Wie hältst du's mit Russland?
von Stefanie Diemand
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.04.2022
Unternehmen, die nach der Ukraine-Krise ihr Russlandgeschäft nicht aufgeben, sehen sich moralischer Kritik und Boykottaufrufen in den westlichen sozialen Medien ausgesetzt. Der Artikel untersucht, inwieweit diese Kritik vereinfachenden moralischen Kategorien entspringt. Konsequenzen einer Unternehmensschließung seien u. a. Zwangsverstaatlichung, Arbeitslosigkeit oder Gefängnisstrafen für Beschäftigte.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Wie hältst du's mit Russland?
Für Jeffrey Sonnenfeld ist der Fall ganz klar. Der Management-Professor an der amerikanischen Universität Yale erlebt, das sagt er selbst, gerade seine 15 Minuten Ruhm. Sonnenfeld veröffentlichte kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine Liste darüber, welche westlichen Unternehmen sich aus Russland zurückgezogen haben - und welche nicht. Diese sorgt für reichlich Gesprächsstoff, das weiß auch Sonnenfeld. Die "Liste der Schande“, wie sie häufig genannt wird, führte zu zahlreichen Medienanfragen, Gastbeiträgen und Interviews mit renommierten Medien aus aller Welt. Mit seiner Meinung hält Sonnenfeld sich nicht zurück, im Gegenteil: „Wenn Unternehmen Russland nicht boykottieren, boykottieren Sie die Unternehmen“, endet ein Meinungsstück von Sonnenfeld in [anderes Medium].
Nach Sonnenfeld gibt es für Unternehmen in Russland wegen des Ukrainekriegs nur eine richtige Entscheidung: sie müssten das Land sofort verlassen. Aber stimmt das wirklich? Mehr als 600 Unternehmen haben bisher den Rückzug angetreten - während einige pausieren, wollen andere dem Land ganz den Rücken kehren. Doch andere bleiben - bis heute. Unternehmen wie Metro, Globus oder Liebherr.
Es ist nicht einfach, Unternehmen zu finden, die offen darüber sprechen, warum sie in Russland bleiben. [Das Medium] hat alle Unternehmen angefragt, die laut Liste der Yale-Universität (Stand: 13. 4.) von Sonnenfeld noch in Russland aktiv sind, darunter zum Beispiel Molkereien wie Ehrmann und DMK Group, Modeunternehmen wie etwa New Yorker, Maschinenbauer wie Liebherr oder Gea, Händler wie Metro oder Globus. Von manchen kam bis Redaktionsschluss keine Antwort. Unternehmen wie Ehrmann gaben zwar eine Rückmeldung, jedoch nur mit der Bitte um Verständnis, dass das Unternehmen sich nicht äußern möchte. Ein anderes, Lebensmittelhersteller Carl Kühne, äußerte sich [in anderem Medium II]. Nun heißt es von dessen Pressestelle, wegen der „Komplexität der Gesamtsituation“ wolle das Unternehmen derzeit nichts sagen.
Einer, der sich äußert, ist Stefan Klebert vom Maschinenbauer Gea. Der Unternehmenschef erklärt auch gleich, weshalb andere sich wohl lieber zurückhalten: „Von Unternehmen und CEOs wird zunehmend erwartet, dass sie zu gesellschaftspolitischen Themen Stellung beziehen“, sagt er. Doch richtig geführt werde die Diskussion nicht: „Mit Blick auf die vergangenen Jahre fällt mir jedoch auf, dass viele Meinungen, die konträr zur momentan vorherrschenden Stimmungslage sind, nicht respektiert werden.“ Das scheinen auch andere so zu sehen: Am Telefon sagt ein Unternehmenssprecher, der nicht namentlich genannt werden möchte, er würde mit Argumenten nicht mehr weiterkommen. Schon jetzt sehe das Unternehmen sich Boykottaufrufen ausgesetzt.
Und hier liegt wohl die Krux, weshalb Unternehmen bei der Russlandfrage die Öffentlichkeit scheuen: Denn dass Kunden Unternehmen bestrafen, die nach wie vor in Russland sind, zeigen Fälle wie Ritter Sport deutlich. Weil der Schokoladenhersteller zunächst weiter Waren nach Russland liefert, rollte eine Welle der Empörung über das Unternehmen. „Ritter Sport sei Mord“ oder „Quadratisch; Praktisch; Blut“ - lauten die Claims in den sozialen Medien. Ritter Sport erklärte, dass eine Beendigung der Geschäfte dazu führen würde, dass die Produktion sich drastisch verringere. Dies hätte Auswirkungen auf Mitarbeiter und schlussendlich auch auf die Kakao-Bauern, die selbst aus Entwicklungsländern kommen. Auch als Ritter Sport versprach, den Gewinn zu spenden, endeten die Boykottaufrufe nicht.
Das droht - zumindest laut Umfragen - auch anderen: Drei von vier Befragten in einer Bitkom-Umfrage (77 Prozent) wollen ihre Kaufentscheidungen davon abhängig machen, wie sich Unternehmen im Ukrainekrieg positionieren. Und das bedeutet hier, wer in Russland Geschäfte macht, positioniert sich laut Kunden falsch - und wird dafür bestraft.
Wer sich die Meinungen in den sozialen Medien anschaut, gewinnt den Eindruck, es gehe den Kritikern vor allem um eines: die richtige moralische Entscheidung. Dass Konzerne sich auch zu gesellschaftlich relevanten Themen positionieren, ist nicht neu, sei es zu Nachhaltigkeit, Frauen in Führungspositionen oder Rassismus. Soziale Verantwortung ist hier das Stichwort. Schon im Jahr 1953 veröffentlichte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Howard R. Bowen ein Buch mit dem Titel „Social Responsibilities of the Businessman“ (Soziale Verantwortung des Unternehmers). Damit begründete er ein Konzept, mit dem sich heute so gut wie alle Unternehmen auseinandersetzen, die gesellschaftliche Unternehmensverantwortung (CSR). Bowen beschreibt darin die große Macht, die Unternehmen besitzen, und den Einfluss der Akteure auf die Gesellschaft. Damit war eine Haltung geboren, die im Laufe der Zeit noch in vielen Publikationen zur Sprache kommt. Heute würde wohl keiner den Einfluss von Unternehmen auf die Gesellschaft bestreiten. Doch was bedeutet das für die Debatte um einen Exit der Unternehmen?
„Moralische Selbstgewissheit ist kein verlässlicher Wahrheitsindikator“, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Pies in einem wissenschaftlichen Beitrag. Dieses richtet sich an andere Wirtschaftsethiker, die den Rückzug der Unternehmen aus Russland fordern. Die Debatte beschreibt Pies als emotionalisierend, das führe zur „Gefahr, das an sich begrüßenswerte Gerechtigkeitsstreben primär als Selbstgerechtigkeit auszuleben.“ In einer E-Mail erklärt Pies, dass es sowohl für die Entscheidung, in Russland zu bleiben, wie auch für die, den Rückzugang anzutreten, Argumente gebe, „jeweils mit guten Gründen und moralischen Motiven“. Auch Bowen legte schon vor knapp 70 Jahren Wert darauf, dass Unternehmen bei ihren Entscheidungen immer auch die Auswirkungen betrachten. Die Auswirkungen spielen auch für den Gea-Geschäftsführer eine wichtige Rolle: „Wir sind davon überzeugt, dass ein Stopp unserer Geschäftsaktivitäten nicht die treffen würde, die für den Krieg verantwortlich sind.“ In Russland stellt der Konzern Maschinen für die Produktion von Grundnahrungsmitteln und pharmazeutischen Anwendungen her. Würde er die Produktion stoppen, würden es „viele unschuldige Menschen zu spüren bekommen“. Also seine Mitarbeitenden, deren Familien und die Zivilbevölkerung. Auch Liebherr bleibt weiter in Russland. „Weder unsere Kunden noch unsere Beschäftigten tragen eine persönliche Verantwortung am Krieg in der Ukraine“, heißt es von einem Sprecher.
Wie Liebherr argumentiert Supermarkt Globus mit seiner Verantwortung vor Ort: Globus erzielt 14,8 Prozent seines Umsatzes in Russland, beschäftigt mehr als 10 000 Mitarbeiter. Meist Verkäuferinnen und Kassiererinnen, „also ganz normale Menschen, die nicht zur Elite des Landes zählen“, heißt es aus der Pressestelle. „Würden wir schließen, wären diese vielen Menschen auf einen Schlag arbeitslos und gerieten in eine persönliche Notsituation.“ Zudem beträfen die Schließungen auch Mitarbeiter in Deutschland oder Tschechien. Auch glaubt die Sprecherin von Globus, dass ein Rückzug noch deutlich weitreichendere Folgen hätte: Es bestehe die Gefahr einer Zwangsverstaatlichung. „Da wir weitestgehend lokale Waren vor Ort handeln und kaum Abhängigkeiten in den Lieferketten nach Deutschland bestehen, wäre damit nichts gewonnen.“ Das Gegenteil sei der Fall: „Dem russischen Staat würden erhebliche Vermögenswerte zufallen.“
Von Zwangsverstaatlichung und Enteignung sprechen mehrere Unternehmen, wenn auch die wenigsten so offen wie Globus. Andere sprechen von möglichen Gefängnisstrafen der lokalen Geschäftsführer, wenn diese ihre Produktion oder Ladengeschäfte schließen würden. Wie real die Gefahr der Enteignung ist, zeigte in dieser Woche die Baumarktkette Obi: Die Tochtergesellschaft des Tengelmann-Konzerns verschenkte 27 Filialen in Russland an einen russischen Investor - auch um einer Enteignung zu entgehen, die Tengelmann-Chef Christian Haub schon vor mehreren Wochen in einem Interview fürchtete. Genau aus diesem Grund hält der französische Konkurrent Leroy-Merlin weiter an seinen Geschäften fest. Schließungen würden den Weg für eine Beschlagnahmung öffnen, der Umsatz dann dem russischen Staat zugutekommen.
Dass sie Kritik dafür bekommen, scheinen manche Unternehmen besser zu akzeptieren als andere: Metro, die schon seit Beginn des Krieges auf ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern und der russischen Bevölkerung pocht, bekam sogar schon Kritik aus den eigenen Reihen: Eine ukrainische Metro-Mitarbeiterin klagte den Konzern an, weil er weiter Geschäfte mit Russland machte. „Wir können verstehen, dass es Menschen gibt, darunter auch ukrainische Kolleginnen und Kollegen, die unsere Sicht nicht teilen“, heißt es aus der Pressestelle. „Sie haben ihre Kritik in den vergangenen Wochen deutlich und teils sehr emotional geäußert. Wir respektieren ihr Anliegen, halten unsere Gründe aber nach wie vor für valide.“ Auch Metro will aufgrund der Grundversorgung der Bevölkerung und ihrer Mitarbeiter vor Ort in Russland bleiben.
Aber was ist nun eigentlich richtig? Für Pies ist der Beziehungsabbruch im Einzelfall „sicherlich respektabel“, aber eben nicht die alternativlos einzige Option, mit der Unternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden können. Natürlich könnten westliche Unternehmen „nicht einfach ein unbekümmertes 'Weiter so' leben“, wenn sie in Russland tätig sind. „Aber auf freiwilliger Grundlage muss jedes Unternehmen selbst entscheiden, was es tun kann“, sagt er. Und er sagt klar: „Aber wenn man der Meinung ist, dass Sanktionen sinnvoll sind, dann muss man das politisch entscheiden und damit für die Unternehmen kollektiv verbindlich machen.“