Die Todes-Kreuzung
von Tina Kaiser
stern vom 11.08.2022
An einer Berliner Kreuzung sterben drei Menschen innerhab eines Jahres bei Verkehrsunfällen. Der Artikel erläutert die jeweiligen Vorfälle und spricht mit dem Chef der Straßenverkehrsbehörde, Christian Haegele, über die verkehrsplanerischen Konsequenzen, Prozesse und Prioritäten für Autofahrer.
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Die Todes-Kreuzung
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als sich die Krankenschwester Cindy Bohnwagner im Norden Berlins auf ihr schwarzes Damenrad setzte, auf dem Rücken einen Rucksack mit neongelbem Regenschutz. Es war Freitag, der 14. Mai 2021, Bohnwagner musste zur Frühschicht in die Charité.
Um 6.06 Uhr fuhr Bohnwagner auf eine große Kreuzung der Greifswalder Straße, eine dieser breiten, mehrspurigen Berliner Ausfallstraßen, die von den Plattenbausiedlungen am nordöstlichen Stadtrand wie gewaltige Schneisen durch die teuren Altbauviertel des Prenzlauer Berg in die Mitte der Stadt führen.
Und zeitgleich mit ihr ein grüner Betonmischlaster.
Ein Autofahrer wird später von einem knirschenden Geräusch berichten, danach von lauten Schmerzensschreien.
Bohnwagner war mit ihrem Rad unter den Lkw gezogen worden, zwei Reifen des tonnenschweren Betonmischers kamen auf ihrem Becken, den Hüften und den Oberschenkeln zum Stehen. Sie bat den Ersthelfer noch, ihre Chefin anzurufen. Sie werde es wohl nicht zum Dienst schaffen.
Eine Frau, die den Unfall von einem Wohnzimmerfenster im sechsten Stockwerk aus sah, wird später erzählen, dass Cindy Bohnwagner noch mit ihrem Arm gewedelt und so versucht hatte, den Fahrer des Betonmischers zu warnen, bevor er ihr die Vorfahrt nahm.
Cindy Bohnwagner, 38, war der erste von drei Menschen, die im vergangenen Jahr an dieser Kreuzung starben.
Fünf Monate später, im Oktober, fuhr ein Motorradfahrer einen Jogger auf der Greifswalder Straße an, der Mann flog meterweit durch die Luft.
Im Dezember überrollte ein Lastwagenfahrer eine Radfahrerin, die vor ihm zum Abbiegen auf die Mittelspur gewechselt war.
Der Berliner Senat hätte diese Unfälle verhindern können, vielleicht verhindern müssen. So sagen es Angehörige der Toten, sagen es auch Fahrrad- und Fußgängerverbände. Nach den Unfällen gab es Mahnwachen an der Kreuzung, Demonstranten forderten den sofortigen Umbau, die neue Verkehrssenatorin der Grünen, Bettina Jarasch, versprach, schnell zu handeln.
Die Geschichte dieser Kreuzung mit ihren 32 Fahrspuren und ihren Unfällen ist keine Berliner Geschichte, sondern eine deutsche. Sie erzählt von den Problemen, die dieses Land mit der ständig wachsenden Verkehrsbelastung in den Städten hat. Jeder dritte Unfall innerhalb geschlossener Ortschaften ereignet sich an Kreuzungen. In den größten deutschen Städten hat sich die Zahl der zugelassenen Autos in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt. Die Straßennetze sind nicht im gleichen Maße mitgewachsen. Zudem müssen sich Autofahrer den Platz auf der Straße mit immer mehr und immer unterschiedlicheren Verkehrsmitteln teilen.
Wenn Politiker über die Verkehrs- oder Mobilitätswende sprechen, dann reden sie über saubere Luft, über freiere Straßen, über Klimaschutz und gesündere Fortbewegungsmittel. Sie sagen, die Städter sollten ihre Autos stehen lassen und stattdessen zu Fuß gehen, mit der Bahn, dem Rad, dem E-Bike oder dem E-Scooter fahren.
Was sie nicht sagen: dass die meisten deutschen Städte nicht darauf ausgelegt sind, all die unterschiedlich großen und unterschiedlich schnellen Verkehrsteilnehmer sicher durch die Städte zu lenken. Die heikelsten Konfliktzonen sind Kreuzungen, an denen täglich Zigtausende Einzelinteressen aufeinandertreffen: der Pendler im Auto, der es eilig hat, ins Büro zu kommen, die Mutter mit ihrem Kind im Lastenrad, die auf derselben Spur unterwegs ist, oder die alte Frau, die Sorge hat, es schnell genug auf die andere Straßenseite zu schaffen. Jeden Tag findet ein Verteilungskampf statt, den die Schwächsten mit ihrer Gesundheit, manchmal auch mit ihrem Leben bezahlen.
Allein in Berlin starben im vergangenen Jahr 40 Menschen im Straßenverkehr, fast 15 000 verletzten sich bei Unfällen. Die häufigste Unfallursache waren Abbiegefehler wie der des Mannes im Betonmischer, der Cindy Bohnwagner übersah.
Was also tun?
An einem regnerischen Nachmittag im Sommer 2022 steht Christian Haegele an der Straßenecke am Park, an der im Dezember der dritte tödliche Unfall innerhalb eines Jahres passierte. Haegele, 48, ein freundlicher Mann mit Vollbart und randloser Brille, ist der oberste Verkehrsplaner der Hauptstadt. Er wacht über 5400 Kilometer Straßennetz, davon 1400 Kilometer Hauptverkehrsadern, und 2100 Kreuzungen mit Ampeln.
„Wir sprechen von Lichtzeichen- oder Lichtsignalanlagen“, sagt Haegele mit ironiefreier Sachlichkeit, wie sie nur langjährige Verwaltungsbeamte beherrschen. Bevor er im Januar 2020 zum Chef der Straßenverkehrsbehörde ernannt wurde, leitete er viele Jahre die Bußgeldstelle der Polizei Berlin.
Nun soll Haegele erklären, warum auf seinen Straßen Jahr für Jahr so viele Menschen verunglückten.
Verkehrslenker zu sein ist für ihn mehr als eine Verwaltungstätigkeit. Als Kind, so erzählt er, wuchs er an einer stark befahrenen Kreuzung in Berlin-Steglitz auf. Sein Vater habe ihm einen Kinderstuhl auf ein Regal am Kinderzimmerfenster geschraubt, damit er nach draußen gucken konnte. Haegele verbrachte dort Stunden und beobachtete die Verkehrsströme.
Wo andere nur ein Wimmelbild von sich kreuzenden Fahrzeugen und Menschen sehen, sieht er Ursachen und Reaktionen.
Verkehr sei wie Wasser, sagt Haegele. Er nehme den Weg des geringsten Widerstands. Durch intelligente Verkehrsführung ließen sich keinesfalls alle, aber viele Unfälle vermeiden.
Es gibt Städte, die haben gezeigt, dass es geht: Oslo und Helsinki zum Beispiel. Sie haben seit Jahren darauf hingearbeitet, Autos langsam und auf engen und vom Radverkehr klar abgegrenzten Fahrbahnen durchs Zentrum zu leiten. So haben sie die sogenannte „Vision Zero“ erfüllt. 2019 starb dort kein einziger Fußgänger oder Radfahrer im Straßenverkehr. Berlin ist von diesem Ziel ebenso wie die meisten anderen deutschen Städte noch sehr weit entfernt.
Die Bundesregierung verlangt von Haegele und den anderen Verkehrsplanern im Land, das zu ändern. Sie sollen das Versprechen erfüllen, das die Bundesregierung ihren Bürgern im vergangenen Jahr gab: keine Schwerverletzten oder Toten mehr im Straßenverkehr. Deutschlands Städte sollen fahrrad- und fußgängerfreundlich werden. Die Berliner Landesregierung verankerte die „Vision Zero“ schon in ihrem 2018 verabschiedeten Mobilitätsgesetz.
Haegele sagt: „Das bedeutet für uns bei der Verkehrsplanung aber, eine Straßenlandschaft komplett umzubauen, die über Jahrzehnte so gewachsen ist.“ Das gehe nicht über Nacht.
Das Berliner Mobilitätsgesetz schreibt seinen Verkehrsplanern vor, pro Jahr mindestens 30 sogenannte Unfallhäufungsstellen verkehrssicher umzubauen. Damit sind Knotenpunkte gemeint, an denen es innerhalb der vergangenen drei Jahre mindestens fünf Unfälle mit Personenschäden gab. Haegeles Problem: In Berlin gibt es derzeit 1504 Unfallhäufungsstellen. Bei dem vorgegebenen Tempo würde er 50 Jahre brauchen.
MARLIES
Verkehrstote sind für die meisten Menschen nicht viel mehr als eine Zahl in einer Statistik, anonyme Opfer in Polizeimeldungen oder Nachrichtenspalten. „Die Leuten sollen wissen, wer Marlies war“, sagt ihre langjährige Freundin und Nachbarin Alexandra Engel. Nämlich eine dieser Frauen, die Menschen leicht übersehen, die aber immer da sind, wenn man sie braucht. Marlies Buitkamp, 58 Jahre, alleinstehend, Hausmeisterin. Sie backte Kuchen, wenn jemand Geburtstag hatte. Sie pflegte die Rosensträucher auf der Straße. Sie ging gern zum FKK-Baden im See, liebte Puzzles, spielte Trompete. Sie saß fast jeden Tag an ihrem Fenster zur Straße, Hochparterre. Wer vorbeikam, blieb stehen. Marlies Buitkamp konnte gut zuhören.
Am 7. Dezember 2021 fuhr sie um 10.34 Uhr mit ihrem Rad in südlicher Richtung über die Straße Am Friedrichshain. Sie steuerte auf den kleineren von zwei Verkehrsknoten zu, eine dreiarmige Kreuzung am Park. Vermutlich wollte sie dort nach links abbiegen. Als sie auf der Kreuzung ankam, wechselte sie auf die mittlere Spur. Von hinten näherte sich ein Sattelzug.
Haegele steht am Straßenrand, wenige Meter entfernt von der Stelle, an der der Sattelzug vor acht Monaten Marlies Buitkamp überrollte. „Mischverkehr“, brummt Haegele.
Er beobachtet einen Radfahrer, der zwischen zwei Autos an einer der Ampeln auf Grün wartet. An Haegeles Tonfall hört man, dass Mischverkehr wohl nicht gut ist. Die Kreuzung ist wie ein Trichter. An ihr verdichtet sich der Verkehr, der auf dem Rest der Straße durch Radwege und Autospuren getrennt ist, zu einem großen Gemenge. Sich verzweigende Fahrspuren in drei Richtungen, die sich Autos und Radfahrer, Roller und Busse teilen müssen.
„Solche Kreuzungen sollte es eigentlich gar nicht mehr geben“, sagt Haegele. Gerade für Radfahrer ist jedes Linksabbiegemanöver eine Wahl zwischen Lebensgefahr und Verkehrswidrigkeit. Entweder fädeln sie sich durch den Autoverkehr nach links ein, wie Marlies Buitkamp es versuchte. Oder sie weichen auf den Gehweg aus und verstoßen gegen die Straßenverkehrsordnung.
Haegele sagt, Verkehrsplanung habe in Berlin wie in den meisten deutschen Städten in der Vergangenheit vor allem ein Ziel gehabt: motorisierte Fahrzeuge möglichst zügig und ohne Stau durch die Straßen zu lotsen. „Die Straßennetze in deutschen Städten wurden für das Kfz gebaut, die anderen Verkehrsteilnehmer mussten sich unterordnen.“
Das sei den Behördenmitarbeitern aber nicht allein anzulasten, denn so sehe es die Bibel der deutschen Verkehrsbeamten vor: die StVO, die Straßenverkehrsordnung. Und die werde von wem gemacht? Von der Politik.
Der Knackpunkt, sagt Haegele, sei der Paragraf 45 der StVO. Der erlaube ihm als Verkehrsplaner nur dann, einen Radweg zu bauen, wo „dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich“ sei. Wenn jemand klage, wie oft in den vergangenen Jahren, wenn irgendwo ein Pop-up-Radweg entstehen sollte, muss Haegele zwingende Gründe dafür darlegen können.
„Eine weitere Autospur“, sagt er, „kann ich markieren lassen, ohne jegliche Begründung.“
Marlies Buitkamps Tod ist nun laut StVO „der besondere Umstand“ , der einen Radweg zwingend erforderlich macht. Auch dafür gibt es eine Verwaltungsvorschrift: Passiert ein tödlicher Unfall, ist Haegeles Behörde verpflichtet, die Kreuzung zu inspizieren und wenn möglich sicherer zu machen. Macht er jetzt auch. Haegele wird den Autofahrern jeweils eine ihrer Spuren wegnehmen: Die rechten Spuren werden zu Radwegen, und die Radfahrer bekommen eine eigene Ampel zum Abbiegen. In wenigen Wochen sollen die Bauarbeiten beginnen.
Muss erst jemand sterben, damit eine Kreuzung einen Radweg bekommt? Es gibt ein Bündnis von Umwelt-, Verbraucher- und Verkehrsverbänden, das eine schnelle Reform der StVO fordert. Nicht die Autos, sondern die Verkehrsteilnehmer sollten in den Mittelpunkt der Verkehrsplanung gestellt werden.
Haegele findet das richtig. Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Rad zu verunglücken, ist achtmal höher als mit einem Auto, mit einem E-Bike sogar 24-mal höher. Die meisten Auto- und Lastwagenfahrer seien sich offenbar der Gefahr nicht bewusst, die von ihnen ausgehe, sagt Haegele.
Die Autos werden immer größer, und je größer die Autos, desto sicherer fühlen sich die Insassen. Laut Statistischem Bundesamt sind Fahrzeuge für andere umso gefährlicher, je größer und schwerer sie sind. 2021 wurden 62 Radfahrer durch Lastwagen getötet, 136 durch Pkw. Dabei fahren auf deutschen Straßen rund 14-mal mehr Personenwagen als Lastwagen.
Es gehe gar nicht darum, Radfahrer gegenüber Autofahrern zu bevorzugen, sagt der Verkehrsplaner Haegele. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sie gleichberechtigt behandelt würden. Er nennt ein Beispiel, das jeder Radfahrer kennt: Man fährt über einen Radweg, der plötzlich einfach endet.
„Was meinen Sie, was hier los wäre, wenn ich so eine Autoverbindung planen würde?“ , fragt Haegele. Der Autoverkehr sei von A bis Z durchdacht. Ein Schild „Autofahrer bitte aussteigen und schieben“ sei undenkbar.
Er zeigt auf eine rote Ampel, an der in diesem Moment acht Autos warten. „Das sieht schon aus wie ein kleiner Stau, oder?“ Säßen aber insgesamt nur acht Leute drin. Eine Ampel, an der acht Fußgänger oder Radfahrer stehen, würde dagegen kaum auffallen.
„Jede Kreuzung ist ein Kompromiss“, sagt er. Im Fall der Greifswalder Straße heißt das, alle paar Sekunden landet ein Schwall neuer Autos an der Kreuzung, 30 000 sind es am Tag von Norden und Süden, 15 000 von Osten und Westen. Dazu kommen noch mal ähnlich viele Verkehrsteilnehmer, die zu Fuß, auf Rädern oder Rollern, im Bus oder in der Straßenbahn die Kreuzung überqueren. Und fast alle haben es eilig.
PETER
Wenn ein Mensch bei einem Verkehrsunfall stirbt, endet das Leid nicht mit dem Herzstillstand. Statistisch gesehen gibt es dann 113 Angehörige, Ersthelfer und Einsatzkräfte, die den Tod verarbeiten müssen. Anne S., eine junge Frau mit braunen Locken, sagt, sie denke auch zehn Monate nach dem Unfall noch viel an das, was sie am 19. Oktober 2021 erlebt hat.
Es war der Tag, an dem sie von der Ostsee nach Berlin zog. Am Abend saß sie vor einem vietnamesischen Restaurant an der Greifswalder Straße, als ein Knall sie aufschrecken ließ. Auf der Fahrbahn lag Peter Meinecke* , 53, ein gut aussehender Mann in Joggingklamotten.
Seine Familie hat [dem Medium] nicht erlaubt, seinen Namen zu veröffentlichen, daher heißt er hier Peter Meinecke. Dem Polizeibericht zufolge war er um 19.10 Uhr von der Straßenbahnstation in der Mitte der Greifswalder auf die Straße gelaufen und mit einem Motorrad kollidiert.
Anne S. sagt, sein Körper habe ausgesehen, als sei kein Knochen mehr an seinem Platz. In den Minuten vor Meineckes Tod kniete sie neben ihm. Um irgendetwas zu sagen, erzählte sie ihm von ihrem Umzug. Wie merkwürdig das sei, sagt sie: „Meine Umzugsgeschichte war vermutlich das Letzte, das er in seinem Leben hörte.“
In gewisser Weise gehört auch der Verkehrsplaner Haegele zu den 113 Menschen, die Meineckes Tod betrifft. Denn bei jedem Unfall muss er sich fragen, ob er ihn hätte verhindern können. Nun steht er nachdenklich vor dem kleinen Holzkreuz, das Angehörige Meineckes am Straßenrand aufgestellt haben.
Dann sagt er: „Nicht jede Unfallstelle kann ich sicherer machen.“ Es gibt hier keine Sichtbehinderungen zwischen Fußgängern und Autos, dazu eine Ampel in unmittelbarer Nähe, die Meinecke hätte benutzen können.
Das eine Problem ist, dass sich manche Fragen auch im Nachhinein nicht klären lassen. Wieso lief Meinecke vor das Motorrad? Und wieso konnte dessen Fahrer nicht rechtzeitig bremsen?
Das andere Problem ist, dass es immer jemanden gibt, der trotzdem den Eindruck erweckt, er wisse alles. Der behauptet: Der Fußgänger oder Radfahrer sei doch selbst schuld, hätte halt besser gucken müssen.
Hybris, sagt Haegele. Denn in Wahrheit mache jeder Verkehrsteilnehmer Fehler. Menschen laufen auf die Fahrbahn, obwohl die Ampel Rot zeigt. Andere sitzen am Steuer und schauen aufs Handy statt auf die Straße. „Wir sind alle nur noch am Leben, weil jemand anderes im richtigen Moment aufgepasst hat“, sagt Haegele.
Wenn es nach ihm ginge, dann würde er in großen Teilen der Innenstadt Tempo 30 einführen. Bei Tempo 30 rollt ein Auto durchschnittlich noch 13 Meter, nachdem der Fahrer eine Gefahr erkannt hat. Bei Tempo 50 sind es 28 Meter, der Bremsweg ist also mehr als doppelt so lang. Selbst wenn ein Unfall nicht zu verhindern ist, stehen die Chancen mit Tempo 30 deutlich besser, dass niemand sterben muss.
Bei einer Kollision mit einem Auto mit Tempo 50 ist der Fußgänger mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit tot. Bei Tempo 30 überlebt er mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit.
Die StVO schreibt aber in Ortschaften Tempo 50 auf Hauptverkehrsstraßen vor. Ausnahmen sind nur auf kurzen Abschnitten erlaubt, vor Schulen oder Altenheimen etwa. Die Stadt Berlin hat sich mit mehr als 100 weiteren deutschen Städten einer Initiative angeschlossen, die fordert, selbst über Tempobegrenzungen entscheiden zu dürfen. Ausgang ungewiss.
CINDY
Nachdem der Betonmischer Cindy Bohnwagner am 14. Mai 2021 überrollt hatte, amputierten Ärzte ihr das linke Bein. Zwei Wochen kämpften die Mediziner auf der Intensivstation um ihr Leben, vergebens.
Bohnwagners Schwester Nadine sagt, Cindy sei in den Tagen vor dem Unfall voller Vorfreude auf die Zukunft gewesen. „Mehr als ein Jahr hatte sie als Krankenschwester freiwillig unter extremen Bedingungen auf der Covid-Station gearbeitet, der Wechsel zurück in die Chirurgie stand an.“ Der Lockdown war zu Ende, die Stadt erwachte allmählich wieder. Die Schwestern hatten einen Urlaub auf Mallorca gebucht, sie freuten sich auf Sonne, warmen Sand unter den Füßen.
Cindy Bohnwagner ist tot, der Fahrer des Betonmischers muss sich in den kommenden Monaten einem Prozess stellen, die Anklage lautet auf fahrlässige Tötung. Nadine Bohnwagner hat von ihrem Anwalt erfahren, dass ihre Schwester Cindy nicht die Erste war, die der Mann überfahren hat. Vor drei Jahren übersah er schon einmal einen Radfahrer beim Rechtsabbiegen. Das Unfallopfer überlebte damals schwer verletzt, der Fahrer zahlte eine Geldstrafe und setzte sich wieder in seinen Betonmischer.
Bei dem tödlichen Zusammenstoß mit Cindy Bohnwagner belastet ein Gutachten den Fahrer schwer: Er soll zu schnell gefahren sein, die Vorfahrt missachtet haben. Einiges spricht allerdings dafür, dass auch ein besseres Verkehrsmanagement an der Todeskreuzung Cindy Bohnwagner das Leben hätte retten können.
Haegele widerspricht nicht. Das Problem, sagt er, sei die Ampelschaltung. Die Autos in der Rechtsabbiegerspur und die Radfahrer daneben auf dem Radweg bekommen gleichzeitig Grün, bewegen sich gleichzeitig auf die Kreuzung zu.
„Das ändern wir jetzt“, sagt Haegele.
Wo Cindy Bohnwagner überfahren wurde, erhalten die Rechtsabbieger künftig eine eigene Ampel, die Radfahrer auch. Wenn die Rechtsabbieger Grün sehen, haben die Radfahrer Rot und umgekehrt.
Es klingt so einfach, dass sich eine Frage aufdrängt: Wieso ist das nicht längst geschehen? Haegele sagt: wegen der Statistik. Vor Bohnwagners Unfall gab es jahrelang keinen tödlichen Unfall hier. Die Kreuzung hatte keine Priorität.
Und wieso ist Cindy Bohnwagner seit 15 Monaten tot, aber die neue Ampel immer noch nicht da?
Haegele holt Luft, als wolle er noch einen Moment Zeit gewinnen, bevor er in die dunklen Untiefen der Verwaltungsbürokratie hinabsteigen muss. Seine Antwort dauert fast 20 Minuten, die Kurzfassung geht ungefähr so: Es gibt eine Vielzahl von Behörden und privaten Ampelgesellschaften, die zusammenarbeiten müssen, um eine Lichtsignalanlage umzubauen. Das Pingpong der Zuständigkeiten sei kompliziert, mindestens ebenso kompliziert sei es, ein neues Programm für die Ampeln zu berechnen.
Haegele hat Ingenieure in seiner Abteilung, die tagein, tagaus an Taktungen tüftelten, „Umlaufzeiten“, „Überfahrzeiten“ und „Räumzeiten“ berechnen. Denn ein Rentner muss genug Zeit bekommen, um es sicher auf die andere Straßenseite zu schaffen, aber die ungeduldige Geschäftsfrau mit Termindruck darf nicht zu lange auf Grün warten müssen. Je länger die Ampelphase dauert, desto größer die Gefahr, dass Menschen bei Rot loslaufen. Verkehrsplaner-Latein: zu lange Rot gleich tot.
Es gehe aber nicht nur darum, den richtigen Takt für eine Kreuzung zu finden, sagt Haegele. Ein Straßenverkehrsnetz ist fast wie ein lebender Organismus, ein Netz von Aderströmen, die alle miteinander verbunden sind. Wenn man die Umlaufzeit einer Lichtsignalanlage verändere, also die Zeit, in der jeder einmal Grün hatte, habe das Auswirkungen auf die Kreuzungen davor und dahinter.
Am Ende ist es wie mit einem Kartenhaus: Zieht man irgendwo eine Karte heraus, kann das ganze Gebäude ins Wanken geraten. Es gibt Ampeln in Berlin, deren Umprogrammierung fast zehn Jahre gedauert hat.
Haegele sagt, er wisse, dass das alles nicht befriedigend klingen kann, nicht für die Angehörigen der Verkehrstoten und auch nicht für alle anderen Berliner. Jedes Mal, wenn wieder eine Meldung über einen Verkehrstoten auf seinem Schreibtisch landet, kriegt auch Haegele Angst. Er hat einen Sohn im Grundschulalter, der fahre sehr gern Rad.
*Name von der Redaktion geändert