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Wasser statt Öl und Gas

von Jochen Knoblach
Berliner Zeitung vom 10.05.2022

Der Artikel erläutert, in welchem Umfang in Berlin Abwasserwärme zum Heizen genutzt wird. 1982 in der DDR etabliert, führte die Technik aufgrund zu niedriger Gaspreise ein Nischendasein, aktuell steigt die Nachfrage. Das Energiepotenzial der Berliner Kanalisation genüge zur Versorgung von ca. 50.000 Haushalten.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Wasser statt Öl und Gas

Mitunter liegen die Alternativen zu Öl und Gas ganz nah. Keine drei Meter unter Berliner Straßenasphalt und Gehwegplatten sprudeln sie munter in einem weitverzweigten Pipelinesystem. Mit 1185 Kilometern ist es insgesamt so lang wie die Gas-Trasse Nord Stream I. Die Röhren haben einen Durchmesser von einem Meter und sind zuverlässig das ganze Jahr über rund um die Uhr gefüllt. Ihr Inhalt: warmes Abwasser.
Jürgen Lang kennt den Verlauf des unterirdischen Rohrsystems zumindest im Lichtenberger Norden, wo die Rhinstraße die Landsberger Allee kreuzt, ziemlich gut. Wir stehen nahe der Kreuzung auf dem westlichen Gehweg der Rhinstraße. „Die Trasse liegt direkt unter uns“, sagt er. Durch das Rohr werde das Abwasser der Haushalte von ganz Lichtenberg bis ins Klärwerk gepumpt. Auf knapp 18 Grad taxiert Lang die Temperatur des Wassers, und während er die Zahl nennt, strahlen seine Augen über dem grauen Schnauzbart, als läge dort unten eine Goldader. Dann zeigt er auf eine Stelle neben einer Straße, die zur unweit gelegenen Ikea-Filiale führt. „Dort haben wir den Abzweig gesetzt.“

Hoffen auf den Durchbruch

Lang ist einer der Pioniere der Abwasserwärmenutzung. Bereits Anfang der 1980-Jahre hatte er als junger Ingenieur an der Bauakademie der DDR den Auftrag erhalten, in einem kleinen Industriegebiet ein lokales Ölheizwerk zu ersetzen. Lang hatte sehr schnell die Idee, dafür eine in der Nähe verlaufende Abwasserleitung zu nutzen. Thermophysik habe ihn schon immer fasziniert, sagt er. Lang wollte einen Beweis antreten. 1982 hat er geliefert.
Lang hat eine Anlage entwickelt und installiert, die mit einer Wärmepumpe tatsächlich Heizenergie aus Spülwasser erzeugte. Dabei wird das warme Abwasser zunächst genutzt, um ein Kältemittel in einem Kreislauf zu erwärmen. In der Wärmepumpe verdampft es. Dann wird das entstandene Gas komprimiert und gibt dabei große Hitze frei. „Das Prinzip war nicht neu“, sagt Lang, inzwischen 70 Jahre alt. Aber in dieser Dimension habe es das noch nicht gegeben. Zwei Megawatt hatte die Anlage damals. Genug, um etwa 30 Häuser zu beheizen. Es sei „die größte dieser Art in ganz Ost- und in Westdeutschland“ gewesen. Lang zeigt auf die andere Seite der Rhinstraße. „Das war da drüben hinter dem Bürohaus“, sagt er. 40 Jahre ist das her.
Nach der Wende kamen dem Lang’schen Öko-Heizwerk zwar die Nutzer und Lang selbst die Bauakademie als Arbeitgeber abhanden, doch waren beide durchaus noch funktionstüchtig. Der Ingenieur machte sich im Energiebereich selbstständig. Als er Ende der 2000er-Jahre erfuhr, dass Ikea unweit seiner Anlage ein Möbelhaus errichten will, zumal ein klimaneutrales, witterte Lang mehr als nur einen Auftrag. In Zeiten des inzwischen spürbaren Klimawandels hoffte er, dem Abwasser-Heizwerk endlich zum Durchbruch verhelfen zu können.
Mit den Konstruktionsunterlagen im Gepäck reiste er in die Deutschlandzentrale des Möbelhändlers, um den dortigen Projektanten die Nutzung des Abwassers für die hauseigene Energieversorgung zu empfehlen und von seiner Anlage zu berichten, die sich in Sichtweite der künftigen Ikea-Baustelle über viele Jahre bewährt hatte. „Die haben sich das angehört, und ich bin wieder abgereist“, erzählt Lang. Nach einigen Tagen kam dann ein Anruf. „Herr Lang, wir machen das“, sagte man am anderen Ende der Leitung. Dann sei alles ganz schnell gegangen.
Lang projektierte die Anlage zusammen mit den Berliner Wasserbetrieben. Die unter dem Gehweg der Rhinstraße von Lichtenberg bis in den Norden verlaufende Abwasserdruckleitung wurde angezapft. Die Wasserwerker hatten von dort eine riesige Schleife gelegt und das Rohr auf einer Länge von gut 200 Metern mit Wärmetauschern bestückt, die die Energie des warmen Wassers für die Wärmepumpen aufnehmen sollten. 1,2 Megawatt beträgt die Leistung des Systems, mit dem jährlich die Emission von 500 Tonnen Kohlendioxid vermieden wird.
Tatsächlich ist diese Anlage schon wieder zwölf Jahre alt und hat in der Stadt nicht gerade einen Boom der Abwasserwärmenutzung ausgelöst. Denn während Langs erste Anlage von 1982 zwei Megawatt leistete, kommen die in der Folgezeit in Berlin installierten Systeme in der Summe gerade einmal auf zehn bis zwölf Megawatt.
Es ist nach wie vor die Regel und nicht die Ausnahme, dass Wasser, das in den Haushalten mit viel Energie auf hautschmeichelnde und fettlösende Temperaturen gebracht wurde, nach Gebrauch achtlos über die Fallrohre in die Kanalisation geschickt wird, um am Ende den Vorstadt-Himmel über den Klärwerken zu wärmen. Jürgen Lang ärgert das maßlos, aber er wundert sich nicht darüber. „Öl und Gas waren einfach zu billig“, sagt er.
Dabei gibt es tatsächlich nichts zu verschenken, denn der Klimawandel schreitet voran. Berlin will spätestens 2045 clean sein und ein Leben ohne Öl, Gas und Kohle führen. Der Strom soll von Wind und Sonne geliefert, Autos mit Kolbenmotoren abgeschafft werden. Doch das wird nicht genügen. Denn die größte Abhängigkeit von fossiler Energie besteht in der Wärmeversorgung. Sie ist derzeit für fast die Hälfte der Kohlendioxidemissionen der Stadt verantwortlich.
Die Energie, die nötig ist, um die Berliner Wohnungen warm zu bekommen und heißes Wasser aus dem Hahn zu garantieren, kommt zu 44 Prozent aus Gas und zu 17 Prozent aus Heizöl. Das restliche Drittel wird als Fernwärme geliefert, die ebenfalls zu drei Vierteln aus Gas oder Kohle erzeugt wird. So entstehen 7,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr.
Dass dafür Abwasser ein tauglicher Ersatz ist, gilt längst nicht mehr nur unter Ökoaktivisten als erwiesene Erkenntnis. Laut Berechnungen des Energiekonzerns Eon könnten mit der aus Abwasser gewonnenen Energie bundesweit 14 Prozent des Wärmebedarfs im Gebäudesektor abgedeckt und für die Kühlung gleichermaßen genutzt werden. Warum also Öl und Gas nicht auf diese Weise gerade in der Stadt ersetzen, die das längste Abwassersystem zu bieten hat? Kein Problem, sagt Hakan Kurc. „Technisch sind wir längst mittendrin, praktisch aber leider erst ganz am Anfang.“
Kurc, der an der TU Berlin Umweltingenieurwesen mit der Spezialisierung Siedlungswasserwirtschaft studiert hat, ist gewissermaßen der Schatzmeister der Kraft aus dem Kanal. Er leitet bei den Berliner Wasserbetrieben sämtliche Projekte, mit denen Abwasser zur Wärmeerzeugung genutzt werden soll. Denn die Wasserbetriebe sind der oberste Verwalter der unterirdischen Energiequelle.
Sie betreiben nicht nur das knapp 1200 Kilometer lange Abwasserdruckleitungssystem, aus dem Ikea seine Heizung versorgt, sondern auch ein Kanalnetz von 6400 Kilometer Länge, in dem warmes Abwasser zu Pumpstationen fließt, von denen aus es in die Druckleitungen gelangt. Zwar eigneten sich laut Kurc nur etwa 1300 Kilometer dieses Kanalsystems, weil dort das Wasser mit einer ausreichenden Geschwindigkeit fließt. In der Summe steht der Öl- und Gas-Ersatz aber dennoch auf 2500 Kilometern zur Abholung bereit.
Gehoben wird die Energie indes lediglich auf einer Länge von ein paar Hundert Metern. Gerade einmal zwölf Projekte wurden stadtweit realisiert, seit man 2010 in Lichtenberg das Möbelhaus an die Abwasserenergieleitung andockte. Hakan Kurc zieht die Augenbrauen und Schultern leicht nach oben. „Das ist so, leider“, sagt er. „Es fehlte einfach der Druck.“
Der 49 Jahre alte Umweltingenieur war schon dabei, als die Wasserbetriebe vor zehn Jahren in einer Schwimmhalle am Sachsendamm eine Pilotanlage installiert hatten. „Wir wollten zeigen, was geht“, erzählt Kurc. Und tatsächlich werden dort bis heute mit Abwasserenergie die Becken des Bades ganzjährig und autark beheizt. Interessiert hatte dies lange Zeit kaum jemanden. Denn bei der Projektierung war man davon ausgegangen, dass die Gaspreise steigen würden. „Aber das Gegenteil war der Fall“, sagt Kurc.
Seit etwa zwei Jahren nehmen jedoch die Anfragen bei den Wasserbetrieben zu. Immobilienentwickler und Wohnungsbaugesellschaften erkundigen sich nach Möglichkeiten der Energieeinsparung. Als beispielsweise der Karstadt-Kaufhof-Eigentümer Signa das ehemalige Kaufhaus am Friedrichshainer Ostbahnhof in einen Bürokomplex umbaute, wurde ein nahe gelegener Kanal genutzt, um die Hausenergietechnik zu versorgen. Auf einer Länge von 200 Metern implantierten die Wasserbetriebe Wärmetauscher aus Edelstahl in die Sohle des gemauerten Klinkerkanals. Seit dem vergangenen Sommer ist Zalando Nutzer des Gebäudes an der Koppenstraße. Die Hälfte des Wärmeenergiebedarfs wird aus Abwasser gewonnen.

Ein Potenzial-Atlas

Langsam werde bewusst, dass Abwasser kein Abfall ist, sagt Hakan Kurc, der dessen Nutzung für die landeseigenen Wasserbetriebe immer erfolgreicher zum Geschäftsmodell entwickelt. Gerade wurde ein sogenannter Potenzial-Atlas fertiggestellt, auf dem Interessenten künftig sehr schnell erkennen können, wo, ob und in welchem Umfang die Energie aus dem Kanal genutzt werden kann.
Laut Kurc sind inzwischen allein für die nächsten zwei Jahre mehr als ein Dutzend Projekte geplant, drei werden gerade realisiert. Die Wasserbetriebe übernehmen dabei die Installation der Wärmetauscher, den Rest die Auftraggeber, womit sich beide Partner die Investitionskosten etwa in gleichem Maße teilen. Umsonst geben die Wasserbetriebe die Energie allerdings nicht ab. Je nach Größe und Effektivität der Anlage wird eine Jahresgebühr verlangt, die bei 3500 Euro beginnt, aber auch 25.000 Euro betragen kann.
Allerdings sind die Möglichkeiten endlich. Denn während das Wasser die Wärmetauscher passiert, wird ihm tatsächlich Wärme entzogen. So kann es auf diesem Weg schon mal ein halbes Grad verlieren. Wenn das Abwasser aber in den Klärwerken ankommt, darf es nicht kälter als zwölf Grad sein, da die biologische Reinigung des Wassers sonst nicht funktioniert. Darüber hinaus muss genug Wasser in den Leitungen fließen. Zehn Liter pro Sekunde sind das Minimum.
Dennoch werde noch immer zu viel verschenkt, sagt der Umweltingenieur. Die Energiemenge, die sich aus der Berliner Kanalisation ziehen ließe, beziffert er auf 250 bis 300 Megawatt. Das sei genug, um damit 50.000 Haushalte mit Wärme versorgen zu können. Kurc: „Da reden wir über die Komplettversorgung einer Stadt wie Paderborn oder Ingolstadt.“ In Berlin könnte man laut Kurcs Prognose sogar ein ganzes Kraftwerk abschalten. Denn das Potenzial der Abwasserwärmenutzung entspricht etwa der thermischen Leistung des Vattenfall-Kraftwerks Moabit, das derzeit mit Steinkohle befeuert wird.
Zunächst wird jedoch erst einmal ein paar Nummern kleiner abgeschaltet. An der Ullsteinstraße in Mariendorf wird gerade ein Wohnhaus gebaut. 54 Wohnungen wird es haben. Ökowärme-Pionier Jürgen Lang hat dafür die Wärmeversorgung projektiert. „Am Anfang“, sagt er, „stand eigentlich nur die Frage, ob wir die Wärme aus einem nahen Abwasserkanal oder einer Abwasserdruckleitung nehmen.“ Dann habe er sich zusammen mit Hakan Kurc für den Kanal entschieden. Die angeschlossenen Wärmepumpen sollen die Wohnungen heizen und heißes Wasser liefern. „Komplett“, sagt Lang. Anschlüsse für Gas, Öl oder Fernwärme gibt es in dem Haus nicht.