Aus Angst vor der Wut der Wähler
von Martin Greive, Jan Hildebrand, Christian Rickens und Frank Specht
Handelsblatt vom 09.09.2022
Statt sich angesichts aktueller Krisen auf Kernaufgaben wie Regeln für eine funktionierende Marktwirtschaft und Bildungsgerechtigkeit zu konzentrieren, versucht der deutsche Staat so viele Bürger wie möglich vor Zumutungen zu schützen, mindert dabei aber ihre Eigenverantwortlichkeit. Besonders absurd seien die Höhe der Sozialabgaben in einem veralteten Sozialsystem, die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes trotz Arbeitskräftemangels und die Übersubventionierung von Unternehmen. Der Artikel wirft der Politik Stimmenfang vor und spricht sich für weniger staatliche Intervention aus.
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Aus Angst vor der Wut der Wähler
Die Stadionhymne des FC Liverpool begleitet Olaf Scholz wie ein rhetorischer Schatten: "You'll never walk alone". Meist liefert der Kanzler für sein Publikum gleich die deutsche Übersetzung mit: "Wir werden niemanden alleinlassen." Wir, das ist er, Scholz, der Kanzler, und mit ihm die Bundesregierung. Die Bürger und Unternehmen, das ist Scholz' Botschaft, sollen nicht allein durch die Energie- und sonstige Krisen laufen müssen. Der Staat nimmt jeden an die Hand.
Das erste Mal nutzte der Kanzler den Songtitel Ende Juli, als er seinen Wanderurlaub im Allgäu unterbrechen und nach Berlin eilen musste, um den Staatseinstieg beim Energiekonzern Uniper zu verkünden. Seitdem fällt er bei so gut wie jedem Scholz-Auftritt. Ob bei einem Wahlkampftermin der niedersächsischen SPD in Cuxhaven, während der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg oder zuletzt am Mittwoch bei der Haushalts-Generaldebatte: "You'll never walk alone - das ist das Motto dieser Regierung", sagte der Kanzler im Bundestag.
Was das bedeutet, machte er auch gleich deutlich. Die Bundesregierung, zählte Scholz auf, habe in diesem Jahr bereits zwei Hilfspakete über 30 Milliarden Euro geschnürt, am vergangenen Sonntag sei ein drittes über 65 Milliarden Euro von der Ampelkoalition vereinbart worden. Und am Donnerstag kündigte Wirtschaftsminister Robert Habeck im Bundestag einen weiteren Schutzschirm für Unternehmen an, die von steigenden Energiepreisen bedroht sind - gemäß dem Scholz-Mantra: "Wir werden das tun, was erforderlich ist, und so lange, wie es notwendig ist."
Der starke Staat feiert inmitten der Dreifachkrise aus Coronapandemie, Ukrainekrieg und Energieknappheit ein großes Comeback. Nicht nur als Retter, sondern auch als Investor, Beschützer, Kümmerer. Und in der Tat: Nichtstun ist keine Option angesichts von Strom- und Gaspreisen, die viele Bürgerinnen und Bürger schlicht nicht mehr bezahlen können - ebenso wenig wie viele Unternehmen.
Es wird allerdings kaum noch differenziert zwischen unstrittigen Staatsaufgaben auf der einen Seite - etwa die Energieversorgung sicherzustellen oder wirklich Bedürftige zu unterstützen - und auf der anderen Seite den Herausforderungen, die bislang aus gutem Grund in der Eigenverantwortung der Bürger lagen. Und auch Unternehmen werden vom Staat einerseits mit immer neuen Beihilfen gepampert, andererseits mit immer mehr Vorschriften gegängelt.
Ifo-Präsident Clemens Fuest spricht von einem "Neo-Dirigismus", der die vergangenen zehn Jahre geprägt habe. Vom Staat werde erwartet, die Bevölkerung vor belastenden Veränderungen abzuschirmen, obwohl er das nicht wirklich könne. "Das", so Fuest, "ist eine Variante der Idee von einer Vollkasko-Republik."
Welche Folgen hat diese Vollkasko-Politik? Wie kommt es dazu, dass sich der Staat immer mehr einmischt? Und wie könnte ein Staat aussehen, der sich in seinen Aufgaben bewusst beschränkt - und gerade deshalb an Stärke gewinnt?
1. Das Märchen vom kaputtgesparten Staat
Ein Indikator für das neue Selbstverständnis des Staates als allumfassender Kümmerer ist die unaufhaltsam wachsende Zahl der Regierungsbediensteten. Arbeiteten 2010 noch rund 17.000 Beamte für die Bundesregierung, werden es im nächsten Jahr mehr als 27.000 sein - ein Zuwachs von 59 Prozent in zwölf Jahren. Und der höchste Stand seit der Wiedervereinigung, wie das Bundesfinanzministerium bereits vor zwei Jahren in einer internen Präsentation vorrechnete.
Auch die Gesamtzahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst stieg zwischen 2010 und 2021 von 4,2 auf 4,7 Millionen. Laut Arbeitsmarktforschern sind die rund 500.000 zusätzlichen Staatsdiener mit ein Grund, warum derzeit in so vielen Branchen Arbeitskräfte fehlen.
Ob all die neuen Stellen zu besseren öffentlichen Diensten führen, hält der Ökonom Justus Haucap für fraglich. Er geht eher davon aus, dass zu viel Verwaltungspersonal zu mehr Bürokratie führt: "Die wachsende Zahl an Positionen schafft in der Regel zusätzliche Mitwirkungsrechte und - pflichten und Berichtspflichten, die oftmals eher lähmen als beschleunigen."
Es gibt nicht nur immer mehr Staatsbedienstete, sie können auch immer mehr Geld ausgeben. Beispiel Steuerquote: Die Steuereinnahmen gemessen an der Wirtschaftsleistung lagen im Jahr 2021 bei 24,4 Prozent und damit trotz Coronakrise auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Quote der Gesamteinnahmen des Staates, also vor allem inklusive der Sozialversicherungsbeiträge, liegt mit 47,5 Prozent der Wirtschaftsleistung ebenfalls auf dem höchsten Stand seit der deutschen Einheit. Einzig bei den Staatsausgaben war in den Jahren ab 2010 ein leichter Rückgang zu beobachten, alles andere wäre angesichts von annähernder Vollbeschäftigung aber auch eine Überraschung gewesen. Durch Corona ist die Staatsquote dann wieder stark angestiegen, von 44 auf 51 Prozent. Und ein Rückgang auf frühere Niveaus ist in den nächsten Jahren nicht in Sicht.
Paradoxerweise spielt das enorme Wachstum des öffentlichen Sektors in der politischen Debatte kaum eine Rolle, dort dominiert das gegenteilige Motiv vom kaputtgesparten Staat. Und wer kritisch anmerkt, dass sich der Staat zu viel zumutet, wenn er alle Bürger vor jedem Lebensrisiko abzuschirmen sucht, wird rasch des kaltherzigen Neoliberalismus bezichtigt. Als jemand, der in der Tradition von Margaret Thatcher oder Ronald Reagan den Staat möglichst kleinhalten will und sich nicht um die Folgen für die Armen und Schwachen schert.
Tatsächlich können sich die wirklich Armen und Schwachen am allerwenigsten einen Staat leisten, der sich immer neue Aufgaben auflädt und so selbst überfordert. Dadurch kann der Staat am Ende oft nicht einmal mehr seine elementaren Kernaufgaben erfüllen: etwa die bestmögliche Schulbildung für alle Kinder zu garantieren, unabhängig davon, aus welchem Elternhaus sie stammen; oder als starker Schiedsrichter Regeln für eine funktionierende Marktwirtschaft zu setzen, von deren Erträgen dann alle Bürger profitieren.
Die Finanzkrise 2008 hat offengelegt, in welche Katastrophe entfesselte Märkte führen können, denen der Staat keine klaren Leitplanken setzt. Der Staat muss zum Beispiel mit aller Härte gegen Unternehmen vorgehen, die mit Monopolen und Kartellen den Wettbewerb unterlaufen - denn Marktwirtschaft ist nur dann sozial, wenn Unternehmen mit ihren Waren und Dienstleistungen den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Diese Einsicht zählt zu den revolutionären Erkenntnissen jenes Ordoliberalismus, aus dem in den 50er-Jahren die Soziale Marktwirtschaft entstand.
Damit wuchs die legitime Rolle des Staates deutlich hinaus über den "Nachtwächterstaat", der sich auf einige wenige Funktionen beschränkt: allen voran Sicherheit zu gewährleisten gegen Feinde von außen und Kriminelle im Inneren.
"Nachtwächterstaat" - das war ursprünglich ein Spottwort, mit dem Ferdinand Lassalle, der Urvater der deutschen Sozialdemokratie, 1862 im damaligen Preußen die Ignoranz des Staates gegenüber sozialen Problemen kritisierte. Niemand kann sich ernsthaft diesen Minimalstaat des 19. Jahrhunderts zurückwünschen, in dem es den Tod bedeuten konnte, wenn man kein Geld für einen Arzt hatte oder keine Kraft mehr zum Arbeiten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wendete Deutschland rund drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Soziales auf, heute liegt dieser Anteil rund zehnmal so hoch.
Der Sozialstaat hat einerseits eine Größe erreicht, die sich Lassalle wohl niemals hätte träumen lassen. Doch zugleich erfüllt der Staat nicht einmal mehr die Minimalanforderungen des Nachtwächterstaats von einst - was am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine in einem bitteren Beitrag im Netzwerk LinkedIn kulminierte. "Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa", schrieb dort Alfons Mais, der Generalinspekteur des deutschen Heeres. Und dann folgte der mittlerweile legendäre Satz: "Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da." Der bestfinanzierte deutsche Staat aller Zeiten fand in den vergangenen Jahren nicht genug Geld, um für die Bundeswehr ein Mindestmaß an Einsatzbereitschaft zu garantieren.
Was hingegen im stoischen Gleichmaß vor sich hin stampft, ist die staatliche Umverteilungsmaschine. Immer gewaltigere Geldströme werden von ihr hin- und hergepumpt - zu einem erheblichen Teil innerhalb der Mittelschicht, oft an den wirklich Bedürftigen vorbei und bisweilen sogar in die Taschen der Reichen.
2. Die kommende Explosion der Sozialausgaben
Heinrich von Pierer ist sauer. Wie Millionen von deutschen Senioren könnte sich auch der ehemalige Vorstandschef der Siemens AG über eine Rentensonderzahlung von 300 Euro aus dem dritten Entlastungspaket der Ampel freuen. Aber von Freude keine Spur: "So eine Verschwendung", urteilt der 81-Jährige. "Das Geld brauche ich doch wirklich nicht." Der frühere Topmanager, der in seinem Berufsleben Millionen verdient hat, will die 300 Euro stattdessen an die Jugendsparte seines Tennisvereins spenden.
Auch Ifo-Präsident Fuest hält das dritte Entlastungspaket nicht für sonderlich zielgenau: "Man wollte sich wohl nicht vorwerfen lassen, man hätte jemanden vergessen." Denn genau das hatte die Bundesregierung beim letzten Mal. Bei der im Zuge des zweiten Rettungspakets beschlossenen Energiepreispauschale gingen Rentner und Studierende leer aus. Das führte zu großer Kritik, weshalb beide Bevölkerungsgruppen im dritten Paket nun jeweils mit eigenen Direktzahlungen bedacht wurden.
Nur: "Maßgeschneidert", wie es die Regierung im Vorfeld versprochen hatte, ist das Paket nicht. Verdienstvoller wäre es, zusätzliche Belastungen zu vermeiden, die Senioren durch ausufernde Pflegekosten oder steigende Mieten entstehen.
In ihrem Bemühen, an alle zu denken, kam am Ende doch wieder eine Gruppe zu kurz: die untere Mittelschicht, die gerade so viel verdient, dass ihr die Erhöhung der Arbeitslosensätze und die Ausweitung des Wohngelds nichts bringt, die aber auch keine Ersparnisse zum Auffangen der steigenden Energiepreise hat. "Eine offene Flanke", moniert die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.
Was nach der derzeitigen Hilfslogik bedeutet: In einem vierten Entlastungspaket, das einige Politiker und Ökonomen bereits fordern, dürfte die Regierung dann für die untere Mittelschicht besonders viel tun. Es soll eben niemand zurückgelassen werden.
Dieser Geist zeigt sich auch bei den Sozialausgaben. In der Coronakrise 2020 verzeichnete der Sozialstaat einen Rekord. Erstmals lenkte die Politik mehr als ein Drittel der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung in Sozialausgaben - 1,19 Billionen Euro, um genau zu sein. Die sogenannte Sozialleistungsquote - gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) - lag mit 33,6 Prozent um 2,8 Prozentpunkte höher als auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009. Darin enthalten sind die Ausgaben der staatlichen Sozialversicherungen, der privaten Krankenversicherung und die Sozialetats der öffentlichen Hand.
Der Anstieg ist keineswegs nur coronabedingt. Die Regierung geht davon aus, dass der Anteil der Sozialleistungen am BIP trotz des erwarteten neuen Konjunkturaufschwungs im Jahr 2025 bei 32 Prozent liegen wird, was gut 100 Milliarden Euro pro Jahr entspricht.
Die Politik steuert sehenden Auges auf einen Dammbruch bei den Sozialversicherungsbeiträgen zu. Noch zur Jahrtausendwende galt die 40-Prozent-Marke bei den Lohnnebenkosten als absolute Obergrenze. Während der Coronakrise gab die Große Koalition eine "Sozialgarantie" ab, nach der die Beträge keinesfalls über 40 Prozent steigen sollten, um die Wirtschaft nicht über Gebühr zu belasten.
Doch heute interessiert diese Grenze niemanden mehr, der Dammbruch ist längst da: Beitragszahler ohne Kinder mussten bereits in diesem Jahr eine Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge von 0,1 Prozentpunkten hinnehmen, sodass sie schon leicht über einer 40-prozentigen Gesamtbelastung liegen. Nun sollen die Beiträge zur Arbeitslosen- und zur Krankenversicherung Anfang 2023 steigen, die 40-Prozent-Marke wird dann für alle Arbeitnehmer gerissen - und zwar deutlich.
Entsprechend groß ist die Verärgerung in der Wirtschaft über die absehbare Zusatzbelastung. "Man kann nicht auf der einen Seite zu Inflationsgipfeln einladen und auf der anderen Seite munter die Sozialbeiträge anheben", sagte der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands (BDA), Steffen Kampeter. "Die drohenden Mehrbelastungen für Beschäftigte und Unternehmen fressen die Wirkungen der Entlastungspakete rasch wieder auf."
Und der Ökonom Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum urteilt: "Der ganz große Druck steht uns noch bevor." Denn in den kommenden Jahren wird der demografische Wandel immer stärker zu spüren sein. Das setzt vor allem die Rentenversicherung unter Druck: Weniger Arbeitnehmer müssen mehr Rentner finanzieren. Die Bundesregierung müsse dringend grundlegende Reformen der sozialen Sicherungssysteme anstoßen, mahnt Werding. "Ansonsten läuft die Finanzierung komplett aus dem Ruder."
Was das für die Beitragssätze bedeuten würde, hat der Ökonom in Modellrechnungen zu schätzen versucht. Wenn nicht gegengesteuert werde, so Werdings Schätzung, werden die Sozialbeiträge bis 2060 auf rund 55 Prozent steigen.
Natürlich kann der Staat das tun, was er auch in der Vergangenheit immer wieder getan hat: die Beitragssätze durch immer höhere Steuerzuschüsse an die Sozialversicherungen stabil halten. Sollen die Sozialbeiträge bei 40 Prozent eingefroren werden, müsste der Bund 2060 rund zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aufwenden, nur um die Verluste der Sozialkassen auszugleichen, warnte der Bundesrechnungshof jüngst in einem Gutachten.
Es gibt manch gute Argumente, warum die Ausgaben etwa für Gesundheit mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft steigen. Wenn erst einmal Grundbedürfnisse wie Essen und Wohnen befriedigt sind, rücken zunehmend immaterielle Bedürfnisse wie körperliches Wohlbefinden in den Mittelpunkt. Und der medizinische Fortschritt sorgt dafür, dass sich immer mehr Krankheiten behandeln lassen - was dann aber immer teurer wird.
Das Problem in Deutschland: Diese wachsenden Ausgaben werden noch immer über ein System abgewickelt, das im Kern auf der Bismarck'schen Sozialversicherung des 19. Jahrhunderts beruht. Die sollte aber nie etwas anderes leisten als eine Grund- und Notversorgung.
Durch jede Kostensteigerung im Gesundheitswesen und jede Rentenerhöhung steigen heute die Sozialversicherungsbeiträge und damit die Lohnnebenkosten. Insbesondere für Geringverdiener drücken die hohen Sozialversicherungsbeiträge das Nettogehalt so weit, dass sie sich selbst als Vollzeitbeschäftigte kaum besserstellen als ein Hartz-IV-Empfänger, der sich mit einem Nebenjob ein bisschen was dazuverdient.
Der Ökonom Peter Bofinger hat bereits vor vielen Jahren ein Konzept entwickelt, wie ein Vollzeitjob auch für Geringverdiener attraktiver würde: durch einen Grundfreibetrag bei den Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe des Existenzminimums, so, wie er heute schon bei der Einkommensteuer gilt. Wer wenig verdient, hätte dann automatisch mehr Netto vom Brutto und könnte das zusätzliche Einkommen zum Beispiel nutzen, um Geld für Notfälle beiseitezulegen - dann würden ihn auch höhere Strom- oder Heizkosten nicht gleich zum Fürsorgeobjekt des Staates degradieren.
Finanziert werden müsste dieser Freibetrag durch entsprechend höhere Sozialversicherungsbeiträge für höhere Einkommen. Bofingers Idee war sogar mal offizielle Position der SPD. Doch mittlerweile sind solche Lösungen, die auf die Ertüchtigung des Individuums setzen, nicht nur bei den Sozialdemokraten gründlich aus der Mode geraten. Stattdessen wird für jede Lebens- und Notlage ein neues Sozialprogramm gezimmert - und die Kritik der Wissenschaftler weggelacht. Bundeskanzler Scholz machte sich im vergangenen Wahlkampf über die Ökonomen lustig, die mit ihren "Horrorprognosen" noch nie recht behalten hätten. Er wolle lieber mit "seriösen" Wissenschaftlern diskutieren.
Wobei diese Zukunftsvergessenheit kein Alleinstellungsmerkmal der SPD ist. In den letzten beiden Legislaturperioden unter der CDU-Kanzlerin Angel Merkel sah die Sozialpolitik nicht wirklich anders aus. Und manches von dem, was unter Merkel als Krisennothilfe eingeführt wurde, fristet unter der neuen Regierung bis heute ein zombiehaftes Eigenleben.
3. Kurzarbeitergeld trotz Arbeitskräftemangel
"Wir bauen eine stabile Brücke über ein tiefes wirtschaftliches Tal", twitterte Arbeitsminister Hubertus Heil im September 2020. Da war die Coronakrise in Deutschland gerade ein halbes Jahr alt - und mit dem erleichterten Zugang zur Kurzarbeit, auf den Heil in seinem Tweet anspielte, überbrückte die Politik die Pandemiefolgen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich relativ gut.
Inzwischen sind fast zwei Jahre vergangen. Doch der als Reaktion auf die Pandemie eingeführte erleichterte Zugang zur Kurzarbeit ist immer noch in Kraft - und die Regierung will ihn bis Ende Dezember verlängern. Firmen können schon dann Kurzarbeitergeld beantragen, wenn zehn Prozent ihrer Beschäftigten von Arbeitsausfall betroffen sind. Regulär ist es ein Drittel.
Immer wieder hatte die Bundesregierung die Sonderregeln verlängert, die zeitweise auch für die Arbeitgeber eine Erstattung der geleisteten Sozialversicherungsbeiträge vorsahen. Erst war die Pandemie der Grund, dann waren es Lieferkettenprobleme, jetzt sind es der Ukrainekrieg und seine Folgen.
Dass in Deutschland längst der Arbeitskräftemangel viel gravierender ist als die Arbeitslosigkeit, ist darüber irgendwie in Vergessenheit geraten. Schon im Februar dieses Jahres hatte der Bundesrechnungshof gewarnt, die Sonderregeln nochmals zu verlängern: "Was während der Phase massiver krisenbedingter Beschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit unverzichtbar war, führt nunmehr zu nicht mehr gerechtfertigten Ausgaben in erheblicher Größenordnung und zu vermeidbaren Risiken für den strukturellen Anpassungsprozess", schrieben die Rechnungsprüfer in einem Gutachten.
Im Klartext: Arbeitnehmer, die womöglich woanders dringend gebraucht werden, werden von den übrigen Bürgerinnen und Bürgern fürs Gar-nicht- oder Weniger-Arbeiten bezahlt. Und Unternehmen, die dringend ihr Geschäftsmodell überdenken müssten, können ihre Kosten einfach durch Kurzarbeit senken. Dabei kommen für die Leistung mittlerweile nicht mehr nur die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung auf, sondern alle Steuerzahler. Denn die Rücklage von knapp 26 Milliarden Euro, welche die Bundesagentur für Arbeit (BA) vor Beginn der Pandemie aufgebaut hatte, ist längst verfrühstückt. In den beiden zurückliegenden Jahren stützte der Bund die Arbeitslosenversicherung bereits mit insgesamt rund 24 Milliarden Euro. Auch im laufenden Jahr erwartet die Nürnberger Behörde ein Defizit von zwei Milliarden Euro.
Vor rund acht Jahren kam in fast zehntausend Meter Höhe einmal Ehrlichkeit in die Politik. Es ist kurz nach der Bundestagswahl 2013, die Union hätte beinahe die absolute Mehrheit geholt.
Ein CDU-Spitzenpolitiker befindet sich auf dem Weg in die USA und lehnt sich behaglich im Sitz der Regierungsmaschine zurück. Der Wahlsieg, obschon einige Wochen her, sorgt bei ihm noch immer für blendende Laune.
Ein Journalist will wissen, ob die von der CDU im Wahlkampf propagierte Mütterrente nicht eigentlich großer Mist sei. Und ob er als Unionsgrande wirklich dahinterstehe. Eigentlich vertrete er doch eine ganz andere Politik.
"Hah!", platzt es aus dem Politiker heraus. "Wissen Sie, wie viele Stimmen uns die Mütterrente gebracht hat? Dass die SPD so saudoof war und das nie verstanden hat, dass das die Rentner in die Arme der Union getrieben hat, habe ich bis heute nicht begriffen."
Das Projekt Mütterrente mag viele Milliarden im Jahr kosten, für die Union war es gemünzt auf die Wählerstimmen unbezahlbar gut. So gut, dass die damaligen Äußerungen des Unionspolitikers natürlich auf keinen Fall zitiert werden durften.
Die Episode lässt sich mit einem Modell erklären, das der Ökonom James Buchanan bereits vor sechs Jahrzehnten entwickelt hat: die Public-Choice-Theorie. Sie erklärt, warum Politiker dazu neigen, sich immer mehr Aufgaben anzueignen und dabei immer mehr Geld auszugeben. Tatsächlich sind sie fast alle einmal in die Politik gegangen, um etwas zu verändern, um die Welt ein Stück besser zu machen. Und es wäre falsch zu unterstellen, diese ursprüngliche Motivation würde für einen Politiker im Laufe seiner Karriere gar keine Rolle mehr spielen.
Doch je mehr Politiker in ihre Karriere investiert haben, je näher sie an Spitzenämter kommen oder sie erobern, desto mehr haben sie laut Buchanan zu verlieren. Politiker werden dann nach und nach zu Stimmenmaximierern. Und das gelingt ihnen am besten, indem der Staat immer mehr Geld umverteilt und immer mehr Aufgaben an sich zieht. Etwa den Eingriff in Marktprozesse, wann immer der Politik deren Ergebnis missfällt.
4. Ein Verwöhnprogramm für Unternehmen
Knapp 580 Seiten umfasst der jüngste Subventionsbericht aus dem Bundesfinanzministerium. Viele Seiten - und noch viel mehr Geld.
So werden sich allein die Subventionen des Bundes innerhalb von drei Jahren nahezu verdoppeln. 2019 gab der Bund für Finanzhilfen und Steuervergünstigungen noch knapp 25 Milliarden Euro aus. In diesem Jahr sollen es gut 47 Milliarden Euro sein.
Olaf Scholz, damals noch Finanzminister, begründete den starken Anstieg mit dem Klimaschutz: "Die Subventionspolitik ist Teil der zukunftsorientierten Finanzpolitik der Bundesregierung. Sie wird immer stärker durch die Klima- und Umweltpolitik geprägt, insbesondere im Bereich der direkten Förderung durch Finanzhilfen des Bundes." Ein Beispiel dafür sind die Zuschüsse für den Kauf von Elektroautos. Das Finanzministerium kalkuliert dafür 2021 mit insgesamt 3,7 Milliarden Euro.
Irritierend ist allerdings nicht nur, dass die Subventionen auf immer neue Höchststände steigen. Irritierend ist auch, wie sehr sie im Widerspruch zueinander stehen.
Während die Politik den Ausbau erneuerbarer Energien kräftig subventioniert, fördert sie gleichzeitig weiterhin über das Dienstwagenprivileg den Kauf dicker Verbrenner-Limousinen. Noch immer sind Lufthansa und Co. von der Kerosinsteuer befreit. Auch wenn manches davon auf EU-Ebene spielt: Das Volumen der umweltschädlichen Subventionen ist laut Umweltbundesamt seit 2012 von rund 57 auf mindestens 65 Milliarden Euro gestiegen.
Angesichts der Summen, die für Subventionen aufgewendet werden, stellt sich sogar die Frage, ob Erfolge bei Standortansiedlungen wirklich der Attraktivität der Bundesrepublik geschuldet sind oder eher staatlichen Fördermitteln. 17 Milliarden Euro will der US-Chiphersteller Intel für seine neue Chipfabrik in Magdeburg verbauen. Insgesamt soll Intel für seine Megafabrik von Bund und EU 6,8 Milliarden Euro erhalten. Damit wären 40 Prozent der voraussichtlichen Gesamtkosten abgedeckt - so macht Investieren Spaß.
Noch vor wenigen Jahren wurde der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) für seine Industriepolitik ausgelacht. Altmaier ließ damals hastig ein Strategiepapier aufschreiben, in dem er Schlüsselbranchen, ja sogar Schlüsselunternehmen nannte, die systemrelevant und damit besonders schützenwert wären. Also nicht von fremden Investoren, insbesondere aus China, übernommen werden dürften.
Inzwischen lacht niemand mehr. Eine Industriepolitik, bei der der Staat definiert, wer im eigenen Land investieren darf, wo Schwerpunkte etwa in der Batteriezellenfertigung für Elektroautos gelegt werden sollen, ist längst eingeübte Praxis. Der Staat glaubt zu wissen, welche Unternehmen eine Rettung verdienen, welchen Technologien die Zukunft gehört, welche zugunsten eines vermeintlichen Fortschritts verboten gehören und welche Hightech-Produkte dringend im Inland gefertigt werden müssen.
Ökonom Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft Kiel warnt vor einem Staat, der glaubt, der bessere Unternehmer zu sein: "Er vermengt Sphären, die klar voneinander getrennt werden müssen", so Kooths. Marktwirtschaftliche Wettbewerbsprozesse seien ihrer Natur nach ergebnisoffen. Dies gelte insbesondere für Produkt- und Verfahrensinnovationen: "Hier maßt sich der Staat zu oft ein Wissen an, dass er - wie auch sonst niemand - haben kann."
Dennoch werde immer wieder darauf verwiesen, dass bestimmte industriepolitische Projekte des Staates "erfolgreich" gewesen seien. "Erfolgreich" hieße in ökonomischer Logik, dass die privaten Akteure mit den Steuergeldern nichts Besseres hätten anfangen können. Kooths: "Dieser Nachweis wird aber nie erbracht." Niemand weiß schließlich, was ohne Subventionen an Technologien entstanden, an Investitionen getätigt worden wäre.
Auch Fuest warnt davor, den Staat als "allwissenden Ressourcenverteiler" anzusehen. Man könne durchaus der Meinung sein, die öffentlichen Investitionen müssten erhöht werden. "Aber auch das würde nichts daran ändern, dass die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands vor allem im Bereich der privaten Investitionen entschieden wird"; die seien nämlich etwa neunmal so hoch wie die öffentlichen.
Genau das sei das Problem, postulieren linke Wirtschaftspolitiker: Die staatlichen Investitionen müssten dringend steigen, um die Schwäche der privaten auszugleichen. Auch einige Ökonominnen und Ökonomen vertreten diese These.
Das richtige Instrument dafür laut dieser Denkschule: mehr Schulden. Wenn der Staat dank Niedrigzinsen quasi umsonst Kredite aufnehmen könne, wäre die Politik doch verrückt, die Gunst der Stunde nicht zu nutzen.
Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse hat groß angelegte staatliche Investitionsprogramme auf Pump bislang verhindert. Bei SPD und Grünen ist die Schuldenbremse entsprechend verhasst, sie gilt als Relikt einer gestrigen Wirtschaftspolitik, einer Zeit, als die Politik noch nicht verstanden habe, dass sie auch in die Zukunft investieren müsse, damit das Land eine Zukunft habe.
Allerdings hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat wegen der hohen Inflation spät, aber dann doch entschlossen eine Zinswende eingeleitet. An diesem Donnerstag hat sie den Leitzins in einem Zug um 0,75 Prozentpunkte angehoben, so stark wie nie zuvor.
Das bedeutet aber auch: Die Zeit der Gratisschulden für den Staat ist vorbei. 2021 musste der Bund gerade mal noch 3,9 Milliarden für Zinsen ausgeben. In diesem Jahr werden es laut Haushaltsplanung bereits 16 Milliarden Euro sein, im nächsten Jahr sogar 30 Milliarden, das wäre der höchste Wert seit 2013. Der Glaube, der Staat könne ruhig so viel Geld ausgeben, wie er will, wird wieder zu dem, was er vermutlich immer wahr: eine für Politiker bequeme Wunschvorstellung.
In der Finanzkrise wurde die Politik zu Recht kritisiert, weil Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert wurden. Um finanzielle Kettenreaktionen zu verhindern, rettete der Staat mit dem Steuergeld von Durchschnittsverdienern die Existenz von Großbanken und damit das Vermögen von deren Aktionären. In der aktuellen Gaskrise droht sich dieses Szenario nun, wenn auch in geringerem Umfang, zu wiederholen.
Beispiel Uniper. Der Düsseldorfer Gashändler hat versäumt, was für jeden Mittelständler zu klugem Unternehmertum gehört: nämlich seine Lieferanten zu diversifizieren. Stattdessen verließen sich die Uniper-Bosse einseitig auf billiges Pipelinegas aus Russland. Seit das nur noch spärlich fließt, muss Uniper Gas auf dem Spotmarkt zu hohen Preisen kaufen, um seine eigenen Lieferverpflichtungen zu erfüllen.
Nach den Regeln der Marktwirtschaft hat es Uniper durchaus verdient, in die Pleite zu rutschen und Unternehmen Platz zu machen, die ihre Einkaufspolitik besser im Griff haben.
Doch weil dann die Uniper-Kunden, darunter viele Stadtwerke, nicht mehr mit Gas versorgt würden und in letzter Instanz auch viele Verbraucher mit deutlich höheren Heizkosten rechnen müssten, wird Uniper mit Steuermitteln gerettet. Alle Gaskunden sollen über eine Umlage mehr bezahlen, damit die Gaswirtschaft nicht kollektiv pleitegeht. Uniper und Co. sind ebenso "too big to fail", wie es die Zockerbanken in der Finanzkrise waren.
Die Rechnung dafür müssen die Verbraucher zahlen. Für die meisten Gasverbraucher wird das laut Wirtschaftsminister Habeck "einige Hundert Euro mehr pro Haushalt" auf der Gasrechnung bedeuten, viele werden die Mehrkosten kaum auffangen können. Deshalb senkte die Bundesregierung im Gegenzug die Mehrwertsteuer auf den gesamten Gasverbrauch und kündigte umgehend ein umfangreiches Entlastungspaket an: Die Rettung der Energiekonzerne mit Staatsgeld zieht gleich die nächste Staatsintervention nach sich - wie so oft.
Gelähmt von der Angst vorm eigenen Bürger
Spätestens jetzt braucht Deutschland eine neue Debatte über die Aufgaben und Grenzen des Staates. Gerade jene politischen Kräfte, die sich progressiv dünken, also eigentlich alle drei Ampelparteien, sollten dieses Debatte vorantreiben. Alle, die daran glauben, dass gute Politik die Welt zum Besseren verändern kann, sollten am wenigsten ein Interesse daran haben, dass sich der Staat durch Selbstüberforderung lähmt, etwa indem er sich in immer mehr Marktprozesse einmischt und immer größere Teile der Bevölkerung zu Hilfsbedürftigen stempelt.
Am Trend zu immer mehr staatlichen Ausgaben und Eingriffen, die zu immer höheren Steuer- und Abgabenbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger führen, wird sich jedoch nichts ändern, solange nicht Teile der Politik ihr Menschenbild korrigieren. In den Köpfen vieler Politiker hat sich ein Bild vom Bürger als einem unmündigen, aber zugleich tyrannischen Kind festgesetzt, dessen Tobsuchtsanfälle am Schokoladenregal man zu fürchten gelernt hat.
Die rechtspopulistischen Bewegungen in vielen westlichen Industriestaaten, von den "Gelbwesten" in Frankreich bis zu den Kapitolstürmern in Washington haben von links bis konservativ für ein neues Mantra gesorgt: Auch die "Verlierer der Globalisierung" müssten irgendwie mitgenommen werden auf dem Weg in die klimaneutrale Zukunftsgesellschaft.
Damit das gelingt, darf man ihnen nicht mit allzu vielen Zumutungen kommen, sonst biegen sie ab Richtung rechts außen und gefährden die Stabilität des politischen Systems. Ein bisschen was von dieser Denkweise steckt auch in dem Wahlkampfslogan vom "Respekt", den Bundeskanzler Olaf Scholz allen Bürgerinnen und Bürgern verspricht.
Solange dieser Respekt bedeutet, dass harte Arbeit fair entlohnt wird und Bürger in Notlagen vom Staat nicht wie Bittsteller behandelt werden, wird kaum jemand etwas dagegen einzuwenden haben. Gefährlich wird es jedoch, wenn der Staat suggeriert, er könne alle Bevölkerungsschichten auf alle Zeit vor allen Zumutungen abschirmen. Denn dieses Versprechen wird ihn zwangsläufig überfordern.
Und wenn es dann gebrochen wird, ist der Zorn umso größer, je häufiger es zuvor geheißen hat: You'll never walk alone.