Die Gnadenlosen
von Jonas Rest und Christina Kyriasoglou
manager magazin vom 28.04.2023
Im Herbst 2021 erreichten die Bewertungen von Techunternehmen weltweit ihren Höhepunkt, nun gibt es Investitionseinbrüche, massenhaften Personalabbau und scharfe Bedingungen für Geschäftspartner. Der Artikel stellt einen Kulturwandel in der Branche fest, eine grundlegende Machtverschiebung von den einst hofierten Start-Up-Gründern zu den Wagniskapitalgebern: Erstere werden per Knebeldeal aus ihren Unternehmen gedrängt. Eine Verschärfung des Trends sei zu erwarten, ganz junge Start-ups könnten profitieren.
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Die Gnadenlosen
Eine böse Überraschung erwartete die Angestellten beim Berliner Kochboxenversender Hellofresh Anfang des Jahres. Eigentlich hatten die Beschäftigten des MDax-Konzerns (Umsatz: 7,6 Milliarden Euro) vor Weihnachten gerade ihre Feedbackgespräche hinter sich gebracht. „Foodie Review“ nennen sie die Beurteilung intern ganz harmlos. Hätte es Probleme gegeben, wären sie sicher in diesen Runden angesprochen worden.
Doch unvermittelt bekamen mehrere Dutzend von ihnen erneut Termine eingestellt, mit Vorgesetzten und Personalern. Häufiger Tenor: Die Leistung sei unzureichend. Vorschlag: ein Aufhebungsvertrag.
Vor allem sei offenbar auf ausländische Angestellte abgezielt worden, denen das deutsche Arbeitsrecht nicht vertraut war, glauben mehrere Hellofresh-Insider. Manche hätten ohne Nachverhandlung Angebote unterzeichnet, die keine Abfindung enthalten hätten. „Jeder kennt jemanden, der betroffen ist“, so eine Mitarbeiterin.
Einzelne Teamleiter seien von ihren Vorgesetzten sogar noch dazu angehalten worden, die Beurteilungen der Untergebenen teils nach unten zu korrigieren, um die anvisierte Quote an Stellenstreichungen zu erreichen. „Aktives Performance-Management“, nennt ein Hellofresh-Insider die Methode. In Krisenzeiten müsse eben härter aussortiert werden, um die Kosten zu senken. Seit Ende März gilt ein umfassender Einstellungsstopp für neue Rollen, Nachbesetzungen müssen genehmigt werden.
Hellofresh erklärte, Entscheidungen für die Entlassungen seien „im Rahmen der regulären Jahresendgespräche 2022“ getroffen worden, „auf einer gründlichen Evaluierung der Leistungen“. Es habe sich auch nicht vor allem um ausländische Mitarbeitende gehandelt. Vergleichbar mit Restrukturierungen in anderen Berliner Techunternehmen sei das „definitiv“ nicht.
Mit allen Mitteln drängen aktuell viele Digitalfirmen die eigenen Leute raus, heimlich oder ganz offen. In der Berliner Zentrale des Lieferkonzerns Delivery Hero gingen Ende Januar mehr als 150, beim Expresslieferdienst Flink haben Insidern zufolge in den vergangenen zwölf Monaten ganz ohne groß verkündete Entlassungsrunde sukzessive rund 8000 Beschäftigte ihren Job verloren; still und leise wurde unternehmensweit die Belegschaft um rund 40 Prozent reduziert. Flink äußert sich dazu nicht.
Der hochdefizitäre Pflanzenzüchter Infarm entließ ebenfalls mehr als 50 Prozent der Belegschaft. Die Gründer der E-Scooter-Firma Tier haben rund 400 Stellen gestrichen – etwa 40 Prozent ihres Teams.
In Deutschland hat sich vor allem die Start-up-Metropole Berlin zur End-up-Metropole gewandelt. Und in den anderen Techhochburgen der Welt sieht es kaum besser aus. Bis Mitte April wurden 2023 in der Techbranche weltweit laut der Datenbank Layoffs.fyi rund 170.000 Menschen entlassen – mehr als im gesamten Vorjahr.
Der Personalabbau ist nur die sichtbarste Folge einer neuen brutalen Kultur in Digitaldeutschland. Auch die Businesskunden und Geschäftspartner leiden; die Gründerteams und Vorstände spüren ungekannten Druck der Geldgeber. Die Investitionen sind eingebrochen, im ersten Quartal weltweit um 61 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (siehe Grafik rechts). Wer noch Kapital auftreiben kann, muss sich teils auf Knebel-Deals einlassen, mit denen die Investoren die Gründerinnen und Gründer praktisch enteignen. Und auch die Wagniskapitalgeber, deren Fondsbewertungen zuletzt implodiert sind, müssen sich plötzlich mit ihren eigenen Finanziers auseinandersetzen. Alle wollen retten, was zu retten ist.
Die kuschelige Start-up-Welt ist zur Battle Royale mutiert – einem gnadenlosen Kampf: jeder gegen jeden.
Geschäftspartner ausgepresst
Die Logik hinter dem Verfall der Sitten beschrieb der renommierte Silicon-Valley-Investor Ben Horowitz (56) schon vor gut einem Jahrzehnt in einem Blogpost, der stilprägend für die Szene geworden ist: „Es gibt Peacetime-CEOs und Wartime-CEOs“, also Chefs für Friedens- und für Kriegszeiten. Die einen verbrächten ihre Zeit damit, die Kultur im Start-up zu gestalten und langfristige Wachstumsstrategien zu verfolgen. Die anderen müssten das Überleben ihrer Firma sichern: schnell, hart, rücksichtslos, jeden Konflikt noch verschärfend. Beide Ansätze könnten hocheffektiv sein – nur eben in der richtigen Situation. Und in Zeiten existenzieller Bedrohung, so Horowitz, bestimme nun mal der Krieg die Unternehmenskultur.
[Das Medium] hat mit Dutzenden Investorinnen und Investoren, Gründern und Digitalmanagern, Anwälten und Beratern gesprochen. Anhand bislang unbekannter Details zu Deals und internen Manövern lässt sich zeigen: Die Branche ist dabei, sich grundsätzlich zu verändern – und vieles, was unter der Oberfläche gärt, wird bald aufbrechen. In den kommenden Monaten droht der Kulturwandel noch krasser zu werden. Der amerikanische Topinvestor Tom Loverro (41) vom Fonds IVP (Netflix, Twitter) warnt gar vor einem „Massensterben“ der Start-ups.
Lange mimten die Zalando-Gründer die Nice Guys. Inzwischen zeigen auch Robert Gentz (39) und David Schneider (40) ein neues Gesicht. Das Wachstum von Europas größtem Onlinemodehändler (Umsatz: 10,3 Milliarden Euro) ist nahezu zum Erliegen gekommen, und die Prognose ist mies. Eigentlich sollte 2025 der Umsatz auf der Plattform die 30-Milliarden-Euro-Marke knacken. Das Ziel ist inzwischen illusorisch – und verschoben auf unbestimmte Zeit.
Stattdessen geht es nun zuvorderst darum, nicht in die Verlustzone zu rutschen – bei dürftigen 0,8 Prozent Ebitmarge nicht unrealistisch. Um die Profitabilität in der schlechten Zeit zu sichern, sind Gentz und Schneider in den Kriegsmodus gewechselt. Ende Februar verkündeten sie den „Dear Zalandos“ per E-Mail, dass „mehrere Hundert“ ihren Job verlieren werden. Das Unternehmen, immerhin noch im Dax notiert, sei einfach zu schnell gewachsen und dadurch zu komplex geworden. Sorry, Leute. Und auch bei den Geschäftspartnern langen die Berliner zu.
Noch während der Corona-Pandemie hatten Gentz und Schneider ihre Plattform als Helfer in der Not platziert: Zu günstigen Konditionen sollten Modehersteller und -händler sich anschließen und ihre Ware via Zalando online verkaufen. Kürzlich dann schlug die neue Wirklichkeit zu: Per Mail an die „lieben Partner:innen“, verschickt am 20. Februar um 14 Uhr, hob Zalando die Gebühren drastisch an. Um teilweise rund 100 Prozent steigt die Kommission. Bei einem Paar Schuhe für 79 Euro kann Zalando etwa statt bisher knapp 8 künftig fast 16 Euro einbehalten.
Ein knallhartes Manöver. Einige der größten Händler rechnen vor, dass sie 60 bis 80 Prozent ihres Sortiments nicht mehr profitabel verkaufen können. Bei Zalando, berichten Insider, sei deren Abwanderung einkalkuliert. Stattdessen soll das sogenannte „Partnerprogramm“ gestärkt werden, über das Modehersteller wie Adidas direkt über Zalando verkaufen – und das für die Plattform profitabler ist.
Vehement versuche Zalando, sie in das Programm zu drängen, berichten denn auch Hersteller. Für viele ist das wenig attraktiv, weil Zalando ihnen dadurch das Lager- und Retourenrisiko überträgt. Aber Gentz und Schneider setzen auf wenig subtile Incentivierung: Zalando hat seine klassischen Bestellungen bei den Herstellern teils massiv heruntergefahren, bei manchen sogar komplett. Über „Erpressung“ schimpfen Betroffene. Jeder gegen jeden eben.
Zalando erklärt, man wolle die Organisation vereinfachen und das Sortiment stärker kuratieren. Bei den Gebührenänderungen gehe es auch darum, die Wettbewerbsbedingungen für alle Partner anzugleichen. Der „Herausforderungen“ für „einen Teil“ der Partner sei man sich „bewusst“.
Praktisch kein Segment der eben noch boomenden Start-up-Szene ist von dem Umbruch ausgenommen. Selbst Unternehmen, die in einzelnen Kernmärkten Gewinne vorwiesen, trifft es hart. So den Lebensmittellieferdienst Oda. Der Gründer des norwegischen Start-ups, Karl Munthe-Kaas (39), sitzt an einem Märztag in schwarzem Pullover mit weißem Firmenlogo in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg und berichtet davon, dass sich die Expansion nach Deutschland als äußerst kostspielig erwiesen habe.
Sein Problem: Die Mission begann noch in den guten Zeiten. Damals war der japanische Megainvestor Softbank ein- und Oda zum „Einhorn“ aufgestiegen, mehr als eine Milliarde Dollar war die 2013 gegründete Firma plötzlich wert. „In den Board-Meetings ging es vor allem darum, wie wir mehr Personal einstellen könnten, um schneller zu wachsen“, erzählt Munthe-Kaas.
Der Markt drehte ausgerechnet, als der Gründer schon begonnen hatte, massiv Geld in den Ausbau zu pumpen, unter anderem für ein Lager in Berlin. Kapital war plötzlich nicht mehr zu bekommen. Softbank signalisierte, dass man nicht mehr nachschießen werde. Nach langen Verhandlungen bekam Munthe-Kaas im vergangenen Dezember zwar rund 150 Millionen Dollar von anderen Investoren. Doch dafür musste er 40 Prozent seiner Firma abgeben. Die Bewertung schrumpfte um rund 80 Prozent. Statt über eine Milliarde war Oda nur noch rund 200 Millionen Dollar wert. Eine „Down Round“, wie sie gerade viele erleben – wenn sie überhaupt noch Mittel auftreiben können.
In den vergangenen Monaten meldeten mit Yababa und Alpakas gleich zwei Berliner Lieferdienste Insolvenz an. Das ganze Segment gilt inzwischen als toxisch. Die Lebensmittellieferer benötigen enormes Kapital, bevor sie profitabel wirtschaften können – und niemand weiß, ob sich bei der nächsten Runde noch Investoren finden. Der Berliner Schnelllieferdienst Gorillas etwa konnte sich Ende 2022 mangels Erfolg beim Einwerben neuer Gelder nur noch in eine Notübernahme durch den türkischen Rivalen Getir flüchten, Gründer Kağan Sümer (35) wurde dabei eiskalt aus seiner Firma gedrängt: Statt eines dreistelligen Millionenbetrags wie auf dem Papier bekam er für seine Anteile nur 4,5 Millionen Euro – aus heutiger Sicht: immerhin in Cash.
Auch E-Scooter-Unternehmen und Flugtaxihersteller zählen zu kapitalintensiven Geschäftsmodellen, die Investoren nun meiden. Unter Druck steht etwa Lilium: In Zeiten des Booms hatte man die Flugtaxifirma mit einer Bewertung von 3,3 Milliarden Dollar noch an die New Yorker Börse gebracht. Inzwischen ist das Unternehmen dort nur noch knapp 200 Millionen wert – etwa so viel wie seine Cash-Reserven zum Ende des Geschäftsjahrs 2022. In seinen Unterlagen warnt Lilium die Investoren sogar davor, dass es auch gar nicht gelingen könnte, weiteres Kapital aufzutreiben. Der Rivale Kitty Hawk, mitgegründet vom deutschen Google-Veteran Sebastian Thrun (55), musste bereits im vergangenen Herbst aufgeben – genauso wie in diesem April die Weltraumfirma Virgin Orbit des Milliardärs Richard Branson (72).
Enteignung der Gründer
Noch sind solche Pleiten Einzelfälle, aber längst hat sich das Misstrauen in der Szene eingenistet. Niemand möchte als Letztes auf einer Firmenhülle sitzen bleiben, deren einst strahlende Zukunftsversprechen nun so hohl klingen wie eine leere Club-Mate-Flasche.
So haben auch die Investoren in den Wartime-Modus geschaltet. In den nicht lang vergangenen Friedenszeiten rühmten sich die Risikokapitalfonds noch ihrer „Gründerfreundlichkeit“. Mitunter versuchten sie gar mit üppigen Boni das Wohlwollen der jungen Firmenchefs zu erlangen; per Privatjet wurden die schon mal zum Dinner nach Kalifornien geflogen. Nun müssen Gründerinnen und Gründer denselben Investoren teilweise fast ihr ganzes Unternehmen überlassen, um nicht sofort unterzugehen – freilich häufig verdeckt von weiterhin routiniert schwärmerischer PR-Prosa.
Ein Extrembeispiel ist Ottonova. Gründer Roman Rittweger (58) baut mit dem Unternehmen seit 2015 Deutschlands „erste digitale private Krankenversicherung“ auf. Renommierte Investoren wie Earlybird oder HV Capital unterstützen die Firma seit Jahren. Ihr Risikokapital von rund 130 Millionen Euro hat aber 2022 erst zu Prämieneinnahmen von rund 22 Millionen Euro geführt. Das Start-up ist weiter defizitär – im aktuellen Marktumfeld existenzgefährdend.Als Rittweger im September noch einmal knapp 37 Millionen Euro von Investoren einwarb, wurde das in den Medien zwar als „Erfolg für Ottonova“ gefeiert. Doch das bislang unbekannte Kleingedruckte des Deals hat es in sich.
Insider beschreiben den Vertrag als eine „Enteignung“. Um an die zusätzlichen Millionen zu gelangen, musste Rittweger eine vierfache Liquidationspräferenz gewähren. Das bedeutet: Die Investoren, darunter auch HV Capital und Earlybird, erhalten bei einem Verkauf oder Börsengang von Ottonova das Vierfache ihres Investments zurück: rund 150 Millionen Euro, und zwar garantiert. Erst wenn sie ihr Geld sicher haben, werden andere Anteilseigner aus den Erlösen bedient. Bedeutet: Die Anteile des Gründerteams um Rittweger sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind de facto wertlos, wenn Ottonova bei einem Verkauf nicht deutlich mehr erlösen kann.
Eine solche „Liq Pref“ mit Faktor vier ist äußerst selten. Doch Konditionen, bei denen sich Geldgeber das Doppelte ihres Investments als Gewinn garantieren lassen, seien nicht mehr unüblich, sagt der Anwalt Lyman Thai (37) von Foley & Lardner aus dem Silicon Valley. Und Robin Eyben (44), Partner bei Osborne Clarke in Berlin, fallen gleich „ein paar solcher Deals“ ein, die seine Kanzlei in den vergangenen Monaten verhandelt hat.
Die Klauseln der Finanzierungen sind üblicherweise geheim. Während nach außen noch die neue Runde mit einer womöglich formal gestiegenen Unternehmensbewertung kommuniziert wird, sieht die Wahrheit längst anders aus. Oft wissen in den Start-ups nicht mal die Führungskräfte jenseits des Inner Circle, wie es um ihr Unternehmen wirklich bestellt ist.
Das alles ist Ausdruck einer Machtverschiebung. Eben waren noch die Gründer die umschwirrten Stars, denen die Wagniskapitalgeber – um nur ja kein Geschäft zu verpassen – das Geld hinterherwarfen. Nun setzen andere den Ton: leise zwar, aber brutal. Kapitalismus in seiner reinsten Form.
Es ist die Stunde von Profis wie Leonard Clemens (44), ein groß gewachsener Mann mit Seitenscheitel und einem Singsang in der Stimme, der seine Herkunft vom Bodensee verrät. Clemens hat sich auf genau solche Deals spezialisiert. Der frühere Director des Private-Equity-Unternehmens Vitruvian nimmt mit seinem Fonds Cadence Growth Capital vor allem Unternehmen ins Visier, die finanziell in schwieriges Fahrwasser geraten, da sie noch nicht profitabel sind. Er hat reichlich zu tun gerade: „Wir schauen uns mehrere Firmen pro Woche an.“
Clemens nutzt alle möglichen Tricks. Er sichert sich auf seinen Einsatz nicht nur eine Mindestverzinsung. Manchmal handelt er sich eine jährliche Verzinsung heraus, ebenfalls garantiert zu zahlen bei einem späteren Exit. Oder er drückt noch andere Sonderrechte durch. Zum Beispiel kann er bei einigen Deals, selbst wenn sein Fonds nur eine Minderheit hält, die anderen Eigner zum Verkauf zwingen – im Zweifel sogar zu einem Preis, bei dem die Anteile des Gründerteams wertlos werden. „Die Quintessenz ist: Es ist sehr schwierig für uns, Geld zu verlieren“, so Clemens.
Andere mächtige Fonds, die während des Booms den Markt anheizten, lassen die Bittsteller neuerdings bei sich schaulaufen. „Jetzt kommen alle zu uns“, freut sich etwa Mubadala-Manager Ibrahim Ajami (48) im Interview mit [anderem Medium]: „Die Korrektur in Tech hat die Branche bescheiden gemacht.“ Der viele Milliarden Dollar schwere Staatsfonds aus Abu Dhabi – in Deutschland unter anderem Geldgeber für Flink, Tier und Wefox – kann nun als „Last Man Standing“ die Bedingungen diktieren.
In der Szene ist von „Knebel-Terms“ die Rede, die jetzt durchgepeitscht würden. Einen heftigen Abschlag musste zum Beispiel das E-Scooter-Unternehmen Tier seinen Investoren einräumen. Gründer Lawrence Leuschner (40) sicherte sich rund 70 Millionen Euro als Wandeldarlehen. Er muss es nicht nur verzinsen: Bei einem Verkauf oder einer nächsten Finanzierungsrunde bekommen die Investoren ihre Anteile mit einem Rabatt von 67 Prozent. Tier äußert sich dazu nicht.
So geht es inzwischen in der Digitalszene zu: Gründer gegen Mitarbeiter, Investoren gegen Gründer, Investoren gegen Investoren.
Mit einer Rückkehr zur heilen Welt vom Herbst 2021, als die Techbewertungen weltweit ihren Höhepunkt erreichten, rechnet so schnell niemand. Im Gegenteil: Die Erwartung in der Szene ist, dass sich die Krise der Digitalfirmen weiter verschärft. Bislang versuchen Investoren meist noch mit aller Macht zu verhindern, dass ihre Unternehmen bei neuen Finanzierungen stark abgewertet werden, um wenigstens nach außen den Schein zu wahren. „Down Rounds“ machten „alle nervös“ und seien „schlecht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, weiß Ophelia Brown (37), als Gründerin von Blossom Capital eine der einflussreichsten Investorinnen Europas. Bestandsinvestoren versuchen daher, selbst Geld nachzuschießen und so die Zeit bis zu einer neuen Finanzierungsrunde zu überbrücken. Nur hat diese Strategie ihre Grenzen.
Flut von Insolvenzen
Das Problem: Viele Start-ups haben zuletzt während des Booms 2021 Kapital bekommen – und das meist mit dem Plan, bald wieder Geld einzusammeln. Die Rechnung sei „relativ simpel“, erklärt Christian Meermann (40), Partner von Cherry Ventures (Flixbus, Flink): Trotz aller Bemühungen bräuchten die meisten Start-ups spätestens Ende 2023 oder 2024 Nachschub. Eine Flut von Geldsuchenden – und nicht alle werden Geldgeber finden. Viele werden schließen müssen, prognostiziert Meermann. Oder müssten versuchen, sich zu verkaufen. „Doch leider dürften mehr als zehn Start-ups auf jedes kaufwillige etablierte Unternehmen treffen.“
In der Branche kursieren bereits die düstersten Szenarien. Tom Loverro von IVP, einer der ältesten Wagniskapitalfirmen an der berühmten Sand Hill Road im Silicon Valley, prophezeit gar, dass die Situation noch härter auf die Branche durchschlagen wird als die Finanzkrise 2008. Damals wären die Bewertungen zumindest nicht völlig abgestürzt. „Dieses Mal ist es anders: Es wird zu Entlassungen, Notverkäufen und Schließungen kommen.“
In der Theorie ist zwar noch immer enorm viel Geld im System. Die Risikokapitalgeber verfügen über „Dry Powder“ auf Rekordniveau – mehr als 500 Milliarden Dollar, die laut Datenbank Pitchbook für Investitionen bereitliegen. Doch „in Wirklichkeit“ werde sich das „trockene Pulver als ziemlich ‚nass‘ erweisen“, schreibt der Investor Lux Capital in einem Brief an seine Geldgeber. Es könnte sich herausstellen, dass die Mittel gar nicht abrufbar seien.
Die Fonds haben ihr Kapital für gewöhnlich nicht vollständig auf dem Konto liegen. Sie bekommen es nach und nach von ihren eigenen Geldgebern überwiesen, diese „Limited Partners“ (LPs) sind oft institutionelle Anleger oder Family-Offices, die einen Teil ihrer Vermögen in die Start-up-Welt geleitet haben. Im schlechtesten Fall könnten die eigentlich zugesagten Zahlungen der LPs nun jedoch ausbleiben, wie in der Dotcom-Krise 2001 bis 2003.
Üblicherweise speisen die LPs ihre Zahlungen auch mit Rückflüssen aus anderen Start-up-Investments. Nur kommt von dort aktuell kaum etwas. Im ersten Quartal 2023 generierten Verkäufe und Börsengänge von Venture-Capital-finanzierten Unternehmen weniger als ein Prozent des Werts, den sie 2021 erzielt hatten: Gerade mal knapp sechs Milliarden Dollar (siehe Grafik Seite 37). Das Schwungrad, das die Digitalszene angetrieben hat, steht still.
Noch gibt es keine Ausfälle. Doch mehrere LPs versuchen schon, ihre Fondsanteile (inklusive der Verpflichtung zu weiteren Einzahlungen) wieder loszuwerden – mit bis zu 70 Prozent Abschlag, berichtet Hans Swildens (53), CEO von Industry Ventures, das Beteiligungen an Unternehmen und Risikokapitalfonds kauft. So versuchten sich einige LPs „von ihren ungedeckten Zahlungsverpflichtungen zu befreien“, erklärt Swildens. „Fast jedes einzelne Unternehmen und jeder einzelne Fonds haben Aktionäre und LPs, die nach Liquidität suchen.“
Stephan Heller (36), Gründer von AlphaQ, kauft LPs Fondsanteile ab. Manchen bleibt gerade nichts anderes übrig: „Wenn Beteiligungen an Risikokapitalfonds etwa nur 5 Prozent des Portfoliowerts ausmachen dürfen, aber der Anteil durch den Wertverfall börsengelisteter Beteiligungen plötzlich auf 8 oder 9 Prozent steigt“.
Der Gründer und Volocopter-Investor Lukasz Gadowski (45), einer der Promis der Szene, bot Anteile an dem Fonds 468 Capital, der unter anderem von Ex-Rocket-Vorstand Alexander Kudlich (43) gegründet wurde, kürzlich sogar bei Linkedin zum Kauf an.
Insgesamt steht so viel weniger Geld für Start-ups zur Verfügung, als die Statistik glauben lassen kann. Es droht ein gnadenloser Ausleseprozess. „Wenn die Krise anhält, werden sich die Fondspartner immer stärker auf wenige Firmen konzentrieren, die einen wesentlichen Wert darstellen“, sagt ein bekannter Investor. „Der Kreis der Unternehmen, die noch finanziert werden, wird immer enger werden.“
Für die große Mehrheit der Start-ups könnte es bitter werden. Im ersten Quartal 2023 ging über ein Viertel der weltweiten Risikoinvestments an nur zwei Unternehmen aus San Francisco: OpenAI und den Bezahldienst Stripe, der zwar seine Unternehmensbewertung fast um die Hälfte reduzie- ren musste, sich aber enorme 6,5 Milliarden Dollar sicherte.
Hoffnung für die Kleinsten
Auch in Deutschland konzentrieren sich die Geldgeber auf wenige Unternehmen, von denen sie sich ganz Großes versprechen. So verdoppelte die Solarfirma Enpal Anfang des Jahres bei einer 215-Millionen-Euro-Runde ihre Bewertung auf über zwei Milliarden Dollar. Das Start-up von Mario Kohle (38) profitiert von der Energiekrise, sie treibt die Nachfrage (siehe auch Beilage „Game Changer“).
Immerhin: Noch relativ unberührt vom Kulturbruch in der Szene bleiben ganz junge Firmen. Die frühen Finanzierungen gibt es weiterhin, auch in Berlin. Die Risiken sind hier für Investoren höher, die Summen geringer. In der Boomphase war das für viele nicht lukrativ genug. Nun aber wichen Kapitalgeber, die sonst in reifere Unternehmen investiert hatten, mitunter in dieses Segment aus, sagt die Starinvestorin Ophelia Brown. Es gebe inzwischen „viel mehr Wettbewerb“.
Die neue Verheißung hat nichts mehr mit schnellem Reichtum zu tun. Es geht nun darum, ganz früh die Firmen auszumachen, die mit wenig auskommen und durchhalten – und die dann im nächsten Zyklus zu Geld zu machen sind. Schließlich sind einige der erfolgreichsten Digitalfirmen ebenfalls in schweren Zeiten entstanden. Die Zalando-Gründer starteten 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Und die Softwareprogrammierer von Celonis, gegründet 2011, mussten fünf Jahre ohne externes Investment überleben. Heute sind sie mit 13 Milliarden Dollar das höchstbewertete deutsche Start-up in privater Hand.
Bevor aber eine neue Generation von Start-ups so weit ist, wird es erst einmal viel schlimmer werden. Für alle.