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Die Tesla-Files

von Sönke Iwersen, René Bender, Astrid Dörner, Felix Holtermann, Thomas Jahn, Katharina Kort, Martin Kölling, Martin Murphy, Lars-Marten Nagel, Vinzenz Neumaier, Stephan Scheuer, Michael Verfürden und Volker Votsmeier
Handelsblatt vom 26.05.2023

Der Artikel arbeitet Insider-Dokumente aus dem Tesla-Konzern auf, die Kundenbeschwerden über Gefährdungen durch Fahrassistenzsysteme betreffen. Sie lassen den Schluss zu, dass Tesla die Sicherheit seiner Kunden zugunsten der Weiterentwicklung des autonomen Fahrens billigend gefährde, indem nicht ausgereifte Systeme auf öffentlichen Straßen getestet werden; in den USA laufen erste Prozesse. Ein weiteres Problem seien grobe Mängel im Schutz von personenbezogenen und unternehmensstrategischen Daten, die einen Verstoß gegen die DSGVO bedeuten.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Die Tesla-Files

Selbstfahrende Fahrzeuge zu bauen ist für Tesla eine Frage der Existenz. Einen funktionierenden Autopiloten zu entwickeln, sagte Konzernchef Elon Musk im Juni 2022, entscheide darüber, „ob Tesla viel Geld wert ist oder praktisch null“.
Es ist nicht lange her, da war Tesla mehr wert als BMW, Ford, General Motors, Honda, Mercedes, Toyota und Volkswagen zusammen. Im November 2021 erreichte die Marktkapitalisierung des weltgrößten Elektroautoherstellers 1,2 Billionen Dollar.
Heute ist es weniger als die Hälfte. Niemals zuvor hat ein Unternehmen in so kurzer Zeit so viel an Börsenwert verloren.
Das Unternehmen sieht sich mit zahlreichen Gerichtsprozessen zu seinen Fahrassistenzsystemen konfrontiert. Die US-Verkehrsbehörde NHTSA ermittelt. Nun sind mutmaßlich riesige Mengen interner Informationen aus dem Unternehmen gelangt. Sie deuten darauf hin, dass Teslas Probleme mit dem Autopiloten noch größer sein könnten als bislang angenommen.
Informanten haben [dem Medium] mehr als 100 Gigabyte Daten zugespielt. Diese Tesla-Files umfassen 23.000 Dateien. Darunter Excel-Listen, die offenbar Gehälter und Privatanschriften von mehr als 100.000 aktuellen und ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeigen, einen mutmaßlichen Geheimbericht mit Problemen des Cybertrucks, des Hoffnungsträgers des Unternehmens, sowie zahllose als vertraulich gekennzeichnete Dokumente - viele davon zu Unfällen mit dem Autopiloten.
[Das Medium] hat die Authentizität der Daten vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie prüfen lassen. Die Experten kamen in einem Gutachten zu dem Ergebnis, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass „der Datensatz nicht aus IT-Systemen von oder dem Umfeld von Tesla stammt“.
Der Konzern indes möchte nicht, dass über diese Daten berichtet wird. Vor einer Woche erhielt [das Medium] einen Brief von Teslas Hausjuristen Joseph Alm. Er forderte [das Medium] auf, dem Unternehmen eine Kopie der Daten zu übersenden und danach alle anderen Kopien unverzüglich zu löschen. Tesla habe Grund zu der Annahme, dass ein „verärgerter ehemaliger Mitarbeiter“ vor seinem Ausscheiden „seinen Zugang als Servicetechniker missbraucht hat“, um Informationen aus dem Unternehmen zu schleusen.
Dabei habe er gegen „seine unterzeichnete Geheimhaltungsvereinbarung, die Datenverwaltungsrichtlinien und - praktiken von Tesla sowie gegen EU- und deutsches Recht“ verstoßen. Das Unternehmen kündigte an, „wegen des Diebstahls vertraulicher Informationen und personenbezogener Daten“ rechtliche Schritte einzuleiten.
[Das Medium] hatte Tesla zuvor 65 Fragen zu den Tesla-Files gestellt, darunter solche zu den Informationen über erhebliche Zweifel am Autopiloten und an der Sicherheit von Teslas Kunden. Tesla ging nicht auf die Fragen ein.
Tesla-Jurist Alm teilte mit: „Wie Sie wissen, ist die Verwendung illegal erlangter Daten für die Medienberichterstattung nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig.“ [Das Medium] hält diese Umstände für gegeben.
Auch die zuständige Datenschutzbehörde ist alarmiert. Der Informant hat sich an die Datenschutzaufsicht in Brandenburg gewandt. Dort steht Teslas deutsche Giga-Fabrik. Ein Sprecher der Behörde sagt, aufgrund der „internationalen Dimension hat die Landesbeauftragte die niederländische Datenschutzaufsichtsbehörde bereits über den Fall in Kenntnis gesetzt“. In den Niederlanden liegt Teslas Europazentrale.
Stets präsent sind auch dort die hohen Ansprüche an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die Elon Musk weltweit bekannt ist. „Wir sind alle bestrebt, unseren Kunden ein außergewöhnliches Erlebnis zu bieten“, heißt es in einer internen Richtlinie des Elektroautobauers zum Umgang mit verärgerten Tesla-Fahrern. Die meisten Kunden kauften sich „nicht nur ein neues Auto. Sie erfüllen sich ihren Traum.“
Es kann aber auch ein Albtraum daraus werden. Die Tesla-Files enthalten Tausende Beschwerden über Fahrassistenzsysteme, die das Unternehmen als Autopilot bewirbt. Kunden schildern, wie ihre Autos plötzlich bremsen oder abrupt beschleunigen. Manche kamen mit dem Schrecken davon, andere landeten laut ihren Aussagen im Graben, fuhren gegen Wände oder prallten auf entgegenkommende Fahrzeuge.
[Das Medium] hat mit vielen Tesla-Kunden persönlich gesprochen. Ihre Schilderungen aus den Tesla-Files dokumentieren wir in den Zitaten, die den folgenden Kapiteln vorangestellt sind. Alle eint eine Frage: Wie gefährlich ist Teslas Autopilot?

Kapitel 1: Schilderungen zu mehr als 1000 Unfällen
„Mein Autopilot hat mich auf einer Strecke, die ich immer wieder fahre, fast umgebracht.“

Die Tabellen mit den Kundenbeschwerden dürften aus Teslas „Toolbox-System“ stammen. Der Autobauer nennt diese Software in einer internen Präsentation „den Hauptkommunikationskanal“ zwischen Service und anderen Abteilungen. In Toolbox sammeln Mitarbeitende von Tesla nicht nur gemeldete Zwischenfälle. Sie dokumentieren dort auch Diagnose- und Reparaturvorgänge.
Jede Liste mit Beschwerden trägt eine Nummer im Dateinamen, die für ein spezielles Problem steht. 27973 ist der Code für „Kunde behauptet, es sei zu einer ungewollten Beschleunigung gekommen“, 55538 für „automatische Notbremsung aus unbekanntem Grund ausgelöst“. 26977 steht für „Kunde meldet Kollision/Unfall/Crash“ und 29034 bedeutet: „Anfragen von Behörden (z. B. Polizei, Strafverfolgungsbehörden, Rechtsvertreter, Staatsanwaltschaft)“.
Die Tesla-Files enthalten mehr als 2400 Beschwerden über Selbstbeschleunigungen und mehr als 1500 Probleme mit Bremsfunktionen, darunter 139 Fälle von ungewollten Notbremsungen und 383 gemeldete Phantombremsungen infolge falscher Kollisionswarnungen. Die Zahl der Crashs liegt bei mehr als 1000. Eine Tabelle zu Vorfällen mit Fahrassistenzsystemen, bei denen Kunden Sicherheitsbedenken äußerten, erfasst mehr als 3000 Einträge.
Die ältesten Beschwerden, die [dem Medium] vorliegen, datieren aus 2015, die jüngsten aus dem März 2022. In diesem Zeitraum lieferte Tesla rund 2,6 Millionen Fahrzeuge mit der Autopilot-Software aus. Die meisten Vorfälle spielten sich in den USA ab, es finden sich aber auch Beschwerden aus Europa und Asien in den Dokumenten - darunter viele von deutschen Tesla-Fahrern.
[Das Medium] hat Dutzende Kundinnen und Kunden aus mehreren Ländern kontaktiert. Alle bestätigten die Informationen aus den Tesla-Files. In Gesprächen gaben sie Einblicke in ihre Erfahrungen mit dem Autopiloten. Manche legten ihre Kommunikation mit dem US-Autobauer offen, andere zeigten [Medium]-Reportern Videos des Unfalls.
Eine Ärztin aus Kalifornien etwa, die anonym bleiben möchte, berichtete [dem Medium] von einem Vorfall aus dem Herbst 2021. Sie habe auf einem Parkplatz wenden wollen, als ihr Tesla plötzlich wie ein Rennwagen beschleunigt habe. „Ich versuchte zu lenken, aber raste in einen Zement-Poller“, erinnert sich die Kundin. „Der fiel um, aber das Auto stoppte nicht. Ich fuhr in den nächsten Poller. Der Airbag ging los, und ich war völlig fassungslos.“
Der Schweizer Thomas Karl beklagte sich bei Tesla zwischen Januar und Oktober 2021 über ein Dutzend Fehlbremsungen mit seinem Fahrzeug. Karl war Stammkunde, seit zehn Jahren schon. Doch sein neues Model S machte ihn nervös, wie der E-Mail-Verkehr mit Tesla deutlich macht.
„Guten Tag die Herren, glauben Sie mir, dass ich langsam keine Nerven mehr habe?“, schrieb Karl am 26. Juli 2021 über einen erneuten Zwischenfall. Sein Tesla habe auf der schweizerischen A3 zwischen Flums und Sargans „nach der Überholung eines Fahrzeugs eine Vollbremsung vorgenommen, dass einem angst und bange wird“.
Ähnliches erlebte Manfred Schon nach eigener Aussage auf dem Highway M14. Der ehemalige Bosch-Mitarbeiter war am 1. Juni 2019 im US-Bundesstaat Michigan auf dem Weg zu einem Meeting, als sein Tesla „plötzlich eine Vollbremsung hinlegte, so hart, wie man sich nur vorstellen kann“, schilderte Schon [dem Medium]. „Ich wurde in den Sicherheitsgurt gedrückt und der Wagen kam fast zum Stehen. Dann prallte ein anderes Auto von hinten auf mich auf.“
Die Tesla-Files enthalten ähnliche Fälle in Deutschland. Ein Kunde klagt, sein Tesla sei „in eine Mittelleitplanke auf der Autobahn“ gefahren. Grund sei die Vollbremsung des Autopiloten gewesen. Ein anderer berichtete dem Kundendienst von seinem Model S: „Fährt in Gegenverkehr.“
Tesla beantwortete keine Fragen [des Mediums] zu den Beschwerden zum Autopiloten und möglichen Gefahren für Leib und Leben der Kundinnen und Kunden.

Kapitel 2: Verschoben, verzögert, vertagt
„Als ich meinen Sohn auf dem Schulparkplatz abgesetzt habe, schoss das Auto plötzlich nach vorne.“

Die Beschwerden passen nicht zu den Plänen, mit denen Musk immer wieder für Aufmerksamkeit sorgt. „Ich denke, dass wir in fünf oder sechs Jahren in der Lage sein werden, ein wirklich autonomes Fahren zu erreichen“, sagte der Tesla-Chef im Oktober 2014. Er verstehe darunter eine Reise, „bei der man buchstäblich in das Auto einsteigt, einschläft und am Zielort wieder aufwacht“.
Im Januar 2016 erklärte Musk, das autonome Fahren sei „im Wesentlichen ein gelöstes Problem“. Im April 2019 sagte Musk beim Tesla Autonomy Investor Day in Palo Alto, es sei „finanzieller Wahnsinn, etwas anderes als einen Tesla zu kaufen. Das wäre so, als würde man in drei Jahren ein Pferd besitzen.“ Schon 2020 „werden wir ganz bestimmt eine Million Robo-Taxis haben“, sagte Musk. „Wahrscheinlich bauen wir in zwei Jahren Autos ohne Lenkrad und Pedale.“
Es kam anders. Am 19. April 2023 stellte Musk die Geschäftszahlen für das erste Quartal 2023 vor. Der Nettogewinn sank im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 24 Prozent, was laut Analysten wohl vor allem an den Rabatten lag, die Tesla seit Monaten einräumt, um Marktanteile zu verteidigen. Die Aktie sackte nach Bekanntgabe der Zahlen um sechs Prozent ab.
Der Tesla-Chef gab ein neues Versprechen ab. Der Trend gehe „ganz klar in Richtung vollständig selbstständiges Fahren, in Richtung völlige Autonomie“, sagte Musk den Analysten. Tesla mache dramatische Fortschritte. Seine Prognose: „Ich zögere, das zu sagen. Aber ich denke, wir werden es dieses Jahr schaffen.“
Tesla fasst die Zukunft der Mobilität in drei Buchstaben: FSD. Sie stehen für Full Self-Driving - auf Deutsch: vollständiges Selbstfahren. Der Elektroautobauer bietet das FSD-Softwarepaket seinen Kunden für einen Aufpreis von 15.000 US-Dollar an.
Der US-Konzern verfolgt dabei einen speziellen Ansatz. Im Gegensatz zur Konkurrenz nutzt Tesla für seinen Autopiloten heute ausschließlich Kameras. Deren Bilder werden durch eine Künstliche Intelligenz ausgewertet und interpretiert. Zusätzliche Systeme, etwa Radar- oder Lasersensoren, auf die praktisch alle anderen Wettbewerber setzen, lehnte Musk lange ab. Inzwischen experimentiert Tesla wieder mit Radartechnik.
Der Autopilot von Tesla ist noch immer ein reines Fahrassistenzsystem. Kunden in den USA wie in Europa sind rechtlich verpflichtet, die Hände ständig am Steuer und die Augen auf der Straße zu behalten. So steht es auch in den Handbüchern von Musks Elektroautos. Das hindert Tesla jedoch nicht daran, die teuerste Version des Autopiloten als „Full Self-Driving“ zu vermarkten. Einige Kritiker werfen Musk deshalb Irreführung der Kunden vor.
Einer von ihnen ist der Gründer von Tesla, Martin Eberhard. Er hält es „für gefährlich“, ein autonomes Fahrzeug „auf die Straße zu lassen, ehe es hundertprozentig sicher und verlässlich ist“. Der Ingenieur Eberhard hatte Tesla 2003 gegründet und wurde einige Jahre später von seinem einstigen Investor Musk aus dem Unternehmen verabschiedet. Mit seiner Einschätzung zum Autopiloten ist Eberhard nicht allein.
Apple-Legende Steve Wozniak erzählte in einem CNN-Interview im Mai, Musk selbst habe ihn früh vom Kauf eines Tesla überzeugt, auch mit dem Versprechen, das Fahrzeug könne bis Ende 2016 selbstständig durch das Land fahren. „Ich habe das tatsächlich geglaubt, und es ist nicht einmal annähernd realistisch“, sagte Wozniak. Stattdessen müssten Kunden fürchten, dass der Autopilot versucht, sie „bei jeder Gelegenheit zu töten“.
Der kalifornische Milliardär Dan O'Dowd ist mit seiner Firma für Software für den Mobilitätssektor quasi Konkurrent von Tesla - und zugleich ein scharfer Kritiker von Musk. O'Dowd hat die Initiative „The Dawn Project“ gegründet. Sie soll Sicherheitsmängel in Systemen anderer Anbieter aufdecken. Ihr Hauptziel: Tesla und sein Autopilot. Im Februar zahlte O'Dowd sieben Millionen Dollar für 30 Sekunden Sendezeit beim Super Bowl.
Das Endspiel der National Football League sahen allein in den USA mehr als 113 Millionen Menschen. Der Clip zeigte, wie angeblich selbstfahrende Teslas Verkehrsregeln missachten, einen Kinderwagen rammen und eine kindsgroße Puppe auf einem Zebrastreifen über den Haufen fahren. Am Ende sagte eine Stimme aus dem Off: „Teslas Full Self Driving gefährdet die Bevölkerung“.

Kapitel 3: Tod im Tesla
„Autopilot ist ausgefallen (hat nicht gebremst) und ich bin fast jemandem mit 65 km/h aufgefahren.“

Tatsächlich stellt sich bei Unfällen immer häufiger die Schuldfrage: Hat der Fahrer einen Fehler gemacht? Oder hat ihn sein Autopilot im Stich gelassen? In den USA sollen bald die ersten Geschworenenprozesse starten - wegen tödlicher Unfälle, an denen das Fahrassistenzsystem schuld gewesen sein könnte. In einem besonders prominenten Fall muss sich ein 27-jähriger Fahrer wegen Totschlags verantworten, weil sein Model S am 29. Dezember 2019 in einem Vorort von Los Angeles in einen Honda Civic raste.
Gilberto Lopez und seine Beifahrerin waren sofort tot. Sie wollten an einer grünen Ampel abbiegen, als ein Tesla mit 119 Stundenkilometern über die Kreuzung schoss und auf ihr Fahrzeug prallte.
Der Tesla, dessen Fahrer aus juristischen Gründen hier nicht namentlich genannt werden darf, fuhr mit Autopilot. Er bremste weder an der roten Ampel, noch wich er dem Honda aus. So steht es in den Aufzeichnungen des Los Angeles Police Department und in Gerichtsdokumenten, die [dem Medium] vorliegen. Beide Autos schleuderten meterweit über die Kreuzung.
Donald Slavik vertritt die Familie von Lopez. Die Hinterbliebenen verklagen nicht nur den Tesla-Fahrer, sondern auch das Unternehmen.
Tesla habe seine Kunden mit übertriebenen Versprechungen zum Autopiloten in die Irre geführt, argumentiert Anwalt Slavik. Der habe das Fahren nicht sicherer gemacht, wie von Musk über Jahre hinweg versprochen, sondern „den Tesla weder abgebremst noch vom anderen Fahrzeug weggelenkt“.
Eine der Klägerinnen ist Lorena Ochoa, die frühere Frau des Honda-Fahrers. Tesla habe sich nicht ein einziges Mal bei ihr gemeldet, sagt sie. Es habe kein Wort des Bedauerns gegeben, keine Information darüber, warum das Modell S über die rote Ampel raste.
Auch [dem Medium] beantwortete Tesla keine Fragen zu dem Fall. In Anwaltsschreiben an das Gericht heißt es von dem Unternehmen, dass der Unfall „in keiner Weise durch Handlungen oder Unterlassungen von Tesla verursacht“ worden sei.
Schon drohen weitere Prozesse. Gerichte im kalifornischen Alameda, San Francisco und Santa Clara befassen sich mit mutmaßlichen Fällen von Versagen des Tesla-Autopiloten. [Das Medium] hat Unterlagen ausgewertet und mit Beteiligten gesprochen. Zwei davon sind die Schwestern Tammy Neuhaus und Becky Edwards.
Ihre Eltern David und Sheila Brown kamen am 12. August 2020 in einem Tesla Model 3 ums Leben. Das Fahrzeug raste mit 183 Stundenkilometern im kalifornischen Saratoga über eine rote Ampel und krachte in einen Toyota Tundra. [Das Medium] konnte die Unterlagen aus der dann folgenden Untersuchung einsehen.
Vater Brown fuhr demnach bei bester Sicht und mäßigem Verkehr auf der State Route 17 mit aktivierten Fahrassistenzsystemen. Um 11:12 Uhr, acht Minuten vor dem Crash, fuhr er „aus unbekanntem Grund“, auf den Standstreifen. Brown schnallte sich ab, beschäftigte sich vier Minuten und 14 Sekunden lang mit dem Fahrzeugcomputer. Er rief auch die Autopilot-Einstellungen auf.
Wieder auf der Straße, habe der Tesla den Daten zufolge auf 115 Stundenkilometer beschleunigt. Der automatische Kollisionswarner verringerte demnach kurzfristig die Geschwindigkeit. Dann schaltete sich der Autopilot angeblich ab.
Der Tesla habe weiter beschleunigt. Das Gaspedal verzeichnete laut den Daten einen Druck von 95 Prozent, als der Wagen das Heck eines Toyota Sienna touchierte. Brown fuhr vom Highway ab, angeblich ohne zu bremsen. Als der Tesla auf die Kreuzung zuraste und in den Toyota Tundra krachte, habe das Gaspedal gemeldet, dass es zu 100 Prozent durchgedrückt sei.
David Brown verstarb noch am Unfallort. Seine Frau Sheila kam mit vielen gebrochenen Rippen und einer Hirnblutung ins Krankenhaus. Zwei Tage später war auch sie tot.
Die Polizei informierte das National Transportation Safety Board (NTSB) in Washington. Die Aufseher schlossen Drogen und gesundheitliche Probleme als Unfallursache aus. Im Bericht der Behörde steht, der Fahrer müsse das Gas- mit dem Bremspedal verwechselt haben.
Browns Töchter klagen trotzdem gegen Tesla. Gemeinsam mit ihrem Anwalt Andrew McDevitt suchen sie nach Antworten auf offene Fragen. Warum war das Gaspedal angeblich zu 100 Prozent durchgedrückt, aber dennoch ein kurzer Bremsversuch in den Daten verzeichnet? Warum fuhr Brown Minuten vor dem Unfall auf den Standstreifen, um die Einstellungen des Autopiloten aufzurufen?
Tesla argumentiert in Gerichtsunterlagen, dass der Unfall nichts mit dem Autopiloten zu tun habe, weil dieser abgeschaltet gewesen sei. Fragen [des Mediums] zu dem Fall beantwortete das Unternehmen nicht.
Es ist kein Geheimnis, dass Tesla jeden Unfall auswertet. Im Sicherheitsbericht auf der Tesla-Website steht, das Unternehmen könne inzwischen „mehr als neun Milliarden mit eingeschaltetem Autopiloten gefahrene Kilometer“ nutzen, um die „verschiedenen Arten von Unfällen zu verstehen“.
Jede Kollision macht den Autopiloten ein Stückchen klüger, jeder Crash bringt das Unternehmen näher an Elon Musks Vision vom Tesla ohne Lenkrad und Gaspedal.
Nichts sei so sicher wie das vollständig autonome Fahren, behauptet Musk. So gesehen sind Unfälle Mittel zum Zweck. Meilensteine auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

Kapitel 4: Auf ganz lange Sicht
„Fahrzeug stieß auf Autobahn mit einem Reh zusammen, während der Autopilot eingeschaltet war.“

Im August 2022 erschien das neue Buch des schottischen Philosophen William McAskill: „Was wir der Zukunft schulden. Die Eine-Million-Jahre-Sicht.“ Elon Musk warb dafür mit den Worten: „Lesenswert. Dies entspricht ziemlich genau meiner Philosophie.“
McAskill ist Vertreter des sogenannten „Longtermism“, einer im Silicon Valley beliebten Denkschule. Sie lehrt, dass jeder Mensch seine Entscheidungen hauptsächlich darauf ausrichten sollte, wie sie die Welt in ferner Zukunft beeinflussen. Kurzfristige Probleme, sich häufende Autounfälle zum Beispiel, können so ihren Schrecken verlieren.
Im Mittelpunkt des Longtermism steht die Annahme, dass viel mehr Menschen in der Zukunft leben werden als heute. Das legitimiert Entscheidungen, die in der Gegenwart fragwürdig erscheinen mögen.
Kritiker halten das für gefährlich. Die Anhänger des Longtermism seien bereit, unter dem Deckmantel theoretischer Vorteile extreme Opfer in Kauf zu nehmen.
Ein theoretisches Beispiel: Weltweit sterben jedes Jahr mehr als eine Million Menschen im Straßenverkehr. Ein Autobauer behauptet, sein Autopilot könne in den nächsten 100.000 Jahren 100 Milliarden tödliche Unfälle verhindern. Dass Fehlfunktionen der Software eine Million Menschenleben kosten, wäre in einer extremen Lesart des Longtermism ein zu vernachlässigendes Problem. Schließlich entspräche die Zahl der Getöteten nur 0,001 Prozent der Geretteten.
McAskill reduziert mit dieser Logik auch Hungersnöte, Naturkatastrophen und Kriege auf kleine Dellen in der Menschheitsgeschichte. Selbst wenn die Bevölkerungszahl der Erde heute um 90 Prozent fallen würde, schreibt der Philosoph, hätte schätzungsweise 99,5 Prozent der Menschheit ihr Leben noch vor sich.
[Das Medium] hat Elon Musk gefragt, ob er solche Rechnungen angemessen findet. Der Tesla-Chef antwortete nicht.
Der Softwareingenieur Vivek Wadhwa gründete 1997 seine erste Firma, 1999 zeichnete ihn das „Forbes“-Magazin als „Leader of Tomorrow“ aus. Später ging Wadhwa in die Wissenschaft, 2013 kürte ihn das „Time Magazine“ zu einem der 40 einflussreichsten Köpfe in der Tech-Szene. Im selben Jahr traf Wadhwa Elon Musk. Der überzeugte ihn von seinen Autos.
Wadhwa kaufte ein Model S. 2016 stieg er auf das Model X um, um in den Genuss der neuesten Version des Autopiloten zu kommen. Wadhwa war begeistert - bis das Auto ohne sein Zutun gegen seine Garage fuhr. Bald darauf wollte er einem TV-Sender den Autopiloten vorführen. Doch vor laufenden Kameras hätte der Tesla beinahe einen Auffahrunfall provoziert - wenn Wadhwa nicht im letzten Moment auf die Bremse getreten hätte.
Musk befeuere mit seinen Prophezeiungen eine Lüge, sagt Wadhwa im Gespräch mit [dem Medium]. Ständig verspreche das Unternehmen, dass die Probleme mit dem Autopiloten mit dem nächsten Update gelöst würden. Aber dann passiere doch nichts. Wadhwa: „Menschen sterben wegen Teslas fehlerhafter Technologie. Und Elon versucht, damit davonzukommen.“

Kapitel 5: Behörden nehmen Teslas Autopiloten ins Visier
„Als meine Frau heute mit unserem Baby unterwegs war, hat das Auto wie aus dem Nichts automatisch beschleunigt.“

Die National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) ist das amerikanische Pendant zum Kraftfahrtbundesamt. Die Behörde kümmert sich unter anderem um die Sicherheit im Straßenverkehr. Die NHTSA hat Teslas Autopiloten nur unter der Voraussetzung zugelassen, dass der Fahrer die Straßenlage permanent überwacht, um im Ernstfall eingreifen zu können.
Die Behörde beobachtet Musks Unternehmen schon seit Jahren. In jüngster Zeit scheint ihr Eifer zu wachsen. [Dem Medium] liegt ein Fragenkatalog der NHTSA an Tesla vom 18. August 2022 vor.
Die Behörde fordert darin exakte Daten zu allen für die USA produzierten Fahrzeugen und ihren Software-Versionen an. Zudem lässt sie sich über alle Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Autopiloten informieren.
Eines davon machte im Januar 2023 Schlagzeilen. Grund war die Aussage von Ashok Elluswamy zu einem tödlichen Tesla-Unfall. Elluswamy, der Leiter der Software-Entwicklung für Teslas Autopiloten, wurde nach einem Werbespot aus dem Jahr 2016 gefragt.
Der Clip zeigte ein Model X, das scheinbar vollkommen autonom durch Kalifornien fuhr. Zu Beginn blendete Tesla in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund ein: „Der Mensch auf dem Fahrersitz sitzt dort nur aus rechtlichen Gründen. Er macht nichts, das Auto fährt selbst.“
Bei seiner Vernehmung gab Elluswamy an, das Autopilot-Team von Tesla habe auf Wunsch von Musk eine „Demonstration der Fähigkeiten des Systems“ entworfen und aufgezeichnet. Dabei sei es aber zu Problemen gekommen.
Bei Tests habe der Fahrer mehrfach eingreifen müssen, um Unfälle zu vermeiden. Tesla habe sich zu Vorsichtsmaßnahmen entschlossen. Der Wagen sei schließlich auf einer vorbestimmten Route gefahren, sagte Elluswamy. Zudem sei eine Einparkszene herausgeschnitten worden, in der das Auto in einen Zaun fuhr.
Dass Tesla das Video trotzdem auf seine Website stellte, hielt der Manager für legitim. „Die Absicht des Videos war nicht, genau darzustellen, was für die Kunden im Jahr 2016 verfügbar war“, sagte Elluswamy. „Es ging darum, darzustellen, was in das System eingebaut werden konnte.“
Bei Elon Musk klang das anders. Der Konzernchef kommentierte das Video am 20. Oktober 2016 auf Twitter: „Tesla fährt selbstständig (ganz ohne menschliche Eingaben).“
Seine Follower reagierten euphorisch. „Wow, absolut fantastisch“, lautete ein Kommentar. Manche Nutzer bedankten sich überschwänglich bei Musk, nannten ihn „Genie“ oder „einen der größten Denker und Revolutionäre unserer Zeit“.
Musks Tweet wurde mehr als 17.000 Mal mit „Gefällt mir“ markiert und mehr als 11.000 Mal retweetet. Sieben Jahre später erfuhr die Welt von Elluswamy, dass die Sache mit dem autonomen Fahren gar nicht so gemeint gewesen sei.
Die US-Verkehrsbehörde NHTSA forderte Tesla am 16. Februar 2023 dazu auf, bei 362.000 Autos mit der FSD-Software ein Update aufzuspielen. Die Behörde teilte mit, dass Probleme mit dem System „das Risiko eines Unfalls“ erhöhen. Es sei möglich, dass die Autos von allein die Höchstgeschwindigkeit überschreiten und auf „ungesetzliche oder unvorhersehbare Weise“ fahren - zum Beispiel „über eine Kreuzung“.
Tesla erklärte, dass das Unternehmen die Sorge der Behörde nicht teile. Der Autohersteller habe sich aber „aus Gründen der Vorsicht“ für ein freiwilliges Update entschieden. Die NHTSA will sich nach eigenen Angaben weiter mit dem Autopiloten beschäftigen. Die Behörde betonte, der Rückruf adressiere nicht alles, was die NHTSA derzeit untersuche.
Auch in China muss Tesla nachbessern. Die dortige Behörde für Marktregulierung forderte das Unternehmen auf, wegen eines möglichen Sicherheitsrisikos bei etwa 1,1 Millionen Fahrzeugen ein Softwareupdate vorzunehmen. Das sind gut 97 Prozent aller Fahrzeuge, die Tesla in China verkauft hat.
Bei dem Problem handelt es sich laut chinesischen Angaben um einen Bremsdefekt. Dieser könne dazu führen, dass der Tesla unbeabsichtigt beschleunigt, wenn der Fahrer eigentlich die Geschwindigkeit drosseln möchte. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes.
In den USA interessieren sich inzwischen auch Ermittler für Teslas Fahrassistenzsysteme. Das Bundesjustizministerium prüft, ob Tesla oder Führungskräfte des Unternehmens sich irreführend über die Fähigkeiten des Autopiloten geäußert haben.
Tesla bestätigte diese Ermittlungen im Januar. Parallel untersucht die Börsenaufsicht SEC, ob Elon Musk Aussagen machte, die etwas suggerierten, das nicht der Wahrheit entsprach.
Tesla beantwortete Fragen dazu nicht. In der Vergangenheit teilte das Unternehmen mehrfach mit, dass ihm keine laufenden staatlichen Ermittlungen bekannt seien, die ein Fehlverhalten nachgewiesen hätten.
[Dem Medium] liegt eine mutmaßlich interne Präsentation aus Mai 2018 vor. Sie ist Teil der Tesla-Files und zeigt offenbar, wie ein Ingenieur anlässlich einer Fehleranalyse für seine Kollegen Problembereiche auflistet. Demnach gab es zehn Kategorien. Zur heikelsten zählten das unbeabsichtigte Bremsen und Beschleunigen der Fahrzeuge. Dies beeinträchtige „den sicheren Betrieb des Fahrzeugs“, heißt es in der Präsentation. Daneben steht der Hinweis: „Gefährlich - ohne Vorwarnung direktes Risiko für die Sicherheit des Kunden.“
Tesla beantwortete keine Fragen zu der Präsentation und forderte [das Medium] stattdessen auf, sie und alle anderen Daten zu löschen.
Auf den amerikanischen Straßen fahren mehr Autos von Tesla mit fortgeschrittenem Fahrassistenzsystem als von jedem anderen Hersteller. Die NHTSA untersucht laut eigenen Angaben seit Juni die Autopilotsysteme in 830.000 Teslas.
Die Behörde weiß von 367 Unfällen, an denen zwischen Juli 2021 und Mai 2022 ein Auto mit aktiviertem Autopiloten beteiligt war. Bei knapp 70 Prozent davon war ein Fahrzeug von Tesla betroffen. Das Unternehmen von Elon Musk führte demnach die Unfallstatistik mit 273 Fällen an. Es folgten die japanischen Hersteller Honda mit 90 und Subaru mit zehn Fahrzeugen.
Die NHTSA weist darauf hin, dass ihre Zahlen nicht vollständig sind, weil Meldungen der Fahrzeughalter fehlen. Zudem ist die Meldepflicht für Unternehmen relativ neu.
Die Hersteller machten bei 98 Unfällen Angaben zu den Folgen. Bei elf Unfällen gab es insgesamt fünf Schwerverletzte und sechs Todesfälle. Tesla war in fünf der sechs tödlichen Unfälle verwickelt.

Kapitel 6: Massenkarambolage im Tunnel
„Häufiges Phantombremsen auf zweispurigen Autobahnen. Macht den Autopiloten fast unbrauchbar.“

Wie groß ist das Risiko für Tesla-Fahrer? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt in einen umgebauten Kuhstall im bayrischen Landkreis Landsberg am Lech.
Hier hat Jürgen Zimmermann seine Werkstatt. Bis zu 700 Teslas rollen im Jahr auf seine Hebebühne, sagt er. Zimmermann filmt, wie er die Wagen begutachtet, Räder abschraubt und Achswellen verflucht. Hunderttausende schauen sich seine Clips auf Youtube an.
Der Kfz-Mechatroniker ist ein Fan von Tesla. „Wahnsinn“ nennt er das Gefühl, in einem solchen Auto zu fahren. Bei aller Bewunderung für die Marke ist Zimmermann aber nicht blind für ihre Macken. Für die Probleme mit den ungewollten Beschleunigungen hat er eine Theorie.
Tesla habe lange einen Frontradar mit geringerer Auflösung genutzt. Für das System habe es „ein Auto vor mir - ja oder nein“ gegeben, nichts dazwischen, sagt Zimmermann. Fuhr der Wagen um eine enge Kurve, habe das Radar den Vordermann nicht mehr gesehen und beschleunigt.
Im Mai 2021 entfernte Tesla den Radarsensor. Die Aufgabe der Verkehrsüberwachung übernehmen nun nur noch die im Auto eingebauten Kameras. Eine Künstliche Intelligenz wertet ihre Videos in Echtzeit aus, gleicht die Daten mit Karten und Daten aus anderen Tesla-Fahrzeugen ab und gibt dem System entsprechende Fahranweisungen. Zimmermann sagt, das Problem mit den Beschleunigungen dürfte deshalb mit jedem Neuwagen kleiner werden.
Das lassen auch die Daten aus den Tesla-Files vermuten. Seit das Unternehmen auf die Kameras setzt, kommt es demnach offenbar weniger oft vor, dass die Autos von allein Gas geben. Doch während die Beschwerden über ungewolltes Beschleunigen in dem Datenpaket abnahmen, tauchte darin ein neues Phänomen auf: Phantombremsungen.
Am Morgen des 24. November 2022 verkündete Elon Musk auf Twitter, das „Tesla Full Self-Driving Beta ist jetzt für jeden in Nordamerika verfügbar, der es über den Bildschirm des Autos anfordert“. Vier Stunden später kam es zu einer Massenkarambolage in einem Tunnel in San Francisco.
Eine Überwachungskamera zeigt, wie ein weißer Tesla Model 3 auf die Überholspur wechselt und dann abrupt abbremst. Sieben andere Autos fahren auf. Neun Menschen werden verletzt. Nach Angaben des Tesla-Fahrers hatte er den Autopiloten eingeschaltet. Nun untersucht die NHTSA auch diesen Fall.
Kfz-Mechatroniker Zimmermann glaubte, dass abrupte Stopps mit einer fehlerhaften Kalibrierung der Kameras zusammenhängen könnten. Ein Selbstexperiment mit Gewichten im Kofferraum hat seine Theorie jedoch nicht bestätigt. Zimmermann tippt nun darauf, dass die Phantombremsungen vor allem ein Softwareproblem sind. Der Autopilot verwechsle demnach Schatten oder andere harmlose Dinge mit Hindernissen.
Tatsächlich lässt Tesla seine Kunden die Künstliche Intelligenz auf solche Fälle trainieren. Das Unternehmen hat das System laut einer Präsentation vom Investor Day im März 2023 allein mit 14.000 Videos „aus der eigenen Flotte“ gefüttert, die „Bremsungen aufgrund eines geparkten Autos“ zeigen.
Anders ausgedrückt: Es gab bereits mehr als 14.000 Phantombremsungen allein wegen stehender Fahrzeuge. Und Tesla wusste davon.

Kapitel 7: Nur nichts Schriftliches
„Unser Auto ist auf dem Highway einfach stehen geblieben. Das war ziemlich beängstigend.“

Wie ging das Unternehmen mit Beschwerden um? Auch darüber geben die Tesla-Files Aufschluss. Die Dateien zeigen, dass Mitarbeiter präzise Vorschriften zur Kommunikation mit den Kunden haben. Das oberste Gebot lautet dabei offenbar: Möglichst wenig Angriffsfläche bieten.
Zu jedem Vorfall gibt es Stichpunkte zur „technischen Überprüfung“. Die Mitarbeiter, die diese Überprüfung in das System einpflegen, stellen regelmäßig klar, dass der Bericht „nur für den internen Gebrauch“ bestimmt sei. In jedem Eintrag steht zudem fett gedruckt der Hinweis, dass Informationen, wenn überhaupt, nur „VERBAL an den Kunden“ weitergeleitet werden dürfen.
„Kopieren Sie den nachstehenden Bericht nicht in eine E-Mail oder Textnachricht oder hinterlassen Sie ihn in einer Voicemail an den Kunden“, heißt es weiter. Auch Fahrzeugdaten dürften nicht ohne Erlaubnis rausgegeben werden. Sollte sich trotz der Ratschläge „eine anwaltliche Involvierung nicht verhindern lassen“, müsse das unbedingt festgehalten werden.
Kunden, mit denen [das Medium] sprach, haben den Eindruck, dass Tesla-Mitarbeiter schriftliche Kommunikation meiden. „Sie haben nie E-Mails geschickt, es lief immer alles mündlich“, sagt die Ärztin aus Kalifornien, deren Tesla im Herbst 2021 ihren Angaben zufolge von selbst beschleunigte und gegen zwei Betonpfeiler knallte.
Nun muss sie eine höhere Versicherungsprämie zahlen. Tesla habe ihr die Schuld an dem Unfall auf dem Parkplatz gegeben, weil sie angeblich aufs Gaspedal getreten hätte. Bis heute habe sie Probleme mit unbeabsichtigten Beschleunigungen, von denen Tesla nichts wissen wolle.
Der frühere Bosch-Mitarbeiter Manfred Schon schrieb nach seinem Unfall im Juni 2019 mehrere Mails an Tesla, ohne eine Antwort zu erhalten. Die unbeabsichtigten Bremsungen seien „nicht mehr akzeptabel“ und „ein Sicherheitsrisiko“, beschwerte sich der Softwareentwickler. Teslas Umgang mit seinen Kunden schockiere ihn: „Dieses absolute Fehlen jeder Sorge angesichts der Schwere der Sicherheitsprobleme.“
Tesla beantwortete keine Fragen zu den Vorwürfen der Kunden.
[Dem Medium] ist kein Fall bekannt, in dem Tesla Fehler seines Autopiloten eingestanden hätte. Schon gab seinen Wagen schließlich in einem Service-Center ab. Als er das Auto nach mehreren Wochen abholte, habe ein Mitarbeiter ihm den Schlüssel mit den Worten überreicht, dass kein Problem festgestellt worden sei. Tesla könne nichts für ihn tun.
Der Schweizer Thomas Karl ist einer der Kunden, die schriftliche Antworten erhielten. Er warnte Tesla in einer Mail nach mehreren Phantombremsungen 2021, dass sein Auto „schlicht und einfach zu gefährlich für die Straße“ sei.
Die Tesla-Mitarbeiter antworteten per Mail, der Autopilot verhalte sich „absolut normal“. Karl solle doch bitte noch einmal in das Handbuch schauen.
Zudem würden Updates und Fahrsimulationen das System stetig verbessern, versprach ihm der Service immer wieder. Es sei nicht auszuschließen, dass der Autopilot schwierige Situationen in Zukunft „besser meistert“, schrieb ein Mitarbeiter am 5. Februar 2021, „wenn nicht sogar fehlerfrei“.
Der Schweizer fuhr weiter und schilderte neue Phantombremsungen. Auf eine Beschwerde antwortete ein Tesla-Mitarbeiter am 3. Mai 2021 per Mail, dass sie „rein auf die Software zurückzuführen“ seien. Teilweise seien die Spontanbremsungen sogar gewollt - „aus Sicherheitsgründen“. In einem Fall habe Karls Auto wohl wegen der Spurbreite gebremst: „Leider können wir uns nicht erklären, warum es dies hier macht.“

Epilog: Mut zum Risiko
„Phantom-Bremsung, die Spuren auf der Straße hinterließ. Brauche so schnell wie möglich Hilfe, da ich mich nicht wohl dabei fühle, wieder zu fahren.“

Karl hat bis heute keine Erklärung erhalten. Die Tabellen aus den Tesla-Files mit Stand März 2022 nennen neben dem Modell, der Fahrzeugnummer, dem Kilometerstand und der im Auto installierten Software auch den Status des jeweiligen Vorfalls. In der entsprechenden Spalte ist Karls Zwischenfall mit „geschlossen“ markiert. Neben den Unfällen von Manfred Schon und der Ärztin aus Kalifornien steht „ungelöst“.
Karl hat den Glauben an Tesla verloren und sein Auto verkauft. Heute fährt er ein Elektro-Modell von Skoda. Die Ärztin aus Kalifornien ärgert sich noch immer mit ihrem Tesla herum. Das Unternehmen habe es abgelehnt, ihren Wagen umzutauschen. Wenn es zu einer Sammelklage kommt, will sie sich anschließen.
Manfred Schon sagt, er könne sein Model S nicht mit reinem Gewissen weiterverkaufen. Er habe Tesla deshalb angeboten, das Fahrzeug zum Marktwert plus den Preis für den Autopiloten zurückzunehmen. Eine Antwort des Unternehmens habe er nie erhalten.
[Das Medium] bat Tesla und Elon Musk um eine Stellungnahme. Zum Fall Schon, zu der Ärztin aus Kalifornien, dem Schweizer Karl und den vielen anderen tausend Beschwerden aus den Tesla-Files. Das Unternehmen beantwortete die Fragen nicht. Auch Elon Musk reagierte nicht. Der Tesla-Chef schwärmt derweil weiter von einer Zukunft, in der sein Autopilot seine Kunden so sicher wie nie zuvor durch den Verkehr führt. Jedenfalls sicherer als jeder Mensch.
Auf dem Weg in diese Utopie mag es Rückschläge geben, auch Opfer. Doch Scheitern, so schreibt Musk auf Twitter, sei nichts Schlechtes. Im Gegenteil: „Wenn Sachen nicht schiefgehen, bist du nicht innovativ genug.“


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DIE GESCHICHTE HINTER DEN TESLA-FILES: Das Datenleck

Informanten werfen Tesla vor, Daten von Kunden, Mitarbeitern und Geschäftsprojekten mangelhaft zu schützen. Tesla widerspricht. Europäische Aufsichtsbehörden sind alarmiert.

Der US-Elektroautohersteller Tesla verpflichtet sich in Sachen Datenschutz zu höchster Vorsicht. Persönliche Informationen wie Pass- und Sozialversicherungsnummern dürfen nur passwortgeschützt und mit Erlaubnis des Vorgesetzten geteilt werden, heißt es in einer internen Richtlinie, die [dem Medium] vorliegt. Zugang dürften nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, „die nachweislich davon Kenntnis haben müssen“.
[Medium]-Recherchen nähren Zweifel, dass Tesla diese Vorschriften umsetzt. Das Unternehmen ist ins Visier deutscher und niederländischer Datenschutzbehörden geraten.
„Der Landesbeauftragten liegen ernst zu nehmende Hinweise auf mögliche Datenschutzverletzungen durch den Automobilkonzern Tesla vor“, bestätigte ein Sprecher von Dagmar Hartge, der Landesdatenschutzbeauftragten in Brandenburg. In dem Bundesland liegt Teslas deutsche Fabrik. Auch die Datenschutzaufsicht in den Niederlanden sei bereits über den Fall in Kenntnis gesetzt. Dort steht Teslas Europazentrale.
Hintergrund sind die „Tesla-Files“: Der Informant, der die Behörden alarmierte, hat sich auch an [das Medium] gewandt. Unsere Reporter haben in den vergangenen Monaten mit hohem Aufwand mehr als 100 Gigabyte an Daten gesichtet, die aus dem Innersten von Tesla stammen sollen. Nach Angaben mehrerer Insider hatten viele Mitarbeiter Zugriff auf sie.
Dies würde nicht nur gegen die internen Regeln von Tesla verstoßen, sondern auch gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Sie sieht vor, dass personenbezogene Daten innerhalb eines Unternehmens nur von Mitarbeitern eingesehen werden dürfen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Auch für die Weitergabe solcher Daten gelten strenge Vorschriften.
Die Tesla-Files enthalten offenbar eine Unmenge solcher Daten. Gehälter von Beschäftigten, Bankverbindungen von Kunden, geheime Details aus der Produktion, sogar die mutmaßliche Fahrzeug- und Sozialversicherungsnummer von Tesla-Chef Elon Musk. Der Informant schrieb an die Datenschutzbeauftragte Hartge: „Ich bin besorgt, weil diese Daten auch in China oder Russland zugänglich sind.“
[Das Medium] stellte Tesla am 10. Mai dazu und zu anderen Vorwürfen des Informanten aus den Tesla- Files eine Vielzahl von Fragen. Die Antwort kam aus der Rechtsabteilung. Der Konzern verdächtige einen Ex-Mitarbeiter, Daten unter Verstoß gegen Geheimhaltungspflichten weitergegeben zu haben. Es sei ein „verärgerter ehemaliger Mitarbeiter“, der seinen Zugang als Servicetechniker missbraucht habe, „um Informationen zu exfiltrieren“, schrieb Konzernanwalt Joseph Alm. Tesla wolle rechtliche Schritte einleiten.
Kurz darauf erfuhr [das Medium], dass Tesla bei der niederländischen Datenschutzbehörde eine vorläufige Meldung erstattet hat. Hierzu sind Unternehmen verpflichtet, wenn sie fürchten, dass personenbezogene Daten abgeflossen sein könnten. Das schreibt die DSGVO vor.
Die Landesdatenschutzbeauftragte Hartge will nun klären, was genau es mit den Tesla-Files auf sich hat. Es gehe um „sensitive Beschäftigtendaten“, die aufgrund „der unzureichenden Beschränkungen von Zugriffsrechten innerhalb des Konzerns sehr weitreichend zugänglich sein könnten“, sagte ihr Sprecher. Sollten sich die Vorwürfe als zutreffend erweisen, wäre die Angelegenheit „auch wegen der großen Zahl der weltweit betroffenen Personen besonders schwerwiegend“.
Verstöße gegen Datenschutzregeln können teuer werden. Die DSGVO sieht Bußgelder von bis zu vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes vor. Bei Tesla wären das für 2022 bis zu 3,26 Milliarden Dollar.

Tesla drohte [dem Medium] mit rechtlichen Konsequenzen

Tesla hat seinen Mitarbeitern strenge Regeln auferlegt. Alle Daten, die der US-Autobauer sammle, erstelle und speichere, müssten unbedingt „vertraulich behandelt“ werden, weil sie „zum Geschäftserfolg von Tesla beitragen“. So steht es auf Seite neun im Ethikkodex des Unternehmens. Jedem Beschäftigten müsse klar sein, „dass die Außenwelt sehr daran interessiert und manchmal geradezu besessen davon ist, was wir bei Tesla tun“.
Nun haben Informanten [dem Medium] mehr als 100 Gigabyte angeblich interne Tesla-Daten übermittelt. Mehrere der 1015 Excel-Dateien listen angeblich Gehälter und Privatanschriften von mehr als 100.000 aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern auf, eine andere Tabelle die Kündigungsgründe früherer Beschäftigter. In dem Datensatz finden sich auch 213 Präsentationen - unter anderem ein angeblicher Geheimreport zu mutmaßlichen Problemen des geplanten Elektro-Pick-ups Cybertruck.
Tesla beantwortete keine Fragen zu den Daten und drohte stattdessen auch [dem Medium] mit rechtlichen Konsequenzen. „Wie Sie wissen, ist die Verwendung illegal erlangter Daten für die Medienberichterstattung nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig“, schrieb Tesla-Hausjurist Alm. „Schon der Besitz solcher Daten ohne entsprechende Begründung verstößt u.a. gegen das Datenschutzrecht.“
Ein unsachgemäßer Umgang mit solchen Informationen setze Empfänger wie [das Medium] der Haftung für die Verletzung von Geschäftsgeheimnissen, des Datenschutzrechts und des Umgangs mit gestohlenen Daten aus, schrieb Alm. Wer in Besitz „solcher sensiblen Daten“ sei, müsse diese „auch sorgfältig gegen weiteren Missbrauch“ schützen.
Der Anwalt weiter: „Bitte senden Sie uns zu diesem Zweck eine Kopie dieser Informationen, löschen Sie unverzüglich alle anderen Kopien und bestätigen Sie uns, dass Sie dies getan haben.“
Nach sorgfältiger Prüfung und Beratung durch internen und externen Rechtsbeistand hat sich die Redaktion entschlossen, über die Tesla-Files zu berichten. Die außergewöhnlichen Umstände, die Tesla selbst anspricht, sind gegeben.
[Das Medium] erfuhr bereits im November 2022 von den Vorwürfen, damals hatte sich ein erster Insider an die Redaktion gewandt. Nach schlechten Erfahrungen bei dem US-Unternehmen und unter Tesla-Chef Elon Musk glaubte er nicht daran, den Fall intern lösen zu können. Um das Problem zu veranschaulichen, übersandte der Insider erste Dateien.
[Das Medium] hat seitdem großen Aufwand betrieben, um ihre Authentizität zu überprüfen. Unsere Reporterinnen und Reporter sprachen mit aktuellen und ehemaligen Tesla-Mitarbeiterinnen und - Mitarbeitern. Sie ließen sich von Kunden Unfälle schildern, die in den Tesla-Files dokumentiert sind. Mit Branchenexperten diskutierten sie technische Details.

Ein mutmaßlicher Fluchthelfer von Jan Marsalek

Keiner der Insider wollte zunächst seine Identität preisgeben. Kommunikation erfolgte ausschließlich über verschlüsselte Chatprogramme. Im Dezember gelang es, ein persönliches Treffen zu vereinbaren. Ort und Zeit dieses Zusammenkommens werden in diesem Artikel aus Gründen des Quellenschutzes nicht genannt.
Der Besuch dauerte zwei Tage. Insider demonstrierten, wie sie im IT-System des E-Auto-Bauers Daten jedweder Art suchen, aufrufen und speichern konnten. Zu keinem Zeitpunkt fragte das System nach einer Berechtigung oder verweigerte den Zugriff.
Unter den Fundstücken war ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Wien. Eine Ermittlerin forderte darin „sämtliche gespeicherte Verortungsdaten“ des Tesla Model S an, mit dem ein ehemaliger österreichischer Nationalratsabgeordneter 2020 unterwegs war.
Die Staatsanwaltschaft vermutete, der Politiker habe sich als Fluchthelfer von Jan Marsalek verdingt. Der ehemalige Wirecard-Vorstand hatte sich nach einem Milliardenskandal abgesetzt und wird seitdem international gesucht. Tesla sollte die Daten unverzüglich nach Wien übermitteln. Das Unternehmen sei verpflichtet, die Anordnung „gegenüber Dritten geheim zu halten“.

Insgesamt 23.398 Dateien ausgewertet

Das misslang offenbar. Die Anordnung ist Teil der Tesla-Files, die [das Medium] auswerten konnte. Nach dem Treffen mit den Insidern kontaktierten Reporterinnen und Reporter in Berlin, Düsseldorf, New York, San Francisco und Tokio Dutzende Kunden und Mitarbeiter des US-Unternehmens.
Alle bestätigten, dass die sie betreffenden Informationen in den Tesla-Files stimmen, etwa beim Gehalt. Als [das Medium] einen ehemaligen Tesla-Manager um Stellungnahme bat, reagierte er vorsichtig. Er spreche nicht über seine Ex-Arbeitgeber, sagte er, vor allem nicht über diesen. Dann überwog die Neugier.
Ein [Medium]-Reporter nannte dem Manager daraufhin seine Mitarbeiternummer, seine genaue Arbeitsplatzbezeichnung und seine privaten Kontaktdaten aus den Tesla-Files. Alles war richtig. Beim Gehalt schlug der Manager in seinen Unterlagen nach. Dann sagte er: „Bis auf den Cent genau.“
[Das Medium] schaltete auch das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie ein. Die Experten sollten ein Gutachten zu den Tesla-Files erstellen. Ihr Schluss: Es gebe keine Hinweise darauf, dass „der Datensatz nicht aus IT-Systemen oder dem Umfeld von Tesla stammt“.
Da die Daten nicht IT-forensisch gesichert wurden, könnten die Gutachter professionelle Fälschungen zwar nicht zweifelsfrei ausschließen. Doch die Wissenschaftler bestätigten, dass sie keine Spuren von Manipulationen finden konnten, die „die Echtheit der Daten als Datensatz von Tesla widerlegen“.
Das Fraunhofer-Institut zählt zu den weltweit führenden Forschungseinrichtungen für IT-Forensik. Für [das Medium] untersuchte ein Team 23.398 Dateien. Der Großteil stammt offenbar aus Teslas Projektmanagement-System Jira vom australischen Softwareanbieter Atlassian.

Das System Jira

Jira ist in der Wirtschaft weit verbreitet. Nach Angaben von Atlassian nutzen mehr als 100.000 Unternehmen diese Software. Darunter sind Tesla-Konkurrenten wie Audi und BMW ebenso wie die Deutsche Bank und der Kurznachrichtendienst Twitter.
Ursprünglich setzten vor allem Entwickler Jira ein. Nutzer können sogenannte Tickets mit konkreten Aufgabenstellungen erstellen und anderen Personen zuweisen, die dann gemeinsam Lösungswege erarbeiten und in Jira als zentraler Sammelstelle dokumentieren. Das soll die Zusammenarbeit verschiedener Teams und Standorte an einer Aufgabe vereinfachen.
Nach den [dem Medium] vorliegenden Dateien arbeiten bei Tesla aber nicht nur Entwickler mit Jira, sondern nahezu alle Abteilungen. In den Tickets aus den Tesla-Files geht es unter anderem um Batteriemodule, Versicherungsansprüche und die Qualität von Teslas Kundenservice. Sie sind mit Labels wie „Business_Critical“ oder „HR-Confidential“ verschlagwortet. HR steht für Human Resources, also die Personalabteilung.
Eine Mitarbeiterin aus New York erkundigt sich in einem Jira-Ticket vom 3. April 2021, ob im Personalbericht auch die Spalten „Rasse/Ethnizität“, „Spanisch oder Latino?“ und „Militärischer Status“ erfasst werden könnten.
Als ein Techniker in San Francisco am 4. November 2021 feststellt, dass ein Ofen in seinem Werk eine Flüssigkeit absondert, legt er ein Jira-Ticket an, um die Analyse der „puddingartigen Schlacke“ zu dokumentieren.
Ein Mitarbeiter aus Barcelona erstellt am 30. Dezember 2021 ein Jira-Ticket, in dem er die Sicherheitsabteilung um Rat fragt. Ein Kollege aus dem Service hatte zuvor per Mail gewarnt, dass sein Standort in Norwegen „seit Sonntag unbewacht“ offenstehe, weil die Alarmanlage nicht funktioniere. Am Ende muss ein Mitarbeiter im deutschen Grünheide per Fernzugriff aushelfen.
[Das Medium] konnte die Details der Vorgänge mit anderen Dateien aus den Tesla-Files und öffentlich zugänglichen Quellen wie den sozialen Netzwerken abgleichen. Die Mitarbeiter aus den Tickets reagierten nicht auf Anfragen.

Kundendienst für Musks Freunde?

Manche Jira-Tickets wirken banal, in anderen geht es auch um Konzernchef Musk. Als seine Nachbarin im Januar 2019 zwei Monate lang auf die Reparatur ihres Model S warten soll, versichert ein Kundenbetreuer aus Kalifornien in der Kommentarspalte eines entsprechenden Jira-Tickets: „Die Werkstatt wird alles tun, um das Fahrzeug schneller fertigzustellen.“
Musk ließ Anfragen [des Mediums] hierzu unbeantwortet. Seine Nachbarin ist kein Einzelfall. Derselbe Kundenberater erstellt am 13. März 2019 ein Jira-Ticket zur Beschleunigung der Reparatur von einem Model S eines New Yorker Anwalts. Gleich zu Beginn des Tickets betont der Tesla-Mitarbeiter: „Der Kunde gibt an, dass er mit Elon Musk befreundet ist.“
Ob Technik, Personal oder Gefallen für Musk-Freunde: Die Jira-Software ist darauf ausgelegt, dass nur diejenigen Zugriff auf Dokumente haben, die auch mit ihnen arbeiten. Der Anbieter Atlassian wirbt damit, dass Kunden „genau steuern können, wer auf was zugreifen darf“.

Das Problem der Zugriffsrechte

Dafür bietet Jira Nutzern die Möglichkeit, Tickets und angehängte Dateien durch Vergabe sogenannter „security levels“ nur für einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bestimmte Abteilungen oder mit einem speziellen Projekt betraute Personen abrufbar zu machen. Die [dem Medium] vorliegenden Daten legen nahe, dass Tesla diese Einstellung nutzt.
Die Jira-Tickets, die [dem Medium] vorliegen, werfen jedoch Fragen auf. In jenen Dateien, in denen ein „security level“ vermerkt ist, steht die Zugriffsberechtigung auf „all“, „everyone“, „unrestricted“ oder „available to all users“. Dabei geht es auch um Themen wie die interne Bedarfsplanung im Karosseriebau oder sicherheitskritische Servereinstellungen.
[Das Medium] stellte Tesla 15 Fragen allein zu Jira. Das Unternehmen beantwortete keine davon.
In den allermeisten Tickets in den Tesla-Files ist kein „security level“ ausgewählt. Ist das ein Indiz dafür, dass das Unternehmen sehr großzügig oder sehr schlampig beim Rechtemanagement vorgeht?
Jira bietet eine zweite Möglichkeit zum Rechtemanagement. Dabei werden Userprofilen Gruppen oder Projektrollen zugewiesen, die mit Zugriffsrechten verbunden sind. [Dem Medium] liegen zahlreiche mutmaßliche Profilseiten mit den Daten von Tesla-Beschäftigten vor.

Batterieprojekt Roadrunner offengelegt

Während Europa-Vizechef Joe Ward laut den Tesla-Files 73 Gruppen angehören soll, scheint ein Servicemitarbeiter Mitglied in 107 Gruppen zu sein, ein Techniker gar in 137. Darunter sind Gruppen für Mitarbeiter aus Lager oder Service, aber auch Gruppen wie „All-Global-Admin“ oder „All-EMEA-Admin“. „Admin“ ist die Abkürzung für Administrator, also einen IT-Mitarbeiter mit umfangreichen Rechten. EMEA steht für den Wirtschaftsraum Europa, Naher Osten und Afrika.
[Das Medium] wollte von Tesla und Joe Ward wissen, ob derart weitreichende Gruppenzugehörigkeiten bei Tesla normal sind. Ob Gruppen wie „All-Global-Admin“ mehr Zugriffsrechte haben als andere. Und wie Tesla seine Daten in Jira ganz grundsätzlich vor unberechtigtem Zugriff schützt. Niemand beantwortete die Fragen.
Tesla bestreitet nicht, dass ein Techniker Zugriff auf Unternehmensdaten aus anderen Abteilungen rund um den Globus haben könnte. Der Hausjurist schreibt in seinem Brief an [das Medium] lediglich von einem möglichen Missbrauch der Zugriffsrechte und beruft sich auf Vertraulichkeitsvereinbarungen, die gebrochen worden seien.
Das alles nährt den Verdacht, dass auch sensibelste Daten unzureichend abgegrenzt gewesen sein könnten. Die Informanten gaben [dem Medium] Baupläne und technische Skizzen von Kernprodukten des US-Fahrzeugherstellers. Mehrere Dokumente enthalten etwa Details und Messwerte zum Batteriemodul „Roadrunner“.
Eine Präsentation von Juni 2020 mit dem Titel „Visual Assembly & Process Flow“ beschreibt in 40 Schritten die Montage des Batteriemoduls - mitsamt Schaubildern. Das Papier ist als „proprietary and confidential“ gekennzeichnet, also als geschützt und vertraulich.
Die Fachpresse beschreibt das Projekt „Roadrunner“ als „heiligen Gral“ von Tesla, weil diese Batteriezellen eine höhere Energiedichte aufweisen und kostengünstiger sind als bisherige Modelle. Dies würde eigentlich nahelegen, dass Tesla „Roadrunner“-Dokumente mit sehr restriktiven Zugriffsrechten schützt. Das Unternehmen äußerte sich auch hierzu nicht.

Beschwerden über Autopiloten

Die Tesla-Files enthalten Informationen zu Themen aus dem Innersten des Konzerns. [Dem Medium] liegen Angaben zu Kosten einzelner Autoteile vor, Vorschläge für die Verwendung bestimmter Computerchips und Aufstellungen der wöchentlichen Serviceumsätze. In dem Datensatz geht es zudem immer wieder um Geschäftspartner, darunter deutsche Zulieferer wie Bosch, Hella und Continental.
Auch Kundendaten finden sich in dem Datensatz zuhauf. Tabellen listen mehr als 100.000 Namen auf - inklusive privater Mailadressen und Telefonnummern wie der von Talulah Riley, einer Schauspielerin und ehemaligen Ehefrau von Musk.
Andere Datenbanken dokumentieren Tausende Beschwerden von Tesla-Fahrern, weil ihr Auto ohne erkennbaren Grund gebremst oder beschleunigt haben soll. Eine Präsentation vom 17. Juni 2021 widmet sich Bremsen, die quietschen, schleifen oder ruckeln. Das Dokument trägt den Titel: „Die schlimmsten Dinge, die wir unseren Kunden antun“.
Wer nach der deutschen Gigafabrik in Grünheide sucht, stößt in dem Datensatz beispielsweise auf als vertraulich gekennzeichnete Details zur Lackierungsstrecke. Ein Jira-Ticket von Anfang 2020 hält den Wunsch von Elon Musk fest: „Wir brauchen in Berlin eine Farbe, die satt ist, tief, strahlend und richtig knallt.“ Es gelte, an dem deutschen Standort „Rolls-Royce-Qualitätslack zu Tesla-Preisen“ zu erreichen.
Eine mehr als 40-seitige Powerpoint-Präsentation eines Elektroingenieurs aus Palo Alto vom Mai 2018 zeigt die „Architektur der Batterieüberwachung“ für das Model 3 von Tesla, das meistverkaufte Elektroauto der Welt 2021. Darin werden die Kosten für die Zuverlässigkeit den Kosten für Garantieleistungen gegenübergestellt und mögliche Abstriche an der Qualität kalkuliert.
Viele Dokumente sind mit „Proprietary and Confidential Business Information“ gekennzeichnet, dazu die Ergänzung: „Attorney-Client/Work Product Privilege“. Das ist der englische Begriff für Anwaltsgeheimnis/Arbeitsproduktgeheimnis.

100.000 Gehälter einsehbar

Beschäftigte dürften wiederum nicht glücklich sein, sollte Tesla ihre personenbezogenen Daten nur unzureichend schützen. Jeder Mitarbeiter könne „auf vertrauliche Informationen anderer Mitarbeiter“ wie die Sozialversicherungsnummern, Ausweis- und Passnummern, private Adressen, Gehälter und Aktienzuteilungen zugreifen, heißt es in dem Informantenschreiben.
Tatsächlich liegen [dem Medium] Dokumente mit entsprechenden Daten von mehr als hunderttausend Mitarbeitern vor. Ein anderer Datensatz enthält die Namen der Beschäftigten, die für Tesla-Geschäftsführer Drew Baglino arbeiten, mitsamt der vereinbarten Ziele und dem Feedback des Vorgesetzten. Ob wirklich alle Tesla-Mitarbeiter auf sie zugreifen können, wie die Informanten behaupten, konnte [das Medium] zwar nicht zweifelsfrei nachvollziehen. Dennoch steht nun die Frage im Raum, wie umfangreich Tesla seine offenkundig sensibelsten Daten schützt.
Die Datenschutz-Grundverordnung sieht vor, dass in Fällen grenzüberschreitender Datenverarbeitung eine europaweite Zusammenarbeit der Datenschutzaufsichtsbehörden stattfinden muss. Zuständig für die Einleitung und Durchführung eines Aufsichtsverfahrens ist die Aufsichtsbehörde der Hauptniederlassung des Unternehmens.
Weil Teslas Europazentrale in Amsterdam liegt, sind nun die dortigen Datenschützer am Zug. Sie seien in Abstimmung mit der Berliner Datenschutzbehörde über den Fall in Kenntnis gesetzt worden, teilten die Aufseher aus Brandenburg [dem Medium] mit. Die Behörde in Den Haag habe nun mehrere Wochen Zeit, zu entscheiden, „ob sie sich mit dem Fall im Rahmen eines europäischen Verfahrens befasst“.
Ein Sprecher der Datenschutzbehörde in Den Haag bestätigte, dass die Aufseher mit dem Fall befasst sind. Um „den Prozess nicht zu stören“, äußere die Behörde sich aber nicht zu laufenden Verfahren.
Das Thema Datensicherheit beschäftigt Tesla jedenfalls schon seit Jahren. Am 17. Juni 2018 schrieb Konzernchef Musk eine E-Mail mit der Betreffzeile „Einige besorgniserregende Neuigkeiten“ an seine Angestellten. Ein Mitarbeiter habe „umfangreiche und schädliche Sabotageakte“ verübt. Es gehe um den Export „großer Mengen hochsensibler Tesla-Daten an unbekannte Dritte“.
Der Mitarbeiter sei verärgert gewesen, weil er nicht befördert worden sei. Vielleicht stecke auch mehr dahinter. Musk: „Wie Sie wissen, gibt es eine lange Liste von Organisationen, die den Tod von Tesla wollen.“ Er nannte andere Autobauer, Börsenspekulanten und die Öl- und Gasindustrie. Seine Bitte an die Belegschaft: „Seien Sie äußerst wachsam!“

„Verbesserung unserer Sicherheitslage“

Laut den Tesla-Files schlug drei Monate später eine Mitarbeiterin aus Las Vegas Alarm. Eine interne Bewertung habe „große Mengen vertraulicher und sensibler Daten identifiziert, die für eine sehr große Anzahl von Tesla-Mitarbeitern zugänglich und sichtbar sind“, steht in einer Mail vom 20. September 2018. Empfänger: Tesla-Administratoren der in Jira integrierten Software Confluence.
Gruppen wie „confluence users“, „Employees“ und „everybody“ hätten Zugriffsrechte, obwohl ihnen mehr als 25.000 Personen angehörten, warnte die Mitarbeiterin in dieser Mail. Ihre Kollegen müssten unbedingt sicherstellen, dass die Daten nur Nutzern zugänglich sind, die wirklich damit arbeiten: „Bitte nehmt euch die Zeit, Schritte zur Verbesserung unserer Sicherheitslage zu prüfen.“
Die Mitarbeiterin reagierte nicht auf wiederholte schriftliche Anfragen. Tesla äußerte sich ebenfalls nicht.
Ob es eine ähnliche Prüfung zu Jira gab, ist in den Tesla-Files nicht dokumentiert. Unter den Dateien befindet sich jedoch eine interne Richtlinie für den Umgang mit Daten. Jira-Tickets gehören demnach aufgrund ihrer „Empfindlichkeit und des Risikos für Tesla bei falscher Handhabung“ je nach Thema zu einer der höchsten Sicherheitsstufen.
„Werden diese Daten nicht angemessen gehandhabt und geschützt, könnte dies Tesla, seinen Kunden oder anderen erheblichen Schaden zufügen“, heißt es in der Richtlinie vom 20. Januar 2020. Zuwiderhandlung werde deshalb streng bestraft: „Die Missachtung kann ein Disziplinarverfahren bis hin zur Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen.“