Bis heute blühen die ersten Wiesen
von Laura Weißmüller
Süddeutsche Zeitung vom 01.07.2022
Der Artikel beschreibt die städtebaulichen, gestalterischen und planerischen Prinzipien, die das Münchner Olympiagelände zu einem der wenigen langfristig erfolgreichen Entwürfe der olympischen Architektur machten und gleichzeitig Elemente der nachhaltig-grünen Moderne visionär vorwegnahmen (nutzbare Begrünung, modulare Architektur).
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Bis heute blühen die ersten Wiesen
Es ist egal, wann man in den Münchner Olympiapark geht. An einem bewölkten und leicht verregneten Samstag im April. An einem schon heißen Sommermorgen, einem zugigen Herbstnachmittag, einem frostigen Winterabend: Dieser Park, seine Hügel und Täler, verwinkelten Wege und gekurvten Straßen, Spielplätze und Sportanlagen, ist fast immer gut besucht. Von Marathonläufern und Mountainbikern, Eltern mit Kindern, Seniorinnen mit Walking-Stöcken und Touristengruppen auf der Suche nach dem besten Blick über München. Dieser Park „ist im besten Sinne ein Volkspark“, sagt Fritz Auer in seinem Münchner Architekturbüro Auer Weber.
Der Vorstellungskraft des heute 89-Jährigen ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass München diesen Volkspark heute besitzt. Mit Anfang dreißig stand der Architekt mit seinem Kollegen Carlo Weber aus dem Stuttgarter Büro Behnisch & Partner auf dem zu dieser Zeit noch nicht so hohen Schuttberg und blickte in Richtung des damals noch im Bau befindlichen Fernsehturms. Gemeinsam überlegten sie, dass die Lage der drei Sportstätten, um deren Entwurf sich ihr Architekturbüro gerade bewarb, dort doch viel schöner sei, „mit dem Berg, dem See und einem Plateau“. Dass davon auf der Schotterebene des Oberwiesenfelds 1967 noch nichts zu sehen war: geschenkt. Die Idee des Münchner Olympiaparks war geboren.
Und damit war der Grundstein gelegt für eine Olympiastätte, wie es sie nachhaltiger nicht mehr geben sollte in der Geschichte der Olympischen Spiele – allen Versprechen zum Trotz. Unvergessen das Bild von den Winterspielen 2022 in China, mit der künstlich beschneiten Abfahrt in einer komplett schneefreien Berglandschaft. Diese Winterspiele gelten schon jetzt als die „unnachhaltigsten aller Zeiten“. Auch Tokio weiß nicht viel mit seinen neuen Olympiastätten anzufangen, obwohl man es ganz anders angekündigt hatte. Ähnliches gilt für London und Athen, für Peking und Sotschi. Die Olympischen Spiele haben ein gewaltiges Nachhaltigkeitsproblem, das sie mit Fußballweltmeisterschaften teilen: Sie hinterlassen gigantische Bauten und Anlagen, mit denen weder der Ort noch die Menschen dort etwas anzufangen wissen, wenn Sportler und Journalisten abgezogen sind. In Zeiten von Klimakatastrophe und immer knapperen Ressourcen ist das mehr als ärgerlich: Es stellt die Existenzberechtigung eines solchen Wanderzirkus infrage.
Warum gelang in München vor mehr als einem halben Jahrhundert etwas, was man heute nicht mehr hinbekommt, obwohl die Welt es dringender bräuchte als damals? Kombiniert mit dem Fakt, dass der Olympiapark autofrei ist, klingen die Motti von damals – „Spiele im Grünen“ und „Spiele der kurzen Wege“ – wie eine ökologisch sinnvolle Stadtplanung aus dem Jahr 2022. „Im Nachhinein hört es sich an wie eine Vorwegnahme einer grünen Philosophie, aber es war anders geprägt“, sagt Fritz Auer heute. Auch wenn die Anforderungen für die Spiele in München ihrer Zeit voraus gewesen seien, „war das noch nicht der grüne Gedanke“.
Was hat dann dazu geführt, dass die Olympia-Planung in München derart nachhaltig geraten ist, und zwar nicht nur die der Sportstätten und des Parks, sondern eben auch des gesamten Dorfes? „Nicht-Architektur statt spektakuläre Architektur“, sagt Auer. In den Anforderungen sei „Rückbesinnung auf die Antike und Bescheidenheit“ im Programm gestanden. Die Olympischen Spiele sollten das Bild ändern von München, der „Hauptstadt der Bewegung“ in der NS-Zeit. Von Hitlers Deutschland. Vom faschistischen Berlin 1936 mit seinen Achsen und seiner Monumentalität. Stattdessen: Spielfeld absenken und den Aushub aufschütten, „wie Ameisenberge“, so Auer. Damit die „Arenen gar nicht als Bauwerke erschienen“, sondern eingebettet in einer Landschaft.
Das, was heute so spektakulär erscheint, dieser gigantisch große Park, die grüne Lunge mitten im versiegelten München, wurde vor 50 Jahren anders gelesen. Als friedliche Landschaft, als Zeichen für die Demokratisierung eines ganzen Landes. „Behnisch & Partner haben mit ihrem Entwurf einen Nerv getroffen“, sagt die Landschaftsarchitektin Regine Keller, die an der TU München den Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und öffentlichen Raum leitet: „Die Architektur in dieser stark modulierten Landschaft erschien fast temporär. Die Zeltdachkonstruktion war, wie wenn der Zirkus kommt, etwas, das sich nicht manifestiert und leicht über der Landschaft schwebt.“
Wobei das so vermeintlich leicht schwebende Zeltdach ja zu einer der spannendsten Geschichte der Nachkriegsarchitektur geriet, in der Planung wie in der Umsetzung. „Zum Glück wussten wir nicht, was wir machen“, erinnert sich Fritz Auer. Die Landschaft, die Topografie der Hügel und Mulden – am Anfang geplant auf einer Tischfläche mit Sägemehl – sei dagegen „händelbar“ gewesen.
Ohne Günther Grzimek wäre sie gleichwohl nie zu dem geworden, was sie heute ist: ein Teil der Stadt. Der Kasseler Landschaftsarchitekt hatte mit Günter Behnisch schon in Ulm bei der Staatlichen Ingenieurschule gearbeitet und dort gezeigt, dass er „Architektur und Landschaft als Einheit denkt“, so Regine Keller, die gerade ein Buch über den Ausnahme-Landschaftsarchitekten geschrieben hat. Dass die Münchner Spiele so grün wurden, ist vor allem Grzimek zu verdanken.
Und zwar in mehrerlei Hinsicht. Etwa der Rasen: Dieser, so Grzimek, „soll betreten werden“. Das kam damals einem Kulturbruch gleich. Noch bis 1972 stellte berittene Polizei im Englischen Garten sicher, dass nicht mal die Fußspitze eines Kindes dem Rasen zu nahe kam. Grzimek, in Kassel Professor an der Kunsthochschule mit einer sehr bewegten Studentenschaft, sah das anders. „Die Besitzergreifung des Rasens“ hieß eines seiner Bücher. Er war überzeugt, dass Nutzer sich den Park selbst aneignen sollen. Ohne Verbotsschild – egal, ob es sich um Blumenpflücken oder Sporttreiben handelte. Dafür robust ausgestattet, was dem Park bis heute zugute kommt, wenn sich die Massen dort tummeln. Für Grzimek sollte der Park „wie ein Gebrauchsgegenstand“ funktionieren, was implizierte, dass er einfach zu pflegen sein musste. Schmuckpflanzen, die sich eine Stadt später nicht mehr leisten könnte, schieden für ihn aus. Auch das ist Nachhaltigkeit.
Grzimek ging davon aus, das Freiräume nicht nur der Erholung dienen, sondern auch ökologische und soziale Funktionen übernehmen. „Leistungsgrün“ nannte er das, was Keller übersetzt in „Grün, das etwas kann“. In Zeiten der Klimakatastrophe und immer dichter werdenden Städte wird das zur Pflicht. „Grzimek war ein Vordenker in der gesamten ökosystemaren Überlegung, wie wir heute Landschaftsfunktionen in der Stadt verstehen“, so Regine Keller. Bei der Herausforderung, einen Park samt ausgewachsenen Bäumen in gerade mal vier Jahren zu schaffen, nutzte Grzimek sein Fachwissen als Gärtner und die Beratung von Fachkollegen. Beides half ihm, die passenden Pflanzen auszuwählen. „Das Tolle ist, dass dieses Wissen wirklich nachhaltig war“, sagt Keller. Bis heute blühen die Wiesen aus den ersten Ansaaten von Grzimek. Es gibt Vogelnährgehölze und Bienenweiden: „Was wir heute wieder propagieren, hat er schon gemacht.“
Was damals visionär war, ist heute (über-)lebenswichtig: Die Städte werden immer heißer, die Starkregenfälle nehmen zu. Sogenannte Kaltluftentstehungsgebiete wie ein Park, damit die Stadt nachts abkühlt und sich tagsüber nicht so aufheizt, sind da „ein Riesenpfund“, so Keller. Auch deswegen unterstützt die Professorin den Antrag, den Olympiapark ins Unesco-Weltkulturerbe aufzunehmen. Damit soll der gesellschaftliche Wert der Gesamtanlage anerkannt und dessen Unterhalt nicht mehr nur als „lästiger Kostenfaktor“ verbucht werden. Auch Fritz Auer erhofft sich durch den Titel „einen anderen Rang im Bewusstsein der Bevölkerung“.
Den hat das Olympische Dorf mit den Jahrzehnten auch ohne Titel erworben. Dabei gab es Zeiten, in denen nur Architekturfans klar war, was für ein Ausnahmequartier in München entstanden war, um Sportler und Journalisten während der Spiele zu beherbergen. „Jetzt wirkt es wie ein durchgrüntes Tal, aber damals war es eine relativ starre Betonwüste“, sagt der Architekt Thomas Knerer, der – wie viele Architekten – selbst im Olympiadorf wohnt, in einem der Terrassenhäuser. Mit Eva Lang hat er vor rund zehn Jahren das studentische Wohnhochhaus von Günther Eckert mit viel Sorgfalt und Raffinesse umgebaut und saniert.
Als Kind, das in der Nähe des Dorfes aufgewachsen ist, sei er oft hierhergekommen, erzählt Knerer in der Olympia-Alm, einem kleinen Biergarten auf dem Olympiaberg. Damals wirkte das Dorf „wie ein einziger riesiger Abenteuerspielplatz“, verwinkelt, unübersichtlich, „ganz anders als sonst in der Stadt“. Der Architekt Rainer Hofmann, der als Student dort wohnte, spricht von einer „verwunschenen Moderne“, die in „ganz vielen Bereichen den menschlichen Maßstab trotz der Größe bewahrt“. Aktuell generalsaniert Hofmann mit seinem Büro Bogevisch die „Stufenbauten“; das Bungalowdorf hat er bereits rekonstruiert, zusammen mit Werner Wirsing, dem 2017 verstorbenen Architekten der Original-Wohnanlage.
Warum die Unterkünfte für die Sportlerinnen und Sportler bis heute so gut funktionieren? „Weil die Anlage erst einmal eine andere Funktion erfüllen musste“, sagt Knerer. Von Anfang war klar gewesen, dass die Gebäude wandelbar sein mussten, weil später Studierende darin wohnen sollten. So konnte man im Wohnhochhaus sämtliche Wände rausnehmen, damit dort, wo während der Spiele nur ein Bett reinpasste und ein Sportler schlafen konnte, später großzügige Appartements entstehen konnten. Nachhaltigkeit bedeutet eben auch, dass sich ein Gebäude an Veränderungen anpassen kann. Dazu kam eine Vielfalt an Typologien und Wohnungsgrößen im Dorf, von Terrassenhäusern über Bungalows bis zu Reihenhäusern. Eine unterschiedliche Bewohnerschaft – eine der wichtigsten Ingredienzien für ein lebendiges Stadtviertel – war damit vorgegeben.
Nachhaltig ist der Münchner Olympiapark also auf mehreren Ebenen. Ökologisch für die Stadt als grüne Lunge. Symbolisch als Ort für eine offene demokratische Gesellschaft. Sportlich, weil bis auf das abgerissene Radstadion bis heute sämtliche Sportanlagen in Betrieb sind. Touristisch, weil es das Zeltdach zum Wahrzeichen der Stadt geschafft hat. Und vor allem aufgrund der Zuneigung der Münchner für diesen Ort. Wer ein Gebäude liebt, der pflegt es, davon ist Fritz Auer überzeugt: „Die Akzeptanz der Werke spiegelt, wie mit diesen später umgegangen wird.“ In gewisser Weise konnte man schon bei der Eröffnung der Spiele ahnen, was für einen Erfolg dieser Ort für München werden sollte. Denn, so erinnert sich Auer und so zeigen es die Fotografien, in den Park seien so viele Menschen geströmt, dass man den Berg nicht mehr gesehen habe: „Der Berg bestand aus Menschen.“ Das hat sich in all den Jahren nicht geändert.