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Schuld und Bühne

von Volker ter Haseborg und Melanie Bergermann
WirtschaftsWoche vom 03.12.2021

Vor dem Wirecard-Skandal inszenierte sich Markus Braun als aufmerksamer CEO, nach dem Zusammenbruch will er von nichts gewusst haben. Der Artikel zeichnet detailliert nach, inwieweit Braun durch direkte Anweisungen in die Erzeugung, Irreführung und Vertuschung von Scheinumsätzen verwickelt gewesen sein muss, und was das für seine Verteidigung vor Gericht bedeutet.

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Schuld und Bühne

Es ist diese eine Frage. Sie beschäftigt die ehemaligen Mitarbeiter der Wirecard AG bis heute. Es geht um ihren früheren Chef Markus Braun. Über Jahre hinweg hat er ihnen das Bild eines allgegenwärtigen und allwissenden Anführers vermittelt. Wenn sie abends Feierabend machten und vom Hof der Wirecard-Zentrale im Einsteinring 35 in Aschheim bei München hoch in den vierten Stock schauten, konnten sie sicher sein: Im Chefbüro brannte noch Licht.

Braun schien immer da zu sein, sieben Tage die Woche für Wirecard im Einsatz. Ein Chef, der selbst unwichtige Pressemitteilungen persönlich absegnete. Ein Chef, der das Selbstverständnis verströmte, der Intelligenteste im Unternehmen zu sein, über jeden Zweifel erhaben. Die meisten Mitarbeiter sprachen den Wirtschaftsinformatiker ehrfürchtig mit "Herr Doktor Braun" an.

Wer nicht spurte, bekam Druck, dieser wurde nach unten weitergegeben: "Wenn das nicht funktioniert, musst du zu Braun." Wer seine Vorgaben anzweifelte, hatte bei ihm keine Chance, so das Gefühl ehemaliger Mitarbeiter. Und wenn er gefragt wurde, wie tief er in den Details der Wirecard-Geschäfte stecke, verzog er verächtlich den Mund und antwortete: "Ich habe vollen Einblick."

Die Frage, die sich Mitarbeiter von einst heute stellen, lautet: Was hat Markus Braun eigentlich die ganze Zeit gemacht?

Denn wie sich im Sommer 2020 herausstellte, war Wirecard schon lange nicht mehr der erfolgreiche Zahlungsabwickler, als den Braun ihn verkaufte. Mehr als die Hälfte des Umsatzes war erfunden. Die angeblich mit Drittpartnern erzielten und auf Treuhandkonten gebunkerten Erträge in Milliardenhöhe hat es nie gegeben.

Die Münchner Staatsanwaltschaft verdächtigt Braun des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, der Untreue, unrichtigen Darstellung und Marktmanipulation. Sie beschreibt ihn als mutmaßlichen Boss einer kriminellen Bande, als Chef eines hierarchischen Systems, "geprägt von Korpsgeist und Treueschwüren gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden". Hildegard Bäumler-Hösl, Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft München I, arbeitet an der Anklage gegen Braun. Diese wird allerdings nicht vor Anfang des kommenden Jahres erwartet. Braun weist sämtliche gegen ihn erhobenen Vorwürfe entschieden zurück.

Seit Juli 2020 sitzt er in der JVA Augsburg-Gablingen in Untersuchungshaft, sein langjähriger Vertrauter Jan Marsalek ist verschwunden, Wirecard pleite. Markus Braun hat seitdem eine wundersame Verwandlung gemacht: Aus dem dominanten Dax-CEO mit dem "vollen Einblick" ist ein Beschuldigter geworden, der vom spektakulärsten Betrugsskandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte nichts mitbekommen haben will. Obwohl der direkt vor seinen Augen ablief.

Braun sieht sich als Opfer von Marsalek und dessen Verbündeten, die Zahlen frisiert und Wirecard geplündert hätten. Aus der Zelle heraus arbeitet der 52-Jährige an seiner eigenen Wirecard-Story. Jetzt hat sein Strafverteidiger Alfred Dierlamm ein neues Kapitel vorgelegt: Er will "Beweise" dafür haben, dass Wirecards ominöse Drittpartner zumindest teilweise doch echte Geschäfte betrieben und Einnahmen daraus erzielten, und diese eben doch nicht frei erfunden waren, wie die Staatsanwaltschaft und Wirecards Insolvenzverwalter Michael Jaffé aktuell meinen.

Dierlamm zufolge sollen Erlöse aus den Drittpartnergeschäften an Wirecard vorbeigelaufen, von einer kriminellen Bande um Marsalek und Wirecards Dubai-Geschäftsführer Oliver Bellenhaus umgelenkt worden sein, etwa in Schattengesellschaften in der Karibik. Der Zeitpunkt für die Offensive scheint gut gewählt: In diesen Tagen steht am Münchner Oberlandesgericht turnusgemäß Brauns Haftprüfung an.

Um seine These zu untermauern, zeichnet Dierlamm Geldflüsse von Konten der Drittpartner nach, zählt Kunden auf, die sich der Dienste dieser Firmen bedient haben sollen. Das Problem ist nur: Dierlamms Annahmen halten einem Realitätscheck nicht unbedingt stand. Bei den vermeintlichen Kunden handelt es sich um Kleinstbetriebe, teilweise ohne jeden Hinweis auf eine Geschäftstätigkeit. Und dass diese Firmen jemals etwas mit Wirecard zu tun hatten? Insider fanden dafür bislang keine Hinweise - es gibt keine Verträge, keine Kommunikation, keine Umsätze.

Nein, Braun kann kein Opfer sein. Fast zwei Jahrzehnte war er der starke Mann bei Wirecard. Er war in höchst anrüchige Entscheidungen direkt und persönlich involviert: So ließ er einen Mann über Wirecards Treuhandkonten mit einem behaupteten Milliarden-Guthaben aufpassen, als der schon im Zusammenhang mit zweifelhaften Geschäften aufgefallen war. Gegen interne Widerstände drückte er Zahlungen in dreistelliger Millionenhöhe an dubiose Geschäftspartner durch. Und schließlich hat er seine Aktionäre belogen.

Wie soll dieser Mann unschuldig sein?

Der Kampf um diese Frage wird auf offener Bühne ausgetragen, auch über die Medien. Braun hat hochbezahlte Rechtsanwälte und Medienspezialisten angeheuert. Allen voran Strafverteidiger Dierlamm, die Medienrechtskanzlei Nesselhauf und PR-Berater Dirk Metz, einst Sprecher der hessischen Landesregierung von Roland Koch.

Sie zeichnen das Bild eines ahnungslosen U-Häftlings, der jetzt seine Tage mit dem Wälzen von Akten verbringt, höchstens mal unterbrochen von ein paar Fitnessübungen, um stark zu bleiben. Für Sprecher Dirk Metz steht fest: Das "unterstellte Tatbild ist nach unseren Erkenntnissen komplett widerlegt". Und: "Wir gehen davon aus, dass hinter dem Rücken von Markus Braun rund um Jan Marsalek eine Schatten- und Veruntreuungsstruktur aufgebaut worden ist."

EIN ZWEIFELHAFTER BEFREIUNGSSCHLAG

Das ominöse Drittpartnergeschäft tauchte vor fast zehn Jahren erstmals auf, passenderweise kurz nachdem Wirecard seine besten Kunden verlor: die Porno- und Glücksspielindustrie. Schmuddelfilmchen standen gratis im Netz, Onlinezockereien wurden in den USA verboten. Dafür aber meldete Wirecard fortan Umsätze aus den angeblichen Geschäften mit Dritten, dem berühmten Third Party Acquiring (TPA). Damit hatte Wirecard einen neuen Treiber für sein Wachstumswunder gefunden.

Die Geschichte dahinter geht so: Dubiose Händler, etwa für Wunderpillen, wollten viel Geld dafür bezahlen, dass jemand die Zahlungen ihrer Kunden abwickelte. Weil Wirecard solche Kunden nicht über die eigenen Bücher laufen lassen wollte, verwiesen Wirecard-Mitarbeiter sie angeblich an Partnerfirmen in Asien. Im Kern sollen es drei gewesen sein: Al Alam, Senjo und PayEasy. Die sollen dann dafür gesorgt haben, dass Kunden bei diesen dubiosen Shops online zahlen konnten. Im Gegenzug für die Vermittlung der Kunden sollte Wirecard einen Teil vom Umsatz abbekommen, den die Drittpartner mit diesen Kunden erzielten. Zuletzt sollen diese Geschäfte für mehr als die Hälfte von Wirecards Umsatz und den kompletten Gewinn gestanden haben. Aufbewahrt wurden die Einnahmen angeblich auf Treuhandkonten in Singapur und auf den Philippinen.

Obwohl die Treuhandkonten jedoch leer waren, geht Brauns Verteidiger Dierlamm davon aus, dass es das Drittpartnergeschäft zumindest teilweise gab. Man verfüge über Beweise, dass zwischen 2015 und 2020 rund eine Milliarde Euro an Erlösen auf Konten der Wirecard-Drittpartner PayEasy, Al Alam und Centurion bei der Wirecard Bank gelandet seien, teilt Sprecher Dirk Metz mit. In Konten von Senjo habe man noch nicht Einblick nehmen können.

Selbst wenn es sich bei der Milliarde um Einnahmen aus Zahlungsabwicklungen für von Wirecard vermittelte Kunden handelte, entspricht der Betrag jedoch nur rund einem Fünftel der Bruttoumsätze mit Drittpartnern, die Wirecard zwischen 2015 und 2020 ausgewiesen hat. Und selbst wenn Wirecard eine Provision von rund 50 Prozent, also 500 Millionen Euro, zugestanden hätte: Das entspräche auch nur rund einem Fünftel der von Wirecard in diesem Zeitraum ausgewiesenen Roherträge mit Drittpartnern.

Dass es Geldflüsse gab, hält auch die Staatsanwaltschaft für möglich. Allerdings sagen Geldflüsse nichts darüber aus, ob und welche Geschäfte ihnen zugrunde lagen.

Erträge aus Zahlungsabwicklungen kann es nur geben, wenn auch Kunden existieren, die einen Drittpartner mit Zahlungsabwicklungen beauftragt haben. Brauns Verteidiger liefert beispielhaft 15 Namen von Digitalunternehmen. Der Haken ist: Nur zwei verfügen überhaupt über einen Inter netauftritt. Eines dieser beiden, ein britischer Anbieter von IBAN-Konten, erklärt aber auf Nachfrage, mit den Drittpartnern von Wirecard "nie" eine Geschäftsbeziehung gehabt zu haben. Die andere Firma antwortet nicht.

Bei den meisten der 15 Gesellschaften handelt es sich augenscheinlich um Minifirmen mit nur einem Mitarbeiter und ausgewiesenen Vermögenswerten im vierstelligen Bereich. Sollen diese Buden tatsächlich nennenswerte Zahlungen abgewickelt und zum Teil für Millionen Ware verkauft haben? Brauns Verteidiger äußert sich hierzu nicht.

Auf der Liste der Verteidiger steht etwa die Firma E-Commerce Worldwide. Sie hat ihren Sitz in einem Wohnhaus im schottischen Douglas in der Grafschaft Lanarkshire. Das Handelsregister enthält keine Angaben, die auf Umsätze hindeuten. Direktorin ist eine 29-jährige Frau aus dem zentralamerikanischen Belize, die in 35 Firmen vergleichbare Posten ausübt oder ausgeübt hat.

Eine Firma mit dem Namen E-Commerce Worldwide überwies von August 2016 bis Januar 2019 nach Informationen [des Mediums] 26 Millionen Euro auf das Konto von Drittpartner Centurion bei der Wirecard Bank. Nur mal angenommen, es handele sich hierbei tatsächlich um Provisionen für Zahlungsabwicklungen: Dann hätte die Serienchefin aus Belize, bei einer üblichen Gebühr von zwei Prozent, bis zu 1,3 Milliarden Euro umsetzen müssen. Wahrlich ein hidden champion.

Gegen die These, dass es sich bei der Zahlung der Unternehmerin auf das Centurion-Konto um eine Provision für Zahlungsabwicklungen handelte, spricht auch, dass Händler solche Gebühren üblicherweise nicht überweisen. Vielmehr behalten Zahlungsabwickler einen Teil des Geldes, der über ihre Systeme läuft, als Provision ein.

Die Firmenliste der Braun-Verteidiger weist noch mehr Skurrilitäten auf: Gleich sechs der dort genannten Firmen hatten oder haben ihren Sitz im nordenglischen 21 000-Einwohner-Örtchen Consett. "Mr. Bean"-Darsteller Rowan Atkinson kommt von dort, sonst nichts Bemerkenswertes. Consett ist ein wichtiger Schauplatz der Wirecard-Geschichte: Als die US-Regierung im Jahr 2006 Zahlungsabwicklungen für Onlineglücksspielanbieter untersagte, wurden sie fortan über Briefkastenfirmen gelenkt. Viele dieser Firmen saßen in Consett.

Helfer vor Ort war damals der britische Serien-Firmengründer Simon Dowson, der auch bei Wirecard ab und an gesehen wurde. Und - siehe da - sein Name taucht auch bei einigen von Wirecard-Verteidiger Dierlamm aufgezählten angeblichen Onlinehändlern als Direktor auf.

Selbst wenn diese Firmen tatsächlich Zahlungen hätten abwickeln wollen, stellt sich noch die Frage, wie dies über Centurion hätte erfolgen sollen. Das Unternehmen saß in Manila. In einer mal von Wirecard beauftragten Untersuchung steht, dass sich Centurion auf die Philippinen konzentriere. Die meisten der 15 angeblichen Centurion-Kunden residieren aber in Großbritannien.

Wohl eher denkbar ist, dass es sich bei den ominösen Einzahlungen auf die Konten der Drittpartner bei der Wirecard Bank um Mittel aus ganz anderen Quellen handelte - möglicherweise sogar von Wirecard selbst. Sicher ist: Aus dem Wirecard-Kreislauf wurde genug Geld veruntreut, das sich auf irgendwelche Konten transferieren ließ, um so Geschäftstätigkeit vorzutäuschen. Die Ermittler haben bereits Kreislaufgeschäfte zwischen Wirecard, Partnerfirmen und Treuhandkonten gefunden. Wirecards Insolvenzverwalter Jaffé beziffert die "verdächtigen Mittelabflüsse" in der Zeit zwischen 2015 und 2020 auf eine halbe Milliarde Euro - herausgeschleust mittels Firmenübernahmen, Krediten und Beraterverträgen. Diese hat Braun oft nicht nur abgesegnet, sondern selbst durchgedrückt.

Insolvenzverwalter Jaffé hat sich seine Meinung zu Braun gebildet: Dieser versuche, schreibt er in seinem aktuellen Insolvenzbericht, Indizien, die gegen das Bestehen des Drittpartnergeschäfts und der Treuhandkonten sprechen, "zu entkräften oder als nicht zwingend darzustellen, was ihm jedoch (...) nicht gelungen ist". Jaffé meint, "die Darlegungen von Herrn Dr. Braun" dienten "maßgeblich der strafrechtlichen Verteidigung". Für Jaffé steht vielmehr "endgültig fest", dass es das bilanzierte Drittpartnergeschäft "mit Milliardenbeträgen" bei Wirecard nicht gegeben hat.

Die beiden philippinischen Banken, die angeblich Treuhandkonten für Wirecard führten, hatten schon früh erklärt, dass bei ihnen keine zwei Milliarden Euro für den Dax-Konzern hinterlegt waren. Nach langem Hin und Her hat Jaffé jetzt auch Kontoauszüge vermeintlicher Treuhandkonten von Wirecard bei der OCBC Bank in Singapur erhalten. Ergebnis: Auch auf diesen Konten sind zu keinem Zeitpunkt Erlöse aus Drittpartnergeschäften für Wirecard eingegangen. Stattdessen handelte es sich hierbei wohl eher um so etwas wie Spesenkonten. Allein 660 Mal wurde davon Geld in bar abgehoben, konkret in der Bar Hedgehog in Singapurs Stadtteil Little India.

KATASTROPHALE PARTNERWAHL

Interessant: Betreiber dieser Bar ist ausgerechnet Rajaratnam Shanmugaratnam - der Mann, der angeblich die Treuhandkonten für Wirecard in Singapur verwaltete. Dass Wirecard an diesen wenig seriösen Treuhänder geriet, ist nicht zuletzt Brauns Schuld. Es wäre wohl zu erwarten gewesen, dass der Vorstandschef eines Unternehmens genau prüft, wem er Milliardensummen anvertraut. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG aber fand bei einer Sonderuntersuchung keine Unterlagen dazu, dass die Zuverlässigkeit des Treuhänders von Wirecard je geprüft worden wäre. So fiel niemandem auf, dass Shanmugaratnam gar keine Lizenz für Treuhandgeschäfte hatte.

Einen aufmerksamen CEO hätte wohl auch gestört, dass der Mann, der angeblich über Wirecards Milliarden wachte, in unterschiedlichen Funktionen bei Geschäftspartnern von Wirecard auftauchte. Einer von ihnen erhielt sogar einen Kredit von der konzerneigenen Bank, für den die Wirecard AG mit Genehmigung des Vorstands bürgte.

Spätestens im Mai 2018 hätte ein mit gesunder Skepsis gesegneter Vorstandschef wohl die Reißleine gezogen: Da legte die Kanzlei Rajah & Tann ein von Wirecard beauftragtes vorläufiges Gutachten zu besorgniserregenden Vorgängen in Singapur vor. Es ging um Scheingeschäfte, gefälschte Verträge und den Verdacht der Geldwäsche, die Polizei ermittelte später. Bei einigen der Firmen, die mutmaßlich in die Umsatzschiebereien involviert waren, tauchte auch "Shan" auf, was so auch im Bericht von Rajah & Tann steht.

Ende 2019 warf Treuhänder Shanmugaratnam seinen Job hin. Nachfolger: Mark Tolentino, ein Anwalt mit Sitz in Manila. Auf seiner Facebook-Seite beschreibt er sich als "jung, dynamisch und aggressiv", er ist um die 40. Spezialgebiete: Ehe-Annullierung, Scheidungen, Korrekturen von Geburtszertifikaten. Hat Markus Braun diesen Mann, dem er rund zwei Milliarden Euro anvertraut haben will, zuvor mal kurz gegoogelt?

Als Ermittler später Brauns E-Mails und seinen Terminkalender auswerteten, fanden sie keine Hinweise darauf, dass Braun selbst jemals den direkten Kontakt zu den Treuhändern oder den Drittpartnern Al Alam und Co. gesucht hat - auch nicht, als Zweifel daran aufkamen, dass Wirecards Geschäft mit den Drittpartnern real war. Bei BMW, BASF oder der Deutschen Bank wäre es wohl undenkbar, dass der CEO nie Kontakt mit den wichtigsten Geschäftspartnern hat.

AUFKLÄRUNG UNERWÜNSCHT

Das Paul-Löbe-Haus in Berlin am 6. Mai dieses Jahres. Der Wirecard-Untersuchungsausschuss hat Christian Muth als Zeugen geladen. Muth war früher Offizier im militärischen Nachrichtenwesen bei der Bundeswehr, heuerte später als Forensiker bei Wirecards Wirtschaftsprüfer EY an. Seinen kleinen Töchtern erkläre er seinen Job so, berichtet Muth: Papa sei ein "Lügner-Fänger". Es scheint, dass Muth bei Wirecard genau am richtigen Platz war. Eigentlich.

Seine Aufgabe war es, eins der größten Mysterien der Wirecard-Historie aufzuklären: Im Herbst 2015 hatte Wirecard in Indien eine Firma gekauft, die kaum Umsatz und noch weniger Gewinn machte. Trotzdem zahlte Wirecard direkt 215 Millionen Euro; weitere 110 Millionen Euro sollten fließen, wenn die Inder bestimmte Umsatzziele erreichen. Der Kaufpreis war von vornherein absurd hoch. Noch absurder: Wirecard kaufte die Firma von einem Fonds auf Mauritius, der die Beteiligung erst kurz vorher erworben hatte - zu einem Bruchteil des Preises.

Als sich ein Whistleblower meldete, der behauptete, das "Senior Management" von Wirecard stehe hinter dem Fonds und bei der Indientochter würden Umsätze fingiert, damit der erfolgsabhängige Kaufpreis auch ausgezahlt werde, bekamen die EY-Wirtschaftsprüfer offenbar Angst. So kam EY-Forensiker Muth zu seiner Aufgabe. Name seiner Mission: "Project Ring".

Rund lief es nicht. Muth berichtet den Abgeordneten, Exfinanzvorstand Burkhard Ley und Marsalek hätten die Untersuchung behindert. Auch Braun habe nicht geholfen, sondern ihn in eine "akademische Diskussion" über forensische Beweisführung verwickeln wollen. Wichtige Unterlagen bekamen die Forensiker - wenn überhaupt - nur sehr spät. Trotzdem fand Muth mehrere "red flags", sehr deutliche Indikatoren für Scheinumsätze ([Medium] 08 2020). Die Prüfer hielten fest, dass die Punkte erhebliche Auswirkung auf die Höhe des erfolgsabhängigen Kaufpreises haben könnten. Und wie reagierte Wirecards Chefetage? Sie brach die Untersuchung ab. Der erfolgsabhängige Kaufpreisanteil von 100 Millionen Euro wurde fast komplett ausgezahlt.

MILLIONEN DURCHGEWINKT

Ähnlich großzügig war Braun gegenüber einem Unternehmen namens Ocap in Singapur. Offizieller Chef war hier zuletzt ein Ex-Wirecard-Mitarbeiter, der mit Wirecards Asienchefin verheiratet ist. Ocaps Geschäftsmodell war flexibel - erst verdiente man vor allem Geld damit, Schiffe zu betanken. Dann wollte man angeblich Zwischenfinanzierungen für Onlinehändler anbieten. Ocap brauchte Geld für die neuen Geschäfte. Woher das kam? Natürlich von Wirecard.

Braun fand, die Wirecard Bank solle zunächst 100 Millionen Euro geben. Nur ein Problem stand im Weg: Rainer Wexeler. Der Vorstand der Wirecard Bank wollte nicht. Ocap hatte keine Erfahrung mit dem neuen Geschäftsbereich und konnte keine Sicherheiten geben. Zu unsicher, befand Wexeler.

Selbst ein Aufsichtsrat, der nicht dafür bekannt war, Dingen auf den Grund zu gehen, fragte kritisch nach. Doch Braun störte das offenbar alles nicht. Gegen alle Bedenken schrieb er Bankvorstand Wexeler: "Ich weise dich hiermit seitens der Wirecard AG direkt an, die 100 Mio Überweisung Ocap durchzuführen ohne jeden weiteren Aufschub." Wexeler lehnte trotzdem ab. Es half nur nichts: Ocap bekam das Geld vom Wirecard-Konzern dennoch. Ein Mitarbeiter der Finanzabteilung fragte sicherheitshalber sogar noch mal nach, ob er die Millionen wirklich auszahlen solle. Binnen weniger Minuten kam das Okay - von Braun.

Obwohl Ocap den Kredit zwischenzeitlich nicht mehr planmäßig bediente, bekam Ocap Ende März 2020, also kurz bevor es mit Wirecard zu Ende ging, noch einmal 100 Millionen Euro. Diesmal warnten nicht nur eigene Leute. Ein Jurist der Kanzlei Noerr sah den Deal äußerst kritisch, wies auf Haftungsrisiken für den Vorstand hin. Vergeblich: Der Vorstand wies die Auszahlung an.

Zuletzt schuldete Ocap Wirecard-Gesellschaften rund 230 Millionen Euro. Mittlerweile hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet. Ocap soll nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft ein Baustein im Wirecard-Betrugsmodell gewesen sein. So soll die Firma etwa einen Teil des Geldes von Wirecard an eine litauische Firma überwiesen haben, bevor es auf einem Konto von Jan Marsalek landete. Der soll damit einen Privatkredit bei Braun beglichen haben.

EINE VERHÄNGNISVOLLE LÜGE

Spätestens ab Januar 2019 war Markus Braun als Krisenmanager gefordert. [Anderes Medium I] berichtete über erfundene Umsätze und gefälschte Verträge bei Wirecard in Singapur. Sie stützte sich vor allem auf vorläufige Erkenntnisse der von Wirecard beauftragten Anwaltskanzlei Rajah & Tann. Die Anwälte werteten unter anderem interne Mails aus und befragten Wirecard-Angestellte. Obwohl die Juristen eine ganze Reihe an Indizien für Scheingeschäfte fanden, wies das Unternehmen die Behauptungen [des anderen Mediums I] als verleumderisch, ungenau und irreführend zurück. Braun setzte sogar noch eins drauf: Er sagte, es gebe keine Beweise oder ernst zu nehmenden Indizien, dass die Vorwürfe wahr seien. Der vorläufige Bericht von Rajah & Tann sei nur eine Zusammenfassung der Anschuldigungen eines Whistleblowers.

Das jedoch war glatt gelogen, und Braun muss das gewusst haben. Rajah & Tann hatte bereits im Mai 2018 einen vorläufigen Untersuchungsbericht bei Wirecard abgeliefert. Daraus geht hervor, dass die Anwälte darin nicht nur einfach die Vorwürfe des Whistleblowers zusammengefasst hatten, sondern umfangreiche Untersuchungen durchgeführt und auch Zugriff auf die Postfächer einiger beschuldigter Mitarbeiter hatten. In denen fanden sie Hinweise, dass Verträge gefälscht wurden und Wirecard etwa ohne Gegenleistung Geld an eine Firma überwies.

Am 13. Februar 2019 erhielten Wirecard-Vertreter denn auch einen geharnischten Brief von Rajah & Tann, in dem die Anwälte Brauns Behauptungen deutlich widersprachen. Richtiggestellt hat Braun seine Aussagen danach trotzdem nicht. Brauns Anwalt äußert sich hierzu nicht. Dass Braun die Unwahrheit gesagt und dies später nicht korrigiert hat, könnte den Tatbestand des Kapitalmarktbetrugs erfüllen, weil beides mutmaßlich Einfluss auf den Aktienkurs von Wirecard hatte.

Im Lauf des Jahres 2019 spitzte sich die Lage zu. Erstmals stand der Verdacht im Raum, dass die Drittpartnergeschäfte nie stattgefunden haben. Im Oktober 2019 planten Vorstand und Aufsichtsrat den Befreiungsschlag. Die Wirtschaftsprüfer von KPMG sollten sämtlichen Vorwürfen nachgehen - mit dem Ziel, sie zu widerlegen. Doch die Arbeit gestaltete sich zäh, Wirecard lieferte wichtige Unterlagen nicht oder nur schleppend. Braun ließ keine Zweifel erkennen: "Alle unsere Geschäftsbeziehungen sind authentisch", die Darstellungen [des anderen Mediums I] seien "falsch", sagte er [anderem Medium II]. Im März 2020 gab es eine Besprechung von KPMG mit Braun und Aufsichtsräten in den Räumen der Kanzlei Clifford Chance, die den Aufsichtsrat beriet. Zwei Teilnehmer können sich noch gut an Brauns Worte erinnern. Er soll sinngemäß gesagt haben: "Ich habe absolutes Herrschaftswissen. Die Transaktionen sind authentisch. Ich bin mir ganz sicher, dass das alles richtig ist." Brauns Anwalt äußert sich hierzu nicht.

Belegen konnte Braun die TPA-Transaktionen nicht. Am 21. April 2020 lieferten die KPMG-Prüfer einen "finalen Entwurf" ihres Berichts an Vorstand und Aufsichtsrat, der im Kern dieselben Vorwürfe zum Inhalt hatte wie die finale Fassung: Laut KPMG lagen keine ausreichenden Belege dafür vor, dass die TPA-Geschäfte stattgefunden hatten - ein potenzieller Schocker für die Aktionäre, wie auch Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann erkannte. Am 21. April um 23:58 Uhr forderte er den Vorstand per Mail auf, eine Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen. Diese sollte zumindest das Folgende enthalten: Der Vorwurf, dass Wirecards Geschäft mit ausländischen Partnern nicht existierte, konnte durch die KPMG-Prüfung bislang nicht widerlegt werden. Ursächlich dafür seien fehlende Nachweise, schwerwiegende Mängel in der Organisation und die fehlende Bereitschaft der Wirecard-Partner, an der Untersuchung mitzuwirken.

Was aber tat Braun? Am Abend des 22. April veröffentlichte er seine Sicht der Dinge, die wenig mit der Eichelmanns zu tun hatte: In seiner Ad-hoc-Mitteilung heißt es, KPMG habe bislang nichts Substanzielles festgestellt, was erfordere, die Jahresabschlüsse 2016 bis 2018 zu korrigieren. Belege für Bilanzmanipulation seien nicht gefunden worden. Dabei hatte KPMG-Vorstand Sven-Olaf Leitz Braun zuvor noch gewarnt, das so herauszugeben: Es "entspricht nicht unserer Wahrnehmung der tatsächlichen Gegebenheiten". Selbst der sonst so linientreue Finanzvorstand Alexander von Knoop fand, dass es so nicht gehe.

Was Braun veröffentlichte, war nicht falsch. Weil er aber wesentliche Informationen wegließ, wirkte die Meldung irreführend. Irreführung aber kann genauso Kapitalmarktbetrug sein wie eine Lüge. Brauns Adhoc konnte bei Anlegern den Eindruck erwecken, die KPMG-Prüfung werde wohl gut ausgehen, was sich auch an Wirecards Aktienkurs ablesen ließ. Der stieg nach Brauns Verlautbarung kurzfristig um rund zwölf Prozent.

Seine Strategie, die Lage zu positiv darzustellen, hat Braun eine Woche später perfektioniert. Als der KPMG-Bericht veröffentlicht wurde, fiel Wirecards Aktienkurs um rund 30 Prozent. Die ersten Fondsmanager forderten Brauns Rücktritt. Der aber blieb bei seiner Linie, dass bei Wirecard alles in Ordnung sei. In einem Telefonat mit Analysten teilte er mit, dass Wirecards Jahresabschlussprüfer von EY ihn informiert hätten, kein Problem damit zu haben, Wirecards Bilanzen für 2019 zu testieren.

EY ließ Braun und Wirecards Aufsichtsratschef wissen, eine solche Zusage niemals gegeben zu haben, und bat den Aufsichtsrat, zu prüfen, ob Brauns Statement nicht wegen möglicher Irreführung korrigiert werden müsse. Doch Braun korrigierte sich nicht.

Es dürften diese verhängnisvollen Mitteilungen an den Kapitalmarkt sein, die Braun vor Gericht am schwersten zusetzen, wenn es zu einer Anklage kommt. Denn sie sind eindeutig belegbar.

ANGEBLICH GAR NICHT ZUSTÄNDIG

Seine Anwälte haben in einem Zivilverfahren schon mal dargestellt, dass Braun sich nichts vorzuwerfen hat. "Der Beklagte hat seine Pflichten als Vorstandsvorsitzender der Wirecard AG durchgehend erfüllt", erklärten die Anwälte einem Aktionär, der Schadensersatz von Braun will. Für die von der Staatsanwaltschaft untersuchten Vorgänge seien Marsalek und Finanzvorstand von Knoop zuständig gewesen. "Der Beklagte unterlag der Pflicht, die Tätigkeiten der ressortzuständigen Vorstandsmitglieder zu verfolgen und sich hierüber berichten zu lassen. Einer laufenden Überwachung bedurfte es dagegen nicht." Denn: Es habe "keine konkreten Verdachtsmomente für ein pflichtwidriges Verhalten von Herrn Marsalek und Herrn von Knoop" gegeben.

Brauns PR-Berater Dirk Metz ergänzt: "Von den Schattenstrukturen und Veruntreuungen hat Markus Braun nichts gewusst und von ihnen auch nicht profitiert - zumal er als Hauptaktionär selbst viel Geld verloren hat." Ob die geschädigten Aktionäre auch finden, dass Braun einer von ihnen ist?

Das Bild des Mannes, der an seine Firma glaubte, sich über beide Ohren verschuldete, um Aktien zu kaufen, ist nicht ganz stimmig. Braun hat den Grundstock seines Wirecard-Anteils im Jahr 2004 günstig von Großaktionären bekommen. "Zum Vorzugspreis, es war nicht teuer", bestätigte der damalige Großaktionär und Ex-Wirecard-Aufsichtschef Klaus Rehnig im vergangenen Jahr [dem Medium].

Ist es also Brauns Plan, als dümmster und unfähigster CEO aller Zeiten vor Gericht zu stehen? Das dürfte sich mit seinem Ego kaum vertragen. Früher, da war er getrieben von seiner Erfolgsgeschichte, da tingelte er in Rollkragenpulli und Sakko, als eine Art deutscher Steve Jobs, über die Podien der Techbranche. Heute dominiert der Verteidigungskampf seinen Alltag. Es scheint ihm gar nichts anderes übrig zu bleiben, als nach jedem Schnipsel zu greifen, der für seine Unschuld spricht. Wenn er auch nur teilweise gestehen würde, könnte es gut sein, dass seine Managerhaftpflichtversicherung nicht zahlt - und er seine teuren Berater nicht entlohnen könnte.

So bleibt zum Schluss noch die Frage offen, was Markus Braun so den ganzen Tag gemacht hat. Seine E-Mails geben einen kleinen Einblick: Braun interessierte sich vor allem für den Börsenkurs der Wirecard AG, den er mit Nachrichten hochtreiben wollte. Er ließ sich Vorschläge für Pressemitteilungen machen, gab sie frei. Er befasste sich mit dem Autogrammwunsch eines Fans. Während seine Wirecard AG dem Untergang entgegentaumelte, feilte er mit seinen PR-Beratern an Texten für Tweets.

Die vorerst letzte Botschaft setzte er am 19. Juni 2020 ab, an dem Tag, an dem ihn Wirecards Compliance-Chef aus seinem Büro in Aschheim eskortierte und ihm seinen Hausausweis abnahm. Braun twitterte an diesem Tag auf Englisch, hier die Übersetzung: "Wirecard hat exzellente Mitarbeiter, ein starkes Geschäftsmodell, eine herausstechende Technologie und reichlich Ressourcen für eine großartige Zukunft." So war und so ist sie nun mal: die fabelhafte Welt des Dr. Braun.