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Wiederholt die EZB historische Fehler

von Michael Rasch
Neue Zürcher Zeitung vom 13.04.2022

Der Artikel diskutiert die aktuelle Situation und Handlungsperspektiven von EZB und Fed angesichts schwächelnder Konjunktur und steigender Inflation im historischen Vergleich mit der Ölkrise der 1970er Jahre. Zentrale Interviewpartner sind der Wirtschaftsprofessor Ernst Baltensperger und der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl.

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Wiederholt die EZB historische Fehler

Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit 41 Jahren nicht mehr. Zuvor hatte das Geld nur in den 1970er Jah ren sowie Anfang der 1980er Jahre noch schneller an Wert verloren. Damals trieben der Jom-Kippur-Krieg (1973) und der Erste Golfkrieg (1980) die Erdölpreise auf Rekordwerte – und Energie gehört zu den wichtigsten Komponenten der Inflation. Ist die heutige Situation, mit der auch durch den Ukraine-Krieg immer stärkeren Teuerung, mit der damaligen vergleichbar? Und was können Währungsbehörden wie die Europäische Zentralbank (EZB) aus dem Geschehen vor 50 Jahren lernen?

Enormer Finanzierungsbedarf

Es gebe vor allem eine zentrale Parallele, sagt Ernst Baltensperger, der als Wirtschaftsprofessor über Jahrzehnte die Geldpolitik der Schweiz mitgeprägt hat. Auch damals habe es vor dem starken Anstieg der Inflation ein Jahrzehnt mit einer extrem expansiven Geldpolitik gegeben, die auf Dauer nicht mit Preisstabilität vereinbar war. Die grosse Inflation der 1970er Jahre habe nicht mit den Erdölschocks 1973 und 1979 begonnen, sondern vor allem in den USA bereits zehn Jahre zuvor.
«Die US-Notenbank, das Fed, stand damals unter starkem Druck der Regierung, die Zinsen niedrig zu halten», sagt Baltensperger. Die Administration unter Lyndon B. Johnson habe wegen der grossen Sozialprogramme und des eskalierenden Vietnamkriegs einen enormen Finanzierungsbedarf entwickelt.
Das Fed habe dem Druck der Regierung zu niedrigen Zinsen viel zu lange nachgegeben, weshalb die Inflation in den USA bereits 1970 gut sechs Prozent betragen habe. Die Erdölschocks hätten diese dann noch befeuert. Entscheidend für die ausser Kontrolle geratene Inflation war laut Baltensperger jedoch die Geldpolitik, die ein ideales Umfeld für eine Inflationsspirale geschaffen habe.
Aus der Sicht von Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker an der London School of Economics, war der Auslöser der hohen Teuerung vermutlich ein Cocktail mehrerer Dinge, ohne dass man eine Hauptursache benennen könne. Der monetäre Treibsatz seien die Ungleichgewichte im Wechselkurssystem von Bretton Woods und in der Tat die allgemein als zu expansiv angesehene Geld- und Fiskalpolitik in den USA gewesen. Wissenschaftlich werde noch heute diskutiert, ob die Inflation der 1970er Jahre eher eine monetäre Folge oder eine Folge das Erdölpreisschocks gewesen sei.

Der Krieg als Ausrede

Nach Europa ist die Inflation in den 1970er Jahren deshalb geschwappt, weil es zur damaligen Zeit des Bretton-Woods-Systems noch feste Wechselkurse gab. Die expansive Geldpolitik der USA hat sich über die fixen Devisenkurse auf die ganze westliche Welt ausgebreitet. Das Vertrauen in den Dollar als Reservewährung war zu der Zeit angeschlagen, weshalb viel Kapital nach Deutschland und noch mehr in die Schweiz floss. Das waren damals wie heute die Länder, die als stabilitätsbewusst und inflationsavers bekannt waren.
«Heute blicken wir auch wieder auf ein Jahrzehnt zurück, in dem sowohl in den USA als auch in der Euro-Zone eine viel zu expansive Geldpolitik betrieben wurde», sagt Baltensperger. Auch jetzt habe die Inflationsdynamik nicht mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine begonnen, sondern schon vorher eingesetzt. Die EZB würde den Krieg als Ursache nun zu ihrer Entschuldigung überbetonen.
In den 1970er Jahren haben aus der heutigen Sicht vieler Beobachter die US-Notenbank, die Bank of England und viele andere Zentralbanken viel zu spät auf die hohe Teuerung reagiert und damit einen historischen Fehler begangen. Lediglich die Deutsche Bundesbank und die Schweizerische Nationalbank (SNB) hätten sich damals schnell und ernsthaft gegen die Inflation gestemmt, heisst es. «Das ist ungefähr die Erzählung, die wir auch unseren Studenten überliefern», sagt Ritschl. Doch auch in Ländern des Deutschmark-Blocks habe es damals einen Inflationsschock gegeben, und die Inflation habe sich zäh und persistent gehalten.
Diese Einschätzung teilt auch Baltensperger. «Für mich ist ganz klar, dass die Bundesbank und die SNB viel besser reagiert haben. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems hätten die Zentralbanken neu lernen müssen, wie man im Papiergeld-System agieren und mit Inflation umgehen müsse.
«Die Bundesbank und die SNB haben viel schneller begriffen, dass die damals hohe Inflation nur mit einer klar restriktiven Geldpolitik wieder unter Kontrolle gebracht werden konnte», sagt Baltensperger. Doch diese Politik sei nicht kostenlos gewesen, denn es habe einen deutlichen Wirtschaftseinbruch gegeben, der allerdings zum Teil durch die Erdölkrise bedingt gewesen sei.
Beide Länder hätten jedoch einigermassen schnell, in ein paar Jahren, die Inflation wieder auf einen stabilitätskonformen Wert zurückgebracht, sagt Baltensperger. Die US-Notenbank habe dagegen zehn Jahre länger benötigt, und alle anderen Zentralbanken auch. Beim Gegensteuern habe das Fed immer wieder den Mut verloren, bis schliesslich Paul Volcker das Zepter beim Fed im Sommer 1979 übernommen habe. Letztlich sei den USA eine sehr restriktive Geldpolitik also auch nicht erspart geblieben, man habe nur zehn Jahre mit einer Stagflation vergeudet. Erst Volcker habe die Inflationsdynamik dann mit drakonisch hohen Zinsen gebrochen.
Ritschl tut sich mit der Frage schwerer, ob nun das Fed oder die Bundesbank vor knapp 50 Jahren eine bessere Politik betrieben haben: «Ich zögere, weil es nicht ganz sicher ist, ob die Politik der Bundesbank wirklich schärfere reale Wirkungen hatte oder nicht, denn zur Geldpolitik kamen Sonderfaktoren hinzu.» Dazu zählten das Ende des schnellen westdeutschen Nachkriegswachstums und das Sinken der damals hohen Produktivitätszuwächse bei zugleich weiter deutlichem Lohnwachstum. So habe es vielleicht anfänglich nicht eine Lohn-Preis-Spirale, sondern eine Lohn-Produktivitäts-Spirale gegeben. Doch sei der monetäre Mantel in der falschen Erwartung weiterhin hohen Wirtschaftswachstums durch die Notenbanken zu gross geschnitten gewesen, räumt Ritschl ein.
Was kann man aus dem Geschehen der 1970er Jahre für die Gegenwart ableiten? Die EZB und das Fed hätten lernen können, dass Geldpolitik vorausschauend handeln müsse, weil sie mit Verzögerungen wirke, sagt Baltensperger. Wenn die Inflation bereits da sei, sei es schon zu spät. Die Notenbanken hätten sich zu lange der Illusion hingegeben, dass Inflation jederzeit leicht wieder eingedämmt werden könne. Ferner hätten sie lernen können, dass eine kluge Politik sich immer einen gewissen Spielraum bewahrt, damit man im Ernstfall handlungsfähig bleibt. «Es ist für mich eigentlich unverzeihlich, dass diese Einsichten von der EZB und dem Fed während Jahren in den Wind geschlagen worden sind», sagt Baltensperger.

«Normalisierung genügt nicht»

Heute sei die Situation durch die hohe Staatsverschuldung und auch die hohen privaten Schulden sehr schwierig, räumt er ein. Die Zentralbanken seien deswegen fast gezwungen, vorsichtig vorzugehen. Sie müssten aber jetzt endlich reagieren. Inzwischen genüge jedoch eine Normalisierung nicht mehr.
Die Inflation liege in den USA und in der Euro-Zone um fünf bis sechs Prozentpunkte über dem Zielniveau der Notenbanken. Den neutralen Zins, bei dem die Geldpolitik weder expansiv noch restriktiv ist und den man nur schätzen kann, verortet Baltensperger bei rund zwei Prozent. Solange der Leitzins der EZB von –0,5 Prozent noch unter dem neutralen Zins liege, sei die Geldpolitik weiter expansiv. Zudem habe die Notenbank noch nicht einmal ihr Wertpapierkaufprogramm beendet. Die EZB fahre gleich einem Ozeandampfer mit vollem Tempo auf einen gut sichtbaren Eisberg zu und überlege noch, ob man vielleicht morgen etwas weniger Kohle ins Feuer schaufeln sollte. Dabei müsste sie angesichts der hohen Inflationsrate eine restriktive Geldpolitik fahren.
Es sei der Fluch der Fehler der Vergangenheit, dass EZB und Fed jetzt gezwungen seien, sehr vorsichtig vorzugehen. «Sie können nun die Zinsen nur sachte erhöhen, weil sonst die Gefahr besteht, das Finanzsystem zu destabilisieren», konstatiert Baltensperger.
Natürlich könne man nicht bezweifeln, dass mit der Wiederannäherung an die Vollbeschäftigung in Europa nach dem Ende der Corona-Krise die Gründe für die ultraleichte Geldpolitik der Vergangenheit schwächer geworden sein könnten, ergänzt Ritschl, der die Politik der EZB während der Finanzkrise stets mit einem gewissen Wohlwollen verfolgt hat. «Machen wir uns mal ehrlich», sagt Ritschl, «was hätte sie in der Krise denn sonst tun können? Eine Katastrophenpolitik wie in der Finanzkrise 1931? Doch nicht wirklich.»

Viel monetäres Brennmaterial

Nach dem Ende der Krise seien aber das starke Beharren auf einer ultraleichten Geldpolitik und das Zögern beim Ausstieg Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das immer kritisiert hätten. «Jetzt erinnert es schon etwas an Friedrich August von Hayeks Waldbrandtheorie der Krise. Man hat jahrelang nicht durchforstet, und es hat sich viel totes Holz angesammelt, monetäres Brennmaterial.
Wenn das erst mal in Brand gerät, wird es mit dem Löschen schwierig.» Unterstützer der EZB und der lockeren Geldpolitik wenden oft ein, dass eine Notenbank mit Zinserhöhungen nur die Nachfrage bremsen, aber nicht das derzeit fehlende Angebot erhöhen oder die gestörten Lieferketten reparieren könne. Beide Faktoren trügen gegenwärtig zur hohen Inflation bei.
Das sei zwar richtig, sagt Ritschl, es heisse aber nicht, dass eine restriktive Geldpolitik wirkungslos wäre. Die Folge wäre vielmehr, dass sie unter Umständen in eine Rezession hineinführe. Wenn man also das Argument der EZB dechiffriere, sei sie nicht bereit, reale Anpassungseffekte durch einen Wirtschaftsabschwung in Kauf zu nehmen, um die Inflation zu senken. Im Vergleich zur alten Linie der Bundesbank, meint Ritschl, sei das schon eine gewaltige Kehrtwende.
Natürlich dürfe man auch die inflationäre Versuchung nicht übersehen, die in der Verbindung aufgeblähter Preise von Vermögenswerten und einer mancherorts noch immer kritisch hohen Staatsverschuldung läge. «Da werden manche Zentralbankiers heimlich denken, so ein bisschen Anpassungsinflation ist doch vielleicht gar nicht schlecht», meint Ritschl. Denn sie verheisse einen politisch bequemen Ausweg aus dem jetzigen Stabilisierungsdilemma, allerdings eben auf Kosten all derer, die sich auf stabile Preise verlassen hätten.
Auch Baltensperger sieht die EZB im Dilemma zwischen hoher Inflation und schwacher Konjunktur. «Es wäre fatal, wenn die Zentralbanken die Inflationsdynamik nicht brechen würden», sagt er. Die EZB müsse und werde wohl auch reagieren. Das Fed habe die Wende eingeleitet, wenn auch zu spät, aber immerhin. Er hoffe, die EZB werde, wie fast immer, mit einer gewissen Verzögerung der Politik des Fed folgen. Er sei aber eher pessimistisch. Die EZB scheine immer noch die Hoffnung zu haben, dass die Inflation von allein verschwinde, also der Eisberg schmelze. «Wir werden wohl noch während geraumer Zeit mit erhöhter Inflation leben müssen.»