Wir werden nie aufgeben
von Andreas Macho, Crina Balea und Isabelle Wermke
WirtschaftsWoche vom 22.04.2022
Metro und der deutsche Autozulieferer Prettl sind zwei der deutschen Konzerne, die trotz des Kriegs in der Ukraine weiter produzieren, um Hoffnung durch Normalität zu stiften. Der Artikel zeigt, wie sie angesichts fragiler Lieferketten, ständigen Raketenalarms und Sorge um die Mitarbeiter den Betrieb aufrechthalten.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Wir werden nie aufgeben
Die Sonne ist gerade über den Feldern im Norden Rumäniens aufgegangen, als Peter Fadigati seinen Seat vor der Schranke stoppt. Fadigati, Rollkragenpullover, Funktionsjacke und runde Brille, reicht dem rumänischen Grenzer seinen italienischen Pass. Der mustert das Papier. Dann blickt er Fadigati an: "Warum fahren Sie in die Ukraine?" Es klingt freundlich, aber auch verwundert. Wer will schon freiwillig in der Ukraine?
"Ich manage zwei Fabriken. Die muss ich am Laufen halten", sagt Fadigati. Der Beamte winkt ihn durch. Wenige Meter weiter stoppt ihn der ukrainische Zöllner. Ein kurzes Gespräch, ein kurzer Blick in den Kofferraum, dann winkt auch er den Manager weiter. "Slava Ukraini", ruft Fadigati, "Ruhm der Ukraine". Dann rollt er über die Grenze.
Kilometer für Kilometer nähert sich Fadigati nun seinem Arbeitsplatz. Für den deutschen Autozulieferer Prettl führt der Manager zwei Werke im Süden des Landes, in den Orten Chernivtsi und Kamianets-Podilskyi. An den Standorten will Prettl unbedingt festhalten - trotz Krieg. Fadigati soll den Betrieb sicherstellen, solange es geht.
Putins Krieg hat Tausende Ukrainer das Leben gekostet und Millionen aus dem Land getrieben. Bis zu 30 Prozent der Infrastruktur sollen laut ukrainischen Angaben zerstört oder schwer beschädigt worden sein, darunter 300 Brücken und 8000 Kilometer Straße. Unter den Belastungen droht die Wirtschaft zu implodieren - was das Leid der Bevölkerung noch steigern würde.
Betroffen vom Krieg sind auch die Dependancen deutscher Unternehmen. Der Technologiekonzern Siemens ist hier ebenso vertreten wie der Chemiekonzern BASF und die Handelskette Metro. Auch Gipsfabrikant Knauf, Konsumgüterhersteller Henkel und Heizungsbauer Viessmann sind hier aktiv. Die Deutsch-Ukrainische Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine) listet rund 2000 Firmen mit deutscher Beteiligung auf. An ihnen hängen 50 000 Arbeitsplätze.
Wie viele Unternehmen noch arbeiten, wie sie ihre Mitarbeiter schützen und die Lieferketten in Gang halten, ist selbst für die AHK schwer zu ermitteln. Auf Anfrage erklärt ihr Vorsitzender Alexander Markus erst, dass er keine Aussagen machen wolle. "Ich möchte nicht, dass die am Tag nach der Veröffentlichung eine Bombe auf ihre Fabrik bekommen", schreibt er. Schließlich gibt er eine Schätzung ab: Etwa 70 Prozent der produzierenden deutschen Unternehmen seien noch aktiv. Insgesamt liefe die Produktion derzeit noch besser als erwartet.
So hätten sich etwa die Lieferketten inzwischen relativ gut eingespielt. Wichtig sei, dass Unternehmen auf eine Liste von Produzenten kritischer Güter aufgenommen würden. Nur dann dürften Banken die nötigen Finanzierungen freigeben. Einige Dienstleistungsanbieter hätten zumindest Teile ihrer Mitarbeiter außer Landes oder in die relativ sichere Westukraine gebracht. Dort könnten sie oft ihre Arbeit fortsetzen. "Bei produzierenden Unternehmen ist das natürlich nur sehr begrenzt möglich", sagt Markus. Das Risiko ist hoch:"Menschen, die sich in einer Fabrik befinden, sind ein größeres Ziel." Einige deutsche Unternehmen hat der Krieg direkt getroffen. Einen Standort von Viessmann in Kiew haben Bomben getroffen, Henkel beklagt den Tod eines Mitarbeiters. Unternehmen, die trotzdem präsent bleiben wollen, sehen das auch als Zeichen der Solidarität. Doch was verlangt dieses Bekenntnis den Verantwortlichen vor Ort ab?
PANZERSPERREN SÄUMEN DEN WEG
Fadigati steuert seinen Seat über eine neu gebaute Straße, kleine Dörfer und Wälder ziehen an den Fenstern vorbei. Der Manager hat es eilig. Von 22 Uhr bis 6 Uhr ist Ausgangssperre, das setzt ihn unter Druck.
Durch die Windschutzscheibe fällt der Blick bald auf erste Panzersperren, alle paar Kilometer stehen sie am Straßenrand. Auch mit Sandsäcken gesicherte Stellungen säumen Fadigatis Route. Polizeiwagen haben Autos angehalten, die Beamten fahnden nach russischen Saboteuren. In einem der Dörfer, durch das Fadigati fährt, säubern Arbeiter die Straße. Reinigung mitten im Krieg? Fadigati wundert sich nicht. "Die Ukrainer wollen so viel Normalität aufrechterhalten wie möglich. Das nimmt den Menschen etwas von der Angst", sagt er.
Nach gut 120 Kilometern türmen sich auf der Straße plötzlich weiße Sandsäcke, hinter denen ukrainische Soldaten mit Sturmgewehren hervorlugen. Die Straßen in die Stadt Kamjanez-Podilskyj sind gesichert wie Festungen. Als Fadigati auf eine Stellung zufährt, winkt ihm eine Soldatin zu. Man kennt ihn hier als den Mann, der beschlossen hat, dem Krieg nicht zu weichen. Vor einer Fabrikhalle stoppt Fadigati den Seat. Ganz oben steht in roten Lettern Prettl.
400 Kilometer nordöstlich von Fadigati will auch Vasyl Hrynkiv die Stellung halten. Der Mann, blaue Weste und kurz geschorene Haare, führt durch den von ihm geleiteten Metro-Großhandel im Süden Kiews. Am Eingang stapeln sich Kisten, durch die Gänge schallt ukrainische Volksmusik. Seit Kriegsbeginn läuft die hier, statt der üblichen Popmelodien.
Der 24. Februar, der Tag des russischen Angriffs, hat für Hrynkivs Geschäft alles verändert. "Wir haben das Sortiment sofort umgestellt. Niemand braucht im Moment teure Luxusartikel", sagt er und führt zu den Vorratsstapeln in der Mitte des Marktes, zu Zucker und Öl, zu Dosen mit Fleisch und Fisch. "Wir konzentrieren uns auf die Grundbedürfnisse der Kunden", sagt Hrynkiv.
Von 26 Metro-Märkten in der Ukraine sind noch 21 funktionstüchtig. Erst gab es Lieferschwierigkeiten, jetzt können sie die Versorgung mit Basisprodukten sichern. Die Märkte in umkämpften Städten wie Mariupol, Charkiw, Mykolaev und Chernihiv mussten schließen, zum Markt in Mariupol hat die Geschäftsleitung keinen Kontakt mehr. Telefon und Internet funktionieren nicht, mehrere Angestellte werden vermisst.
Bleiben oder gehen wird angesichts solcher Erlebnisse zur Gewissensfrage. Siemens zählt zu den Unternehmen, die ihre Mitarbeiter bei der Flucht unterstützt und den Vertrieb im Land selbst aufgegeben haben. Der Münchner Konzern hat ein Werk im polnischen Warschau so umgebaut, dass dort Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht werden können. Zuflucht finden hier längst nicht alle. Männer zwischen 18 und 60 dürfen die Ukraine nicht verlassen.
Andere Unternehmen halten am Standort Ukraine fest. So hat der Online-Ersatzteilhändler Autodoc Programmierer aus Odessa mit eigenen Bussen in sicherere Teile des Landes evakuiert. Von dort arbeiten sie weiter an ihren Computern.
DER ERSTE TAG OHNE ALARM
Es ist kurz vor 9 Uhr morgens, als Prettl-Manager Fadigati sein Büro erreicht. Nebenan, in einer Lagerhalle, schrauben Hunderte Frauen und wenige Männern Kabelbäume zusammen. In Ungarn, Deutschland und anderen Ländern werden diese später in Modellen von BMW, Fiat und anderen Markenherstellern verbaut werden.
Auf Fadigatis Laptop poppt ein Teams-Call auf. Ein amerikanischer Kunde besteht auf einer täglichen Runde. Zusammen mit Konkurrenten aus anderen Teilen der Ukraine soll Fadigati ihm ein Update geben. Eine Konkurrenzfirma nahe Kiew, die Kabelbäume für einen deutschen Autobauer produziert, muss für diesen Tag einen kompletten Ausfall melden. Fadigati hat mehr Glück: "Gestern war sehr gut. Es gab das erste mal seit Tagen keinen Raketenalarm." Rund um den Globus hat der studierte Ingenieur Fabriken für Autozulieferer geführt und aufgebaut. In China hat er vor Jahren gegen den Ausbruch des Lungenvirus SARS gekämpft, das ukrainische Werk hat er durch die Coronapandemie gebracht. Der Krieg ist seine mit Abstand größte Herausforderung. Er bedeutet fragile Lieferketten, ständigen Raketenalarm und permanente Sorge um rund 2000 Mitarbeiter.
"Ich bin einfach nur sprachlos, wie bedingungslos die Ukrainer für ihr Land einstehen", sagt Fadigati. "Wir müssen den Menschen zeigen, dass wir auch in schwierigen Zeiten bei ihnen bleiben. Nie waren ausländische Investoren so wichtig wie jetzt." Fadigati will dafür selbst ein Beispiel geben. Bis auf kurze Besuche bei seiner Familie in Italien ist er vor Ort, meist sieben Tage die Woche. Zu 80 Prozent konnte er die Produktion in beiden Werken bislang aufrechterhalten. Um die Ausfälle wegen der ständigen Alarme auszugleichen, kommen viele Mitarbeiter sogar sonntags in die Fabrik. Freiwillig. "Der Krieg hat uns alle zusammengeschweißt", sagt Fadigati. Aber hilft das auf Dauer? Während Prettl an den Werken in der Ukraine festhält, baut das Unternehmen auch Produktionslinien in anderen Ländern auf. Für den Fall der Fälle.
In Kiew haben die Sirenen in der Nacht wieder geheult. Das Lächeln von Metro-Manager Hrynkiv konnte das nicht brechen. Der ostentative Optimismus ist Teil der Taktik des Filialleiters. "Meine Aufgabe ist es, ein beruhigende Atmosphäre für das ganze Team zu schaffen. Ich kann es mir nicht erlauben, Panik zu verbreiten", sagt er.
Für den Fall von Raketenangriffen während der Geschäftszeiten stehen für die Mitarbeiter Bunker in der Nähe der Filialen bereit. Das Management zahlt die Löhne, unabhängig davon, ob die Angestellten zur Arbeit erscheinen oder nicht. In umkämpften Gebieten, in denen Metro seinen Service noch anbieten kann, bekommen die Mitarbeiter den doppelten Lohn. Metro-Angestellte, die eingezogen werden oder freiwillig kämpfen, werden von dem Konzern unterstützt. "Wir haben Helme und schusssichere Westen bereitgestellt", sagt Hrynkiv. Er betont, dass auch Frauen aus seinem Markt freiwillig in den Krieg gezogen sind.
Elena Vdovychenko, Chefin von Metro in der Ukraine, präsentiert eine lange Liste von Spenden ihres Arbeitgebers für Armee und Zivilisten: 84 Tonnen Grundnahrungsmittel, 28 Tonnen Fleisch und Fisch finden sich dort, auch 14 Tonnen Hygieneprodukten. Möglich wurde diese Hilfe durch die Spenden von Metro-Märkten rund um den Globus. "Ich war beeindruckt, wie sehr uns die Mitarbeiter aller Länder unterstützt haben", sagt Vdovychenko. Sogar Metro in Japan hat einen Fonds eingerichtet.
Die wichtigste Hilfe leistet der Konzern jedoch dadurch, dass er die Märkte offen hält. Für viele Ukrainer lebenswichtig ist auch die Präsenz des Medizinkonzerns Fresenius Medical Care. Der Großteil der ukrainischen Mitarbeiter ist weiterhin vor Ort, sie sollen das Geschäft so gut es geht weiter betreiben und die Dialyseklinik in Cherkasy geöffnet halten. Zwei weitere Kliniken in den umkämpften Städten Charkiw und Tschernihiw hatte der Konzern trotz Bombardements über Wochen offen gehalten. Ende März sei es dann gelungen, die Patienten zusammen mit ihren Angehörigen zu evakuieren.
SCHUTZ VOR ATOMANGRIFFEN
Prettl-Manager Fadigati ist mittlerweile in der Fabrik in Chernivtsi angekommen. Am Eingang kommt ihm eine Einkaufsmanagerin entgegen. "Wie geht es deinem Mann", fragt Fadigati sie. Er weiß, dass er einberufen wurde und nun an der Front kämpft. "Gestern hat er sich gemeldet. Es geht ihm gut", antwortet sie. Alle zwei Tage dürfen die ukrainischen Soldaten sich in der Regel bei ihren Familien melden. Nur wo sie kämpfen, dürfen sie nicht erzählen. "Er wird zurückkommen. Er weiß, dass ich ihn sonst umbringe", sagt die Mitarbeiterin.
Jeder in der Fabrik geht anders damit um, dass der Krieg ihnen jede Sekunde alles rauben könnte, was ihnen wertvoll ist: den Mann, die Eltern, die Kinder, das eigene Leben. Manche überspielen es. Doch die Anspannung und der ständige Raketenalarm haben sich tief in die Gesichter gegraben. Fast alle haben schwarze Ringe unter den Augen. Viele wollen und können nicht darüber sprechen, wie sie die Situation erleben.
Manager Fadigati steigt über endlose Treppen in den Keller unter der Fabrik. Mit jedem Stockwerk wird die Luft kühler, das Licht fahler, der Geruch muffiger. Fadigati windet sich durch eine Tür aus massivem Stahl, dem Eingang zum Bunker. Errichtet im Kalten Krieg, soll der selbst atomaren Angriffen standhalten können.
"Ich hätte niemals in meinem Leben gedacht, dass wir diesen Bunker brauchen würden", sagt Fadigati. Doch seit dem 24. Februar weiß er es besser. Mitarbeiter und Nachbarn rennen nun fast täglich in den Keller, harren bis zu zweieinhalb Stunden aus, während oben Sirenen heulen. Weder in Chernivtsi noch in Kamianets-Podilskyi sind bislang Raketen eingeschlagen. Im näheren Umkreis schon.
Mitarbeiter, die ihre Familien ins Ausland bringen wollten, hat Fadigati unterstützt, in seinem Seat hat er Frauen und Kinder über die Grenze gebracht. Wie oft er die Strecke gefahren ist, weiß er nicht mehr. Nur diese Szenen, wenn Männer sich von ihren Frauen und Kindern mitten auf der Straße vielleicht für immer verabschieden, die wird er wohl nie mehr vergessen. Die Zeit im Bunker versucht er indes so erträglich wie möglich zu gestalten. Letztens hatte er ein paar Kinderbücher dabei. "Die Menschen haben das Essen nicht angerührt, so sehr waren sie in die Zeichnungen versunken", sagt Fadigati.
Das größte Problem für sein Geschäft sieht er in den Lieferketten, er hat eine neue Taktik gefunden, um mit den Staus an der Grenze umzugehen. Statt Lkw setzt er nun Sprinter ein. "Damit können wir die Kabelbäume schneller über die Grenze bringen", sagt er. An den beiden Prettl-Werken will er festhalten. "Die Ukrainer werden ihr Land niemals aufgeben. Und wir werden diese Werke niemals aufgeben." Fadigati bereitet schon die nächste Fahrt nach Rumänien vor. Auch wenn Lebensmittel und Medikamente ausreichend vorhanden sind, muss er einige Dinge holen. Ganz oben auf der Liste: Kinderbücher.