rubber News» sagte Paul Ita von der Notch Consulting Group, die Einfuhr nach Europa von Carbon Black aus Ägypten, Südafrika, Indien, Saudiarabien und Iran habe sich stark erhöht. Der Import aus China hat sich von 400 Tonnen im Januar 2022 auf 11 000 Tonnen im März fast verdreissigfacht, obwohl der Transport teurer ist. Auf den Schiffen sind ja schon die Brettspiele und die Hometrainer. Der Transport eines Schiffscontainers kostete zuweilen das Achtfache

Derweil vermeldete einer der führenden Hersteller von Industrie-Russ, Orion Engineered Carbons, mit 14 Werken in aller Welt, einen Drittel höhere Einnahmen bei gleichbleibendem Verkaufsvolumen. «Die Preise kennen nur eine Richtung», sagt Schäffer. Das gilt nicht nur für das Rohmaterial, sondern auch für die Reifen: Heidenau hat die Preise im Mai 2022 um 14 Prozent gehoben und erneut im September um 6 Prozent. Trotzdem wird das Unternehmen von Anfragen überrannt. Einerseits haben viele Menschen während der Corona-Zeit das Motorradfahren entdeckt, andererseits bringen die unterbrochenen Lieferketten, über die man bei Heidenau eben noch geklagt hat, manchmal auch Vorteile. Sie sind der Grund dafür, dass die Pneus aus Asien im Moment in Deutschland fehlen.

Gesucht: verarbeitete Luft

Aus dem schmucklosen Konferenzraum der Landor-Genossenschaft in Muttenz hat man die ganze Logistik des Unternehmens im Blick. In Richtung Norden liegen Bahngeleise und Rhein, die beiden Transportwege für das Gut, das hier umgeschlagen wird, im Osten stehen der Ladekran und die Lagerhallen, wo die Lastwagen für die Feinverteilung vorfahren, gegen Westen sieht man das Restaurant Auhafen mit dem Anker auf dem Wirtshausschild, wo Kapitäne und Fahrer einen Kaffee trinken. Wie seltsam ihre Tätigkeit anmutet, ist ihnen kaum bewusst. Sie transportieren ein Produkt, das es überall auf der Welt schon in Hülle und Fülle gibt: Stickstoff. Was Landor im Auhafen von Schiffen auf Lastwagen umlädt, ist im Grunde verarbeitete Luft.

Im 19. Jahrhundert entdeckten Wissenschafter, welche Nährstoffe das Wachstum der Pflanzen fördern. Der mit Abstand wichtigste war Stickstoff, der 80 Prozent unserer Atemluft ausmacht. Leider tun sich in der Luft jeweils zwei Stickstoffatome zu einem extrem stabilen Molekül zusammen, das Pflanzen nicht aufbrechen können. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es, mittels des sogenannten Haber-Bosch-Verfahrens Stickstoff aus der Luft und Wasserstoff in Ammoniak zu verwandeln, das sich für die Produktion von Dünger eignete.

Der Kunstdünger veränderte die Landwirtschaft radikal. Selbst die magersten Böden liessen sich nun nutzen. Die Stickstofffixierung, wie der Vorgang genannt wird, gilt als eine der wichtigsten Entdeckungen der Menschheit. Sie ermöglichte es, die stark wachsende Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert mit Nahrung zu versorgen. Heute ist Ammoniak die energieintensivste Chemikalie der Menschheitsgeschichte. Sie ist weltweit für 1 bis 2 Prozent des Energieverbrauchs verantwortlich und für 1,4 Prozent der CO2-Emissionen.

Weil in der Schweiz viele Tiere gehalten werden, können drei Viertel des Bedarfs durch Hofdünger gedeckt werden. Für das restliche Viertel ist man auf Kunstdünger angewiesen. Auch in der Schweiz wurde lange Zeit Dünger hergestellt. Doch seit Lonza in Visp 2018 die Produktion eingestellt hat, ist unser Land vollständig von ausländischem Dünger abhängig. Landor deckt sich vor allem bei Chemiewerken ein, die flussabwärts am Rhein liegen.

Bis vor kurzem trafen sich im Konferenzraum alle 14 Tage die zuständigen Personen von Landor und entschieden anhand von Bedarf und Preis, welche Mengen gekauft werden sollten. «Wenn wir 5000 Tonnen bestellten, sagte der Lieferant: ‹Wollt ihr nicht 6000 nehmen?›», erinnert sich Jürg Friedli, der Geschäftsleiter von Landor. Die Preise waren über Wochen stabil, die Schiffe tuckerten in einer Woche den Rhein hoch: Das Düngerbusiness war ein berechenbares Geschäft. Damit ist es seit dem Kriegsausbruch vorbei. «Heute ist die Frage: Wer kann überhaupt noch liefern? Gibt es andere Quellen? Welche Ersatzprodukte kommen infrage?»

Und immer braucht es Gas

Der Grund für die Hektik lässt sich alleine auf einen Umstand zurückführen: Der Prozess, mit dem man den Stickstoff in Dünger verwandelt, hängt auf fatale Weise von einer einzigen Substanz ab: dem Erdgas. Einerseits liefert das Gas den Wasserstoff, den man neben dem Stickstoff für die Herstellung braucht. Andererseits benötigt man Gas als Energiequelle, um Druck und Temperatur für die chemische Reaktion aufzubauen.

Viele Düngerwerke im Osten Europas hängen direkt an Pipelines, aus denen russisches Gas strömt. Als dieses versiegte, verfügten sie weder über das Rohmaterial, für das 80 Prozent des Gases benötigt wurden, noch über die Energie zur Produktion, die die restlichen 20 Prozent bereitstellten. «Dass Werke abstellten, hatten wir zuvor noch nie erlebt», sagt Friedli. Doch seit Juli 2022 musste ein Werk nach dem andern seine Produktion drosseln oder ganz herunterfahren. Das brachte nicht nur die Düngerimporteure in Verlegenheit, sondern in einer Art chemischer Kettenreaktion auch die Hersteller von Mineralwasser. Als Nebenprodukt entsteht bei der Düngerherstellung nämlich Kohlendioxid, das Getränkefabrikanten für Sprudel brauchen. Ohne Dünger war plötzlich zu wenig davon im Umlauf. Zudem wurden auch die Glasflaschen knapp. Auch ihre Herstellung benötigt viel Gas.

Für Jürg Friedli begann die Suche nach anderen Quellen für Produkte, die es bei seinen Lieferanten nicht mehr gab. Einen Flüssigdünger, der in Europa nicht mehr aufzutreiben war, fanden er und seine Mitarbeiter schliesslich in den USA. «Das Produkt wird in New Orleans hergestellt und kommt per Hochseefrachter nach Belgien und von dort auf Lastwagen in die Schweiz.» Bei «New Orleans» schüttelt Jürg Friedli den Kopf und lacht. «Noch vor kurzem hätten wir das nicht gemacht.» Doch Erfahrung und alte Gewissheiten sind in dieser Zeit nicht mehr viel wert. Früher habe man eine oder zwei Wochen Zeit gehabt, um sich zu entscheiden. Heute heisse es manchmal: «Herr Friedli, sie haben eine Viertelstunde: Wollen Sie das Schiff, oder wollen Sie es nicht?»

Ein Schiff heisst zum Beispiel 1200 Tonnen Dünger für eine Million Euro. Es ist noch nicht lange her, da kostete eine solche Ladung ein Viertel davon. «Da muss ich mir überlegen: Ist das jetzt hirnrissig teuer, oder brauchen wir das?» Oft ist beides wahr.

Dass die Düngerpreise sich zuweilen verdreifacht haben, hat allerdings nicht nur mit dem fehlenden Gas zu tun. Als hätte eine böse Fee Friedli immer neue Hindernisse in den Weg gestellt, kamen noch Logistikprobleme hinzu. «Der Rhein ist eigentlich ein genialer Transportweg für Schüttgüter wie Dünger», sagt Friedli. Doch ausgerechnet im Sommer 2022 führte eine historische Trockenheit zu einem so tiefen Wasserspiegel, dass die Schiffe nicht mehr mit voller Ladung fahren konnten. Zudem wollte Deutschland seine Stromlücke mit Elektrizität aus Kohlekraftwerken stopfen. Die Schiffe, die sonst für Friedli Dünger transportierten, waren plötzlich mit Kohle unterwegs. Die Frachtpreise pro Tonne stiegen von 15 Franken auf 120 Franken. Seit Ende Juli 2022 kommt neu jede Woche auch ein Güterzug mit Dünger im Auhafen an. «Das gibt ein bisschen Ruhe, wenn das Schiff schwächelt», sagt Friedli.

Einfach weniger zu düngen und für einmal einen kleineren Ertrag hinzunehmen, sei oft keine Option für die Bauern. Dünger wirke sich auf den Ertrag und die Qualität der Pflanze aus, sagt Friedli, beim Brotweizen etwa verschlechtere sich die Eiweissqualität. «Der Bäcker könnte das Mehl daraus nicht brauchen.»

Engpässe fördern Innovation

Aber die Knappheit hat auch ihre positiven Seiten. Bisher gab es keinen Druck, sich aus der Abhängigkeit vom Erdgas zu lösen. «Gas war billig und immer verfügbar», sagt Friedli. Nachhaltige Lösungen, den Wasserstoff für die Düngerherstellung nicht aus Gas zu gewinnen, waren nicht wirtschaftlich. Diese Rechnung könnte nun plötzlich anders aussehen, vor allem, wenn sich durch neue Verfahren auch die Abhängigkeit vom Ausland vermindern liesse.

Engpässe treiben die Innovation an. Das war schon immer so. Fahrzeugreifen waren nicht immer schwarz. Der erste Ford Modell T rollte 1908 auf beigen Reifen vom Fliessband, die Farbe des Kautschuks, aus dem sie zur Hauptsache bestanden. Um seine Eigenschaften zu verbessern, mischte man Zinkoxid bei. Dass Russ sich ebenfalls als Zusatzstoff eignete, zeigte sich erst, als das Zink im Ersten Weltkrieg knapp wurde, weil es für die Herstellung von Munition benötigt wurde.

Heute erhöhen die Sanktionen gegen Russland den Druck, Carbon Black und die anderen Bestandteile der Reifen wiederzuverwerten. Bei dem darauf spezialisierten schwedischen Unternehmen Enviro Systems ging unmittelbar nach Kriegsbeginn eine Flut von Anfragen ein.

Auch wie ein Lager am besten bewirtschaftet wird, steht zur Debatte. Die Ära der Just-in-time-Beschaffung dürfte vorüber sein. Heute kann ein Hersteller sich nicht mehr darauf verlassen, dass er seine Rohstoffe genau dann geliefert bekommt, wenn er sie braucht.

Die Schweiz verfügt über ein Pflichtlager, das den Düngerbedarf des Landes im Notfall für vier Monate deckt. «Pflichtlager? Das hat früher doch niemanden interessiert», sagt Friedli, «die einzige Frage war: Wann schafft man sie ab?» Wie sehr sich die Einstellung geändert hat, liest Friedli aus der Tatsache, dass kürzlich das Schweizer Fernsehen darüber berichtet hat. «Früher wäre das undenkbar gewesen.»

Auch Landor hat die Kapazität ihres Lagers erhöht. Das war allerdings schon vor der Pandemie und dem Ukraine-Krieg geplant. Der Grund war, dass kein Dünger mehr im Inland hergestellt wurde und man nun vollständig von Importen abhängig war. Neben dem Gebäude mit den Flachsilos, wo der Dünger entladen wird, steht heute eine neue Halle. Die Tür fehlt noch. Darauf angesprochen, sagt Friedli nur: «Lieferschwierigkeiten.»