Wer soll das bezahlen?
von Mark Schieritz, Kerstin Kohlenberg und Wolfgang Uchatius
Die Zeit vom 02.03.2022
Am Beispiel Bier stellt der Artikel den Einfluss aktuell steigender Energiekosten auf die Inflation dar. Allgemeiner wird der Zusammenhang zwischen Nachfrage, Produktion, Inflation und Lohn-Preis-Spirale erläutert, auf historische Fehler im Umgang mit Inflation aufmerksam gemacht und der Vorschlag einer fairen Lastenverteilung mittels Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie vorgebracht.
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Wer soll das bezahlen?
Im Bier ist Holz, obwohl man Holz nicht trinken kann. Im Bier ist Kunststoff und Blech und Aluminium. Auch Glas ist im Bier und Strom und Papier. All das begreift man auf diesem Fabrikgelände am Ufer der Weser in Bremen, das der Brauerei Beck & Co. gehört, die hier seit fast 150 Jahren Bier herstellt, das sie seit fast genauso langer Zeit in grünen Flaschen unter dem Namen Beck’s verkauft. Aber man begreift es nicht sofort, nicht am Anfang. Denn da steht Gunnar Zinke in einem von drei Sudhäusern neben einem von zwölf riesigen Kupferkesseln und spricht davon, dass im Bier nichts ist. Außer Hopfen, Malz, Hefe und Wasser.
Zinke ist der Brauereichef, ein 58-jähriger Maschinenbauingenieur mit Zusatzausbildung zum Verkoster. Wolle man gutes Bier machen, sagt er mit Brauerstolz, dann gelte: »Man muss schmecken. Man muss riechen.« Zinke ist darauf trainiert, nicht nur Bier zu schmecken und zu riechen, sondern auch das, was Bier werden soll: zum Beispiel den Malzbrei, mit dem die Produktion beginnt. Zinke leuchtet mit einer Lampe in den Kessel, in dem ein meterlanger Rührflügel Malz und Wasser vermischt. Der Brei wird erwärmt, das Malz entfernt, später kommen Hopfen und Hefe hinzu, es wird gekocht und gefiltert, die Flüssigkeit muss gären und ruhen, das Ganze zieht sich über Tage und Wochen, das entstehende Bier wird erhitzt und gekühlt. Und damit, mit dem Kühlen und dem Erhitzen, ist man bei dem, was Gunnar Zinke als »aktuelles Problem« bezeichnet.
Energie in Deutschland: 67 Prozent teurer als vor einem Jahr. So hat es das Statistische Bundesamt berechnet.
Zinke hat das Sudhaus verlassen. Er hat sich kleine Schaumstoffstöpsel in die Ohren gesteckt, wegen des Lärms, und steht jetzt vor einer der zehn ratternden, zischenden Abfüllanlagen, in der jede Stunde 50.000 Flaschen über das Band laufen, 24 Stunden am Tag, außer am Wochenende. Die Flaschen werden gespült und geschrubbt, mit Bier gefüllt, mit Kronkorken verschlossen.
Kronkorken: 60 Prozent teurer.
Die Flaschen sind Mehrwegflaschen. Aber Mehrweg heißt nicht unendlich. Irgendwann kriegt Glas einen Kratzer, einen Sprung, eine abgeschlagene Stelle. In der Abfüllanlage prüft eine Maschine jede frisch gereinigte Flasche, untersucht sie auf Schäden, und wenn da einer ist, fällt die Flasche in einen Container. Die Brauerei muss regelmäßig Nachschub kaufen.
Flaschen: 10 Prozent teurer.
Es gibt bei Beck & Co. auch eine Abfüllanlage für Dosen. Wieder Fließband, wieder Hebearme, wieder Plastikschläuche. Wieder Kosten.
Aluminiumdosen: 15 Prozent teurer.
Und so geht es die ganze Zeit weiter bei diesem Rundgang mit dem Brauereichef durch seine Brauerei, bei dem man mit jedem weiteren Gebäude, jeder weiteren Halle, jedem weiteren Schritt besser versteht, was aus kaufmännischer Sicht alles einfließt ins Bier.
Etiketten: 10 Prozent teurer.
Bierkästen: 12 Prozent teurer.
Etikettenleim: 25 Prozent teurer.
Holzpaletten: 87 Prozent teurer.
Das Bierbrauen wäre also sehr viel günstiger, wenn im Bier tatsächlich nichts anderes wäre als Hopfen, Malz, Hefe und Wasser. Wobei: Das Malz ist auch im Preis gestiegen, sogar um 100 Prozent.
Und deshalb wird jetzt auch das Bier teurer.
Beck’s, Radeberger, Krombacher, Veltins – fast alle großen Biermarken erhöhen derzeit ihre Preise. So wie die Bäckereien, die Tankstellen, die Supermärkte, die Möbelhäuser, die Fahrradhändler, die Drogerien. Überall in Deutschland sind die Preise in den vergangenen Monaten gestiegen. Um 5,2 Prozent im November, um 5,3 Prozent im Dezember, um 4,9 Prozent im Januar, jeweils im Vergleich zum Vorjahr, für die kommenden Monate werden noch höhere Zahlen erwartet.
Noch viel stärker stieg der Gebrauch eines Wortes, das schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine überall zu hören und zu lesen war, in Talkshows, Radiosendungen, Zeitungen, und das sich nun in die Nachrichten von Panzerangriffen und Granateinschlägen mischt.
Inflation.
Inflation bezeichnet den Anstieg des Preisniveaus über einen bestimmten Zeitraum. Es ist ein diagnostischer Begriff, nichts weiter, so wie der Luftdruck oder die Windrichtung. Aber über viele Jahrzehnte hat sich die Vorstellung davon, was er bezeichnet, aufgeladen mit anderen Begriffen wie Verarmung, Wohlstandsvernichtung und Wirtschaftskrise. Mit Bildern aus den 1920ern, als in der Weimarer Republik die Leute mit Wäschekörben voller Geldscheine durch die Straßen liefen, weil das Geld nichts mehr wert war und die Ersparnisse eines ganzen Jahres kaum für einen Einkauf reichten. Oder aus den 1970ern, als die gestiegenen Preise in der Bun-desrepublik zur ersten Rezession der Nachkriegszeit führten und die Menschen erstmals in Schlangen vor den Arbeitsämtern standen.
Und heute? Woher rührt die Inflation dieses Winters? Woran liegt es, dass seit Monaten alles teurer wird, und welche Rolle spielt der Krieg in der Ukraine? Wie weit werden die Preise noch steigen? Wer sind die Verlierer der Inflation? Und: Gibt es womöglich auch jemanden, der davon profitiert?
Es gibt zumindest jemanden, der das alles hat kommen sehen. Und nicht nur einen.
Dirk Müller arbeitete früher als Börsenmakler auf dem Parkett der Frankfurter Börse. Dort hängt eine große Kurstafel mit der aktuellen Entwicklung des Deutschen Aktienindex, eine zackige graue Linie, die oft in den Zeitungen zu sehen ist. Müllers Arbeitsplatz war genau unter der Kurstafel, und er war sehr geschickt darin, ein zur Lage passendes Gesicht zu machen. Stiegen die Kurse, lachte er, fielen die Kurse, runzelte er die Stirn. Das machte sich gut auf den Bildern. Müller wurde viel fotografiert, später auch viel befragt, zu seiner Meinung, seinen Pro-gnosen. 2009 schrieb er das Buch Crashkurs, vier Jahre später folgte Showdown. Müller warnt seit Langem vor einer herannahenden Inflation. Und er hat auch gleich eine Lösung für die sichere Geldanlage parat: den von ihm selbst aufgelegten Investmentfonds »Dirk Müller Premium Aktien«.
Marc Friedrich nennt sich »Deutschlands erfolgreichster Sachbuchautor«. Friedrich, ein studierter Betriebswirt, hat nach eigenen Angaben für verschiedene Unternehmen im Ausland gearbeitet und im Jahr 2001 den Staatsbankrott in Argentinien miterlebt. Später hat er mehrere Bestseller veröffentlicht, in denen es um Geldanlage, Vermögensentwicklung und die Weltfinanzmärkte geht, vor allem aber um den großen Crash und wann er kommt. Schon vor sieben Jahren prognostizierte Friedrich, die Inflation werde »auf breiter Basis über uns hereinbrechen«. Auch Friedrich verwaltet einen Investmentfonds, das Geld seiner Kunden legt er in Sachwerten wie Wald, Diamanten oder Immobilien an.
Stefan Riße sagt von sich, er habe als Jugendlicher lieber [anderes Magazin] als [anderes Magazin II] gelesen. Nach dem Abitur arbeitete er als Wertpapierhändler, später als Börsenjournalist. 2009 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel Die Inflation kommt. Darin sagt er voraus, dass die Inflation kommt. Schon 2012 brachte er seinen eigenen Investmentfonds »Riße Inflation Opportunities« heraus.
Inflation bedeutet, dass die Preise steigen. Die Angst vor der Inflation bedeutet, dass die Umsätze steigen. Bei Verlagen, Vermögensverwaltern und Vortragsveranstaltern. Müller, Friedrich und Riße sind nur drei Beispiele für eine in den vergangenen Jahren sehr aktive Gruppe von Wirtschaftsexperten, die oft als »Crash-Propheten« bezeichnet werden und meistens drei Dinge gemeinsam haben. Erstens, sie verkaufen warnende Bücher. Zweitens, sie verkaufen angeblich sichere Geldanlagen. Drittens, sie wissen, wer schuld ist an der Inflation: die Europäische Zentralbank (EZB).
Die EZB nämlich »pumpt Billionen Euro ins System«, sagen sie. Billiges Geld. Viel zu viel davon. Und wenn es zu viel Geld gebe, dann verliere es an Wert. Dann stiegen die Preise, und man könne sich, zum Beispiel, für zehn Euro nicht mehr drei Bier kaufen, sondern nur noch zwei.
Demnach wäre es auch Alexander Duering, der die Inflation gemacht hat. Denn Duering ist einer der Menschen, die ihren Tag damit verbringen, Geld ins System zu pumpen. Er arbeitet in einem Großraumbüro, dem sogenannten Handelsraum, im siebten Stock des 45-stöckigen Sky-towers, der Zentrale der EZB im Osten von Frankfurt am Main. Es sieht dort ein wenig aus wie in diesen amerikanischen Börsenfilmen. Viele Bildschirme, viele Telefone und an der Wand eine große Digitaluhr, die die Zeit in Frankfurt, Tokio, Sydney, New York und London anzeigt.
Alexander Duering hat Theoretische Physik studiert und, bevor er zur EZB kam, für die Deutsche Bank gearbeitet. Duering ist Handballfan, er besitzt einen Ball mit der Originalunterschrift von Heiner Brand, dem einzigen Deutschen, der als Spieler und als Trainer Weltmeister wurde. Der Ball liegt neben dem Computerbildschirm, auf dem Duering jetzt ein Passwort eingibt, damit sich dort ein Fenster mit blauem Hintergrund und weißer Eingabemaske öffnet. Tradeweb heißt das Programm, man kann damit Wertpapiere kaufen, etwa Anleihen von Staaten. Wer eine Anleihe kauft, leiht dem entsprechenden Staat Geld, zum Beispiel Deutschland oder Italien. Die Anleihe kann dann anschließend weiterverkauft werden.
Tradeweb im Handelsraum der EZB funktioniert ganz ähnlich wie Online-Banking zu Hause. Alexander Duering tippt in die Eingabemaske, wie viele Staatsanleihen er kaufen will, und klickt einen grünen Knopf an. Dann erscheinen auf dem Bildschirm die Angebote der Banken, die solche Anleihen besitzen und bereit sind, sie zu verkaufen. Meistens sind das große Geldhäuser wie die Deutsche Bank in Frankfurt, die Unicredit Bank in Mailand oder PNB Paribas in Paris. Alexander Duering drückt noch einmal auf die Maustaste, und dann ist das Geschäft bestätigt. Die Anleihen gehen jetzt in das Eigentum der EZB über, und der Kaufpreis wird an die Bank transferiert. In manchen Monaten bezahlt die EZB für solche Käufe nicht weniger als 20 Milliarden Euro. Das ist der eine Unterschied zum Online-Banking zu Hause.
Der andere Unterschied liegt darin, dass man beim Online-Banking in der Regel Geld ausgibt, das man vorher selbst erarbeitet hat. Vielleicht hat man es auch geerbt oder geschenkt bekommen, auf jeden Fall war es schon da.
Das Geld, das Alexander Duering an die Banken überweist, hat vorher nicht existiert. Er hat es per Mausklick erschaffen, erzeugt, gemacht, wie immer man es nennen will. Früher hätte man gesagt, die EZB hat das Geld gedruckt, aber gedrucktes Geld spielt keine große Rolle mehr. Geld existiert heute in erster Linie elektronisch, als Zahl auf einem Bildschirm. Was sich nicht geändert hat: Die Zentralbank bringt neues Geld in die Welt. Das gehört zu ihren Aufgaben.
Wie viel Geld die EZB auf diese Weise erzeugt, legt der EZB-Rat fest, dem neben den Direktoriumsmitgliedern der EZB die Präsidenten der nationalen Zentralbanken angehören, also zum Beispiel der Deutschen Bundesbank, der Banque de France, der Banca d’Italia und der Nederlandsche Bank. Aus ihren Vorgaben erstellen Alexander Duering und seine Kollegen jeden Tag einen Einkaufszettel. Darauf steht, wie viele deutsche, französische, italienische oder niederländische Anleihen sie erwerben sollen.
Die EZB hat in den vergangenen Jahren Anleihen im Wert von 4836 Milliarden Euro gekauft. Sie hat also allein auf diese Weise 4836 Milliarden Euro ins System gepumpt. Während der Griechenland-Krise 2010 hat sie damit angefangen. Für die Crash-Propheten begann damals eine gute Zeit.
Dazu muss man sagen, dass es eine sehr ernst zu nehmende ökonomische Theorie gibt, wonach die Inflation tatsächlich von der jeweiligen Menge des umlaufenden Geldes bestimmt wird. Diese Theorie heißt Monetarismus. Der amerikanische Ökonom Milton Friedman entwickelte sie in den Sechzigerjahren und erhielt dafür 1976 den Wirtschaftsnobelpreis. Berühmt wurde Friedmans Satz: »Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.« Also ein Phänomen, das dadurch entsteht, dass zu viel Geld in die Welt gelangt.
So wie in der Weimarer Republik. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gab es Aufstände und Unruhen in Deutschland, Kriegsversehrte waren zu versorgen, Soldaten in zivilen Berufen unterzubringen, Reparationszahlungen an die Siegermächte zu leisten. Der ohnehin schon hoch verschuldete Staat brauchte Geld. Und produzierte es einfach selbst. Um ausreichend Banknoten drucken zu können, mietete die Reichsregierung 1800 Druckmaschinen an. Hätte damals irgendjemand ein Buch mit dem Titel Die Inflation kommt geschrieben, hätte man ihm zu seiner zutreffenden Einschätzung nur gratulieren können. Die Reichsregierung brachte immer mehr Scheine unter die Leute, für die sich diese Leute immer weniger kaufen konnten. Im Deutschland vom 1. November 1923 kostete ein Glas Bier vier Milliarden Mark. Am nächsten Tag noch mehr.
Im Europa des 21. Jahrhunderts brachte die EZB zwar ebenfalls immer mehr Geld in Umlauf, aber dennoch verlor der Euro kaum an Kaufkraft. Die Inflationsrate in Deutschland ging sogar zurück. Im Jahr 2011 lag sie bei 2,1 Prozent, 2012 waren es 2,0 Prozent, ein Jahr später 1,4 Prozent, 2014 nur noch 1,0 Prozent. In den Jahren danach schwankte die Preissteigerung zwischen 0,5 und 1,8 Prozent. Offenbar ist Inflation doch nicht immer und überall ein rein monetäres Phänomen.
Tatsächlich haben Ökonomen ihre Erkenntnisse längst erweitert. Demnach kommt es nicht so sehr darauf an, wie viel Geld eine Zentralbank entstehen lässt, sondern darauf, was anschließend mit diesem Geld geschieht. Angenommen, die EZB erzeugt eine Milliarde Euro, und diese Milliarde wird anschließend im Boden vergraben. Dann passiert gar nichts. In der Realität wird das neu geschaffene Geld natürlich nicht vergraben, aber es liegt zum Beispiel ungenutzt auf Bankkonten herum. Auch dann passiert nichts. Die Preise verändern sich nicht. Keine Inflation.
Anders verhält es sich, wenn neu geschaffenes Geld ausgegeben wird. Die Banken können es beispielsweise an Unternehmen verleihen, die damit ihre Angestellten bezahlen, die es dann wiederum in die Geschäfte tragen, für Kleider, Lebensmittel, vielleicht auch Bier. Das neu geschaffene Geld, so formulieren es Ökonomen, wird nachfragewirksam.
Ein Unternehmen, dessen Produkte stärker nachgefragt werden, kann seine Preise erhöhen. Es gibt ja genug Kaufinteressenten. Die Brauereien können dann mehr Geld für das Bier verlangen, die Mälzer mehr für das Malz, die Flaschenhersteller mehr für die Flaschen, die Kronkorkenhersteller mehr für die Kronkorken. Das ist das, was in Weimar geschah. Woraufhin die Reichsbank noch mehr Geld druckte. Und die Leute das Geld wieder ausgaben. Die Preise stiegen weiter.
Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit, wie Unternehmen auf zusätzliche Nachfrage reagieren können, sie ist sogar viel naheliegender: Die Firmen erhöhen nicht die Preise, sondern die Produktion. Dafür müssen sie allerdings neue Fabriken bauen und neue Arbeitskräfte einstellen. In der Weimarer Republik war das nicht möglich. Es herrschte praktisch Vollbeschäftigung, die Fabriken waren ausgelastet. Also blieb nur die Preiserhöhung.
In Europa war das in den vergangenen Jahren anders. Die Finanzkrise, die Euro-Krise, die Corona-Krise, sie alle haben Arbeitsplätze gekostet. Die Geldpolitik der EZB hat für zusätzliche Nachfrage gesorgt, aber die Unternehmen hatten keine Schwierigkeiten, diese Nachfrage zu erfüllen. Sie hatten keinen Grund, die Preise zu erhöhen. Sie konnten einfach mehr Leute einstellen. Also blieb die Inflation niedrig.
Im vergangenen Jahr dann fingen die Preise in Deutschland auf einmal an zu steigen. Aber liegt das an der EZB, den vielen Milliarden, die Alexander Duering in die Welt bringt? Interessanterweise ist die Gesamtnachfrage trotz der Geldpolitik der EZB nicht gestiegen. Im Gegenteil, in Deutschland sind die Investitionen der Unternehmen und die Ausgaben der Verbraucher 2021 sogar gesunken. Auch der Bierkonsum. Wenn die Brauereien jetzt trotzdem die Preise erhöhen, weil sie mehr Geld für das Malz, für die Bierkästen, die Glasflaschen, die Getränkedosen und die Heiz- und Kühlenergie ausgeben, dann kann es also nicht daran liegen, dass die Nachfrage nach Malz, Bierkästen, Glasflaschen, Getränkedosen besonders hoch ist.
Es muss andere Gründe geben.
Fangen wir mit dem Malz an. Malz ist nichts anderes als vorgekeimtes und getrocknetes Getreide, meistens Gerste. Anfrage beim Deutschen Mälzerbund: Warum ist das Malz so teuer?
Antwort: Erstens, das Keimen und das Trocknen benötigen Energie, und die Energiepreise sind gestiegen. Zweitens, auch der Gerstenpreis ist gestiegen.
Anfrage bei der BayWa in München, einem der größten Getreidehändler Europas: Warum ist der Gerstenpreis gestiegen?
Antwort: Vor allem wegen der schlechten Ernte im vergangenen Jahr, aber auch weil der Preis für Stickstoffdünger im Moment so hoch ist.
Anfrage beim Industrieverband Agrar, der Vereinigung der Düngemittelhersteller: Warum kostet der Dünger so viel?
Antwort: Die Produktion von Stickstoffdünger ist sehr energieaufwendig, es geht dabei um Temperaturen von 450 Grad, und die Energiepreise sind gestiegen.
Anfrage bei Pro-K, dem Verband der Hersteller sogenannter Halbzeugen und Konsumprodukte aus Kunststoff, wozu auch Bierkästen zählen: Warum sind die Bierkästen so teuer?
Antwort: Die Herstellung der Kästen ist sehr energieaufwendig, der Kunststoff muss geschmolzen und gepresst werden, und die Energiepreise sind gestiegen.
Und so geht es weiter. Bei den Flaschenherstellern, den Dosenherstellern, den Herstellern von Kronkorken. Mal ist von Lieferengpässen aufgrund der Pandemie die Rede, mal von knappen Kapazitäten bei Zulieferern, aber eben fast immer auch: von den gestiegenen Energiepreisen.
Am Ende des Rundgangs durch die Brauerei Beck hatte Gunnar Zinke ein turnhallengroßes Backsteingebäude betreten, in dem wieder Kessel standen, nur dass diese Kessel nicht aus Kupfer sind und dass darin kein Bier gebraut wird. »Das ist unser Kraftwerk«, hatte Zinke gesagt.
In den Kesseln ist Dampf, mit dessen Hilfe sie bei Beck Strom erzeugen. Den Dampf wiederum erzeugen sie mit Gas. Auch die Wärme für die Bierproduktion stammt aus Gas. Überhaupt wird ein Großteil der Energie, mit der deutsche Unternehmen ihre Produkte herstellen, aus Gas gewonnen, auch für das Malz, die Bierkästen und Glasflaschen.
Die deutsche Inflation ist also vor allem durch die hohen Energiepreise verursacht. Ökonomen nennen das eine Kostendruckinflation.
Aber warum ist das Gas so teuer geworden?
An der Glastür, die der Steuerungsingenieur Jörg Nacke in der Stadt Essen im Ruhrgebiet mit einem Magnetschlüssel öffnet, klebt ein großes rotes Stoppschild. Nacke betritt eine Art Schleuse, die Tür hinter ihm schließt sich leise, vor ihm ist wieder eine Glastür. Von dort geht der Blick in einen dunklen, nur durch das blaue Licht von acht großen Bildschirmen schwach erleuchteten Raum, in dem ein einzelner Mitarbeiter sitzt. Auf den Bildschirmen ist ein weitverzweigtes Netz aus blauen und grünen Linien zu erkennen. »Das deutsche Fernleitungsgasnetz«, sagt Nacke. 40.000 Kilometer lang, dreimal so lang wie das deutsche Autobahnnetz.
Nacke arbeitet für die Netzbetreibergesellschaft Open Grid Europe. Er ist verantwortlich dafür, dass das Gas dort ankommt, wo es bestellt und bezahlt wurde, und zwar zur verabredeten Zeit. Nacke und seine Mitarbeiter müssen die beste Route durch die Leitungen finden, und sie müssen darauf achten, dass das Gas auf seinem Weg durch Deutschland die richtige Fließgeschwindigkeit hat. Denn wenn das Gas auf langen Strecken zu langsam wird, bleibt es in der Röhre stecken. Sogenannte Verdichterstationen pressen das Gas zusammen und bringen es dadurch auf Tempo. Nackes Leute entscheiden, wann das nötig ist. Sie sind so etwas wie die Fluglotsen des Gases.
Auf einem der Monitore ist im Osten Bayerns, direkt an der deutsch-tschechischen Grenze, ein blauer Kreis zu sehen, Waidhaus heißt der Ort. Nur fünf Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammen aus Deutschland, der Rest kommt aus dem Ausland, an den sogenannten Entry-Points tritt das Gas ins hiesige Netz ein. Waidhaus ist so ein Entry-Point, hier kommt Gas von Deutschlands wichtigstem Lieferanten an. Russland. Wenn Nackes Mitarbeiter mit seiner Computermaus auf das Symbol des Entry-Points klickt, öffnet sich eine Maske mit vielen Zahlen. Eine lautet 2,5. Sie steht für die 2,5 Millionen Kubikmeter Gas, die auch jetzt, in diesen Kriegstagen, jede Stunde aus Russland durch die Pipeline Nord Stream 1 in Waidhaus ankommen. Das mag sich nach viel anhören, ist es aber nicht. So wenig Gas kam noch nie aus Russland an.
Langfristige Lieferverträge, meist über mehrere Jahre abgeschlossen, hält der russische Gasproduzent Gazprom weiterhin ein. Ein großer Teil des Gases jedoch wird in der Regel kurzfristig geordert, so können die deutschen Energieunternehmen ihre Einkäufe besser an den tatsächlichen Bedarf anpassen. Auf diesem kurzfristigen Markt bieten die Russen seit Monaten deutlich weniger Gas an als nötig. Es ist, als habe der russische Präsident Wladimir Putin gewissermaßen eine vorweggenommene Strafmaßnahme gegen Europa verhängt, lange bevor er mit der Invasion der Ukraine begann.
Schon seit Monaten also gibt es zu wenig Gas in Deutschland, und deshalb steigt sein Preis. Anfang Januar 2021 kostete eine Megawattstunde noch 19 Euro. Anfang Januar 2022 waren es 88 Euro. Derzeit liegt der Preis bei 98 Euro.
Der Krieg in der Ukraine wird ihn aller Voraussicht nach weiter in die Höhe treiben. Denkbar ist, dass Gasleitungen bei den Kämpfen beschädigt werden. Denkbar ist auch, dass Russland als Antwort auf die Sanktionen des Westens die Gasexporte weiter einschränkt. Oder sogar komplett unterbricht. Der Ölpreis ist ebenfalls gestiegen. Russland gehört auch zu den wichtigsten Ölexporteuren.
Ganz oben im Norden von Deutschland, an der ostfriesischen Küste, liegt nahe der Gemeinde Dornum ein weiterer Entry-Point. Das Gas, das hier ankommt, hat eine 658 Kilometer lange Pipeline am Grund der Nordsee durchquert, 24 Stunden braucht es dafür.
Das Gas kommt aus Norwegen. Genauer gesagt: aus Kårstø, einer Industrieanlage an der norwegischen Südküste. Dort steht die größte Gasraffinerie Europas, sie gehört dem Konzern Equinor, der sich mehrheitlich im Besitz des norwegischen Staates befindet. Ein riesiges Gewirr aus Leitungen, Säulen, Türmen und Tanks. Mittendrin ragt eine gelb gestrichene Röhre mit einem Durchmesser von 107 Zentimetern aus dem Erdboden. Es ist die Pipeline Europipe II. Hier verschwindet sie in der Nordsee, aus der sie bei Dornum wieder auftaucht.
Gas ist ein kompliziertes Produkt. Was aus den Gasfeldern an die Erdoberfläche geholt wird, ist immer ein Gemisch. Methan, Ethan, Propan. In Kårstø werden die Gassorten getrennt und für den Export vorbereitet. Mehr als 1000 Menschen arbeiten hier.
Wenn Deutschland nicht mehr genug Gas aus Russland bekommt und deshalb der Gaspreis zu hoch ist, dann könnte sich hier in Kårstø eine einfache Lösung des Problems bieten: Norwegen müsste die Ausfälle ausgleichen und einfach mehr Gas liefern. Nur dass das nicht so einfach ist.
Olav Badsvik, 56, ist der Leiter der Raffinerie, er ist sozusagen der Herr über die Tanks, Röhren und Säulen. Er sagt, er würde gerne mehr Gas nach Deutschland liefern. Aber: »Wir produzieren an der Kapazitätsgrenze.« Mehr geht nicht. Zwar reichen die norwegischen Gasvorräte noch mehrere Jahrzehnte, aber um mehr Gas in kürzerer Zeit aus der Erde zu holen, müsste man erst investieren: in Förderanlagen, Raffinieren, Pipelines. Ein Land zu überfallen geht schneller, als eine Gasleitung zu bauen.
Um mehr Gas liefern zu können, hat sich Olav Badsvik sogar schon einen Trick einfallen lassen: Seine Leute reichern in Kårstø jetzt leichtes Methan mit etwas schwererem Propan an. Sie panschen sozusagen das Produkt. Das erhöht die Energieintensität. Die deutschen Kunden können dann aus derselben Gasmenge mehr Wärme, mehr Strom gewinnen. Eine gute Idee, die aber bei Weitem nicht ausreicht, um die Lücke zu schließen.
Auch die Niederlande, auch die USA fördern Gas. Und auch dort reichen die Mengen nicht aus.
Es ist alles so ähnlich wie vor 49 Jahren.
Auch damals war Krieg. Am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, greifen Ägypten und Syrien israelische Stellungen auf den Golanhöhen und der Halbinsel Sinai an. Flugzeuge starten, Panzer rollen, die USA schicken Waffen nach Israel. Die arabischen Staaten werten dies als Einmischung und drosseln im Gegenzug die Erdölförderung. Sie haben begriffen, dass Rohstoffe Macht verleihen. Dass sich ein Preis in eine Waffe verwandeln lässt.
Plötzlich wird auf der Welt das Öl knapp. Der Preis schießt in die Höhe. Heizöl, Benzin und Kunststoffe verteuern sich. Mit dem Energiesicherungsgesetz vom 9. November 1973 tritt in der Bundesrepublik eine ungewöhnliche Sparmaßnahme in Kraft: An vier aufeinanderfolgenden Sonntagen wird das Autofahren verboten. In den Städten sind auf einmal Pferdekutschen und Rikschas unterwegs, auf den leeren Autobahnen gehen Familien spazieren. Die Inflationsrate steigt trotzdem, Ende 1973 liegt sie bei über sieben Prozent.
Heinz Kluncker beschließt, sich das nicht gefallen zu lassen.
Kluncker ist damals Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Er wuchs in Wuppertal auf, arbeitete nach dem Krieg zunächst als Polizist, im Jahr 1964 hat er mit nur 39 Jahren den Vorsitz der ÖTV mit ihren rund einer Million Mitgliedern übernommen. Kluncker argumentiert nun: Wenn die Preise steigen, dann müssen auch die Löhne steigen. Und zwar kräftig. Damit die Menschen sich das Leben noch leisten können.
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, ruft er seine Mitglieder zum Streik auf. Am 10. Februar 1974 beginnt der Ausstand: Busse und Bahnen bleiben in den Depots, Ämter geschlossen, der Müll wird nicht abgeholt. Nach drei Streiktagen ist Kluncker am Ziel. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes erhalten elf Prozent mehr Lohn und Gehalt. So läuft es in vielen Branchen. Die IG Metall zum Beispiel erstreitet ein Plus von 11,6 Prozent.
Aber die Arbeitnehmer können sich darüber nicht lange freuen. Denn die höheren Löhne bedeuten für die Unternehmen noch einmal höhere Kosten – so wie zuvor schon der gestiegene Ölpreis. Um diese Kosten auszugleichen, setzen sie erneut die Preise ihrer Waren nach oben. Die Inflation bleibt. Im März 1974 liegt sie bei 7,2 Prozent. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus, in den USA und in Großbritannien steigt die Inflationsrate auf jeweils mehr als 10 Prozent. Für die Gewerkschaften ist das ein Problem: Denn jetzt ist das Geld der Arbeitnehmer wieder weniger wert. Also setzen sie noch höhere Löhne durch. Daraufhin erhöhen die Unternehmen erneut ihre Preise, um die gestiegenen Lohnkosten auszugleichen.
Auch dafür gibt es in der Ökonomie einen Begriff: Lohn-Preis-Spirale.
Ob Brauerei, Autokonzern oder Spielwarenhersteller – fast jedes Unternehmen benötigt Energie. Deshalb fressen sich gestiegene Energiekosten, seien es höhere Gas- oder Ölpreise, durch die gesamte Volkswirtschaft. Wenige andere Preise sind so bedeutsam. Einer davon ist der Preis der Arbeit. Denn auch Arbeitskräfte braucht fast jedes Unternehmen. Wenn sich also Gas und Öl verteuern, dann lässt sich die Inflation dadurch bekämpfen, dass die Löhne sinken. Oder zumindest nicht zu sehr steigen. Aber was bedeutet das für die Arbeiter? Was bedeutet es für -Annette Schwarz und ihr Freizeitgläschen?
Annette Schwarz, 40, ist alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen im Teenager-Alter. Sie arbeitet halbtags als Küchenhilfe in einer der Kantinen des riesigen Volkswagenwerkes in Wolfsburg. Gerade ist ihre Schicht zu Ende, jetzt hat sie kurz Zeit, von ihrem Freizeitgläschen zu erzählen.
Es ist nämlich so, dass Annette Schwarz am Monatsende eigentlich immer ein paar Euro übrig hat, und die legt sie dann in dieses Gläschen. Wenn genug beisammen ist, geht sie mit ihren Töchtern Pizza essen oder ins Kino. Aber in den letzten Monaten blieb das Gläschen leer. Annette Schwarz dachte bereits, sie sei nachlässig mit ihrem Geld umgegangen. »Ich hab mir richtig Vorwürfe gemacht.«
Sie habe schon mehrere Leben geführt, sagt Annette Schwarz. Ein wohlhabendes vor der Scheidung, als sie sich Vollzeit um Kinder und Haushalt kümmerte. Eines mit Hartz IV nach der Scheidung und der Insolvenz ihres Ex-Mannes, der ein eigenes Unternehmen besessen hatte. Und das Leben, das sie jetzt führt, mit Job, aber dennoch wenig Geld. Seit einem Jahr arbeitet sie in der Werkskantine, 1400 Euro netto bekommt sie im Monat, plus 400 Euro Kindergeld, Unterhalt kriegt sie keinen. Nach Abzug von Miete, Heizung, Warmwasser, Versicherungen hat sie noch 600 Euro.
Und die reichen plötzlich nicht mehr.
Um zu sehen, wo das Geld geblieben ist, begann sie in den vergangenen Wochen die Quittungen in ihrem Haushaltsbuch zu vergleichen. Da merkte sie, dass sie nicht mehr oder anders eingekauft hatte als sonst. Das Freitzeitgläschen blieb leer, weil einfach alles teurer ist. Hat sie sonst für einen Wocheneinkauf 70 bis 80 Euro ausgegeben, sind es jetzt 100 Euro. Hat sie für die 600 Kilometer, die sie im Monat zur Arbeit und wieder nach Hause fährt, 70 Euro an Sprit bezahlt, sind es jetzt 90 Euro. Annette Schwarz berechnet ihren Stromverbrauch mit einer App, dort sieht sie, wie sie für die gleiche Menge Strom immer mehr bezahlt. »Was soll ich machen? Ich arbeite in der Küche und rieche nach Essen, wenn ich nach Hause komme. Da wäscht man seine Kleidung einfach häufiger.«
Und jetzt wurde ihr auch noch die Miete um zehn Euro erhöht. »Da bekommt man schon Angst. Was, wenn der Kühlschrank kaputtgeht oder das Auto?«
Annette Schwarz heißt in Wirklichkeit anders. Sie hat darum gebeten, in diesem Artikel ihren tatsächlichen Namen nicht zu erwähnen und auch nicht zu beschreiben, wie sie aussieht. Sie will nicht, dass Nachbarn oder Freundinnen der Töchter von ihren Geldproblemen erfahren. Diese Freundinnen bekommen viel mehr Taschengeld, als sie ihren Kindern bieten kann.
Annette Schwarz hat erst mal den Friseur gestrichen und kauft ihre Lebensmittel jetzt nach der Uhrzeit. Bei Lidl gibt es frisches Gemüse abends oft billiger. Sie kauft auf Vorrat, schnibbelt Paprika und Karotten klein und packt sie ins Tiefkühlfach. So spart sie wieder ein paar Euro.
Ihre Hoffnung liegt jetzt auf dem Herbst. Dann verhandeln Gewerkschaften und Arbeitgeber über die Lohnerhöhungen der rund vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie. Und obwohl Annette Schwarz in ihrer täglichen Arbeit eher mit Suppen und Soßen zu tun hat als mit Autos, gehört sie als VW-Angestellte ebenfalls zur Metallindustrie. »Vier oder fünf Prozent mehr wären wirklich toll«, sagt sie.
Der Mann, der ihr dabei helfen könnte, diesen Wunsch wahr werden zu lassen, hat ein Büro in der Frankfurter Innenstadt, von dort aus kann er den Skytower der EZB sehen. Jörg Hofmann, 66, ist Vorsitzender der IG Metall, der größten deutschen Einzelgewerkschaft. In diesen Tagen diskutiert er mit Betriebsräten und seinen Bezirkschefs über die Frage, welche Lohnforderung sie stellen sollen. Es ist die erste große Tarifrunde in Deutschland seit dem Anstieg der Inflationsrate. Bald will Hofmann eine Empfehlung herausgeben, eine konkrete Zahl.
»Benzin und Heizen werden teurer, die Leute wollen eine ordentliche Lohnerhöhung«, sagt Hofmann, und wenn Annette Schwarz jetzt mit im Raum wäre, dann würde sie wahrscheinlich zustimmend nicken.
Andererseits kennt Hofmann natürlich die Inflationserzählung aus den Siebzigerjahren, auch wenn Heinz Kluncker lange tot ist und die ÖTV nicht mehr existiert. Ihm sei klar, sagt er, dass überhöhte Lohnabschlüsse die Preissteigerungsrate zusätzlich in die Höhe trieben. Das müsse berücksichtigt werden.
Sicher ist: Wenn die Gewerkschaften nicht zu viel verlangen, wird sich die Lohn-Preis-Spirale nicht drehen. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen.
Aber Annette Schwarz müsste dafür Verzicht leisten. Während die Düngemittelhersteller und die Getreidehändler, die Mälzer und die Flaschenproduzenten und schließlich auch die Brauereien ihre Kosten, zumindest teilweise, weitergeben können, müssten Menschen wie sie am Ende dafür aufkommen, dass Wladimir Putin die Preise erhöht. Bei ihr würde die Kette enden. Das ist die eine Möglichkeit, wie sich das Inflationsproblem jetzt lösen ließe, und Annette Schwarz wäre eine der Verliererinnen.
Die andere wäre eine Art neuer Volcker-Schock. Denn so ging die Geschichte damals in den Siebzigerjahren weiter: Paul Volcker, ein Zwei-Meter-Hüne und begeisterter Fliegenfischer, wurde 1979 Präsident der amerikanischen Zentralbank. Die Inflationsraten in den großen Industrieländern waren noch immer hoch, und so hatte Volcker einen Zettel dabei, als ihn der damalige US-Präsident Jimmy Carter zum Antrittsbesuch ins Weiße Haus einlud. Auf diesem Zettel hatte er seine drei wichtigsten Ziele notiert. Eines davon: die Inflation besiegen.
Volcker unternahm damals genau das Gegenteil dessen, was die EZB in den vergangenen Jahren praktiziert hat. Anstatt Geld ins System zu pumpen, entzog er es ihm schlagartig. Die Folgen: Die Banken vergaben weniger Kredite. Die Unternehmen investierten weniger. Die Wirtschaft stürzte in eine Rezession, die sich, ausgehend von den USA, um die ganze Welt verbreitete. Firmen mussten schließen, Millionen Arbeitnehmer verloren ihre Jobs. Volcker tat dies nicht aus Bösartigkeit, sondern weil er die Nachfrage nach Öl senken wollte – und damit den Ölpreis. Er hatte Erfolg. Die Preissteigerung ging zurück, die Inflation war besiegt.
Diese Episode ist als »Volcker-Schock« in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen. Sie zeigt: Selbst wenn der russische Präsident die Gasproduktion weiter reduzieren und die Gaspreise und damit die Inflation in Deutschland weiter in die Höhe treiben würde – die EZB könnte das Problem wohl in den Griff bekommen. Aber auch diese Methode hätte ihren Preis. Erneut gäbe es Leidtragende, sie stünden nur nicht vorher fest. Vielleicht wäre Annette Schwarz unter den Verlierern, weil VW womöglich wegen der gesunkenen Nachfrage Personal abbauen müsste. Aber es wären auch Aktionäre betroffen, die sinkende Börsenkurse zu verkraften hätten, und Unternehmer, die Insolvenz anmelden müssten.
Am Donnerstag nächster Woche wird wieder der EZB-Rat zusammentreten und über die Geldpolitik diskutieren. Bei der vorherigen Sitzung gab es Auseinandersetzungen, einige Teilnehmer plädierten dafür, der Wirtschaft möglichst schnell Geld zu entziehen, andere wollten lieber noch warten, aus Angst vor den Folgen. Eine Zentralbank hat keinen Zauberknopf zur Verfügung, mit dem sie die Inflation senken kann. Sie kann nur das Übel der Preissteigerungen mit dem Übel der höheren Arbeitslosigkeit bekämpfen.
An dieser Stelle muss man sich gedanklich noch einmal nach Norwegen begeben. Der Gasförderer Equinor hat allein im vierten Quartal des vergangenen Jahres 15 Milliarden Dollar verdient, mehr als je zuvor. Norwegen profitiert von der Situation, unter der Deutschland leidet. Die Inflation verteilt Wohlstand um, von den Energieimporteuren zu den Energieexporteuren.
Es gibt noch eine dritte Methode, das Problem zu lösen. Sie passt in diese Zeit, in der die deutsche Bundesregierung nie da gewesene Sanktionen beschließt und Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet genehmigt, in der die Regierung also so präsent ist wie lange nicht mehr. Denn bei dieser dritten Methode wären es nicht die Gewerkschaften und nicht die Zentralbank, die aktiv werden müssten, sondern eben: die Regierung.
Ein einmaliger Heizkostenzuschuss für einkommensschwache Haushalte ist bereits geplant. Weitere Hilfen wären möglich, besonders für Menschen wie Annette Schwarz. Die Regierung könnte auch Steuern senken, zum Beispiel die Mehrwertsteuer auf Strom, Heizöl, Gas und Kraftstoffe. So könnte sie verhindern, dass gestiegene Energiekosten sich von einem Produkt auf das nächste übertragen und die Preise in die Höhe treiben. Der Verlierer wären dann nicht die Arbeitnehmer, auch nicht die Unternehmer oder die Aktionäre. Es wäre der Staat. Also wir alle.
Inflation bedeutet eben: Irgendjemand muss bezahlen.