Rasen hat seinen Preis
von Niklas Hoyer und Lukas Zdrzalek
WirtschaftsWoche vom 12.11.2021
In Deutschland steigt das Angebot an Telematiktarifen, die die Beiträge für die Kfz-Versicherung nicht mehr an statistischen Daten, sondern am Fahrverhalten der Nutzer orientieren. Möglich ist das durch eine Messstation im Auto oder bei Daten sammelnden Systemen wie Tesla. Die Verbraucher können Geld sparen und zu sicherer Fahrweise animiert werden, problematisch sind Datenschutzbedenken sowie Intransparenz der Tarife.
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Rasen hat seinen Preis
Manchmal bleibt Alexander Oerding gar nichts anderes übrig: Da muss er einfach Gas geben und das Pedal seines BMW durchdrücken. Oerding arbeitet in der Rettungsleitstelle im rheinischen Neuss, die Feuerwehren alarmiert. In seiner Freizeit engagiert er sich zudem für die freiwillige Feuerwehr. Die Folge: Er muss regelmäßig zu Einsätzen rausfahren.
Jüngst wurde die freiwillige Feuerwehr zu einem Küchenbrand gerufen: "Das Feuer hatten wir schnell unter Kontrolle, niemand wurde verletzt", berichtet Oerding. Die gute Tat machte dem Feuerwehrmann gleichwohl Ärger, weil die Einsatzfahrt auch durch eine 30er- und eine 50er-Zone führte: Oerding darf in solchen Notsituationen schneller als erlaubt fahren. Nur: Seine Versicherung kann damit nicht umgehen.
Oerding hat sich, als er in diesem Jahr seinen BMW kaufte, für eine spezielle Kfz-Versicherung entschieden: Je sicherer er fährt, desto weniger muss er für seine Police zahlen. Dazu zeichnet ein im Auto angebrachtes Gerät seinen Fahrstil auf, misst, ob er sich an Tempolimits hält - und errechnet aus diesen Daten eine Punktzahl, maximal möglich ist ein Wert von 100. Die Folge der rasanten Fahrt zum Küchenbrandeinsatz: Oerdings Punktestand an jenem Tag sackte auf sieben ab, er war zu schnell gefahren. Oerding informierte seinen Versicherer, die Huk-Coburg, über das Problem - und seine Sorge, die Einsätze könnten seine Punktzahl dauerhaft drücken. Der Versicherer wiegelte ab: "Einzelne Ereignisse" wie Feuerwehreinsätze "werden den Fahrwert auf Dauer nur gering beeinflussen".
Eine Kfz-Versicherung, deren Beitrag sich am Fahrverhalten orientiert - und nicht mehr nur an statischen Merkmalen wie Automodell, Wohnort und Alter? Seit etwa 2015 werden solche Angebote, auch Telematiktarife genannt, in Deutschland zunehmend beworben. Immerhin 540 000 dieser Policen soll es in Deutschland 2020 gegeben haben, hat das Beratungsunternehmen Ptolemus aus Brüssel ermittelt - was allerdings nicht einmal 1,5 Prozent aller in Deutschland versicherten Autos entspricht.
Nun aber scheint der Trend an Dynamik zu gewinnen. Auch Tesla bietet in den USA nun eine Versicherung an, deren Beitrag sich nach dem Fahrverhalten richtet. In Deutschland dürfte ein ähnliches Angebot bald folgen. Ausgerechnet die Coronapandemie hat solchen Tarifen geholfen: Autos standen ungenutzt herum, die Zahl der Unfälle mit Personenschaden sank deutlich (siehe Grafik Seite 74). Trotzdem zahlten viele Autohalter weiter ihren normalen Versicherungsbeitrag, der allein bei der verpflichtenden Kfz-Haftpflicht im Schnitt etwa 260 Euro im Jahr beträgt. Der Beitrag der traditionellen Kfz-Versicherungen orientiert sich zwar auch an der Fahrleistung, doch meist muss die im Voraus angegeben werden - längst nicht alle Versicherer erstatteten wegen Corona Geld. Der simpelste Weg, um bei der Kfz-Versicherung zu sparen, war bislang meist ein Versicherungswechsel. Bis Ende November läuft die Wechselsaison (siehe Seite 75).
ABKEHR VOM VERSICHERUNGSPRINZIP?
In den neuen Tarifen hingegen soll besonders risikoschonendes Verhalten stets belohnt werden, beim Versicherer Huk-Coburg beispielsweise mit bis zu 30 Prozent Beitragsrabatt. Manche sehen darin schon eine Abkehr vom Grundprinzip einer Versicherung. "Anbieter berücksichtigen und bepreisen in ihrer Kalkulation zunehmend die Risiken eines Einzelnen, anstatt wie bisher die Gefahren einer Gruppe, eines Kollektivs abzuschirmen", sagt Mirko Theine von der Unternehmensberatung ZEB. Schließlich verfügten sie über immer mehr Daten, die dieses Vorgehen erst möglich machen.
Noch mehr Daten haben die Autohersteller. Immer häufiger bieten diese deshalb variabel bepreiste Kfz-Versicherungen selbst an. 2018 standen sie weltweit nicht einmal für jedes achte der neu eingeführten Versicherungsprogramme. Zwei Jahre später entfiel schon ein Drittel der neuen, am Fahrverhalten orientierten Angebote auf die Autobauer. Die Auswertung von Fahrdaten und passende Angebote dazu würden künftig "zu einem der großen Schlachtfelder der Autoindustrie", sagt Fabian Brandt, Autoexperte der Beratung Oliver Wyman.
Teslas Vorstoß passt da perfekt ins Bild. Eine klassische Police bietet das Unternehmen in Kalifornien schon seit Jahren an. Die Beiträge der jüngst in Texas lancierten Versicherung aber werden anhand der Fahrdaten berechnet.
In Deutschland vermittelt Tesla seinen Kunden bislang nur einen speziellen Tarif des Direktversicherers BavariaDirekt, Teil der Sparkassen-Gruppe. Doch die auf Malta registrierte Versicherungstochter Tesla Insurance Limited hat bereits eine deutsche Niederlassung gegründet, die seit März Versicherungen anbieten darf.
Wohin all das führt? Noch zeichnen sich nur Tendenzen ab. Im ersten Schritt könnten all jene profitieren, die bislang allein wegen bestimmter Risikomerkmale viel zahlen mussten - junge Leute etwa, auch wenn sie vorsichtig und sicher fahren. Sollte ganz am Ende ein teil- oder vollautonomes Fahren stehen, wären auch die Telematiktarife nur eine Übergangslösung - weil in diesem Szenario das Ende der heutigen Kfz-Versicherung droht. "Dann sollten wir einen Systemwechsel in Richtung Produkthaftung vornehmen, da der Fahrer die Schadensereignisse nur noch eingeschränkt beeinflussen kann", sagt Axel Kleinlein vom Bund der Versicherten.
UNFALLRISIKO SINKT
Noch ist es nicht so weit. Bei den US-Policen von Tesla wird beispielsweise eine Punktzahl berechnet: Je höher diese ist, desto sicherer fährt ein Tesla-Kunde - und desto günstiger ist die Police. Für die Punktzahl misst Tesla unter anderem, ob ein Fahrer einem vor ihm fahrenden Auto zu nahe kommt, ob er oft hart bremst und wie oft der Wagen die Insassen vor einem drohenden Crash warnen muss.
Ähnlich läuft es auch beim Telematiktarif der deutschen Huk - den auch Feuerwehrmann Oerding nutzt. Daniel John entwickelt bei der Huk Kfz-Versicherungen und hat das eigene Produkt im Alltag ausprobiert. Sein Votum fällt - wenig überraschend - positiv aus: Ein Jahr lang habe er die maximal mögliche Zahl von 100 Punkten erfahren und den vollen Rabatt von 30 Prozent erhalten. Die Huk-Kunden könnten solche Rabatte auch erreichen, wenn sie vorausschauend und mit Sicherheitsabstand führen.
Johns Beispiel zeigt, jedenfalls aus Sicht der Anbieter, den zweiten Hauptnutzen der neuen Policen: Die Kunden sollen nicht nur Geld sparen, sondern dadurch motiviert werden, sicherer zu fahren. Daten des Versicherers Discovery aus Südafrika deuten in diese Richtung. Der Anteil gut bewerteter Fahrer steige im eigenen Telematiktarif kontinuierlich an, je länger Versicherte dabeiblieben, berichtete Discovery-Bereichsvorstand Ilan Ossin der Beratung Ptolemus. Im ersten Jahr mit Telematik seien 40 Prozent gut bewertet, nach sechs Jahren schon rund 70 Prozent, während die Unfallwahrscheinlichkeit abnehme. Sollten sich diese Erfahrungen in anderen Ländern bestätigen, würden die neuen Angebote die Gesamtkosten des Autoverkehrs senken. Davon könnten alle profitieren.
Längst schwärmen Versicherungsmanager davon, wie vielfältig sich die neuen Tarife einsetzen lassen. Stephen Voss etwa. Er hat schon für die Großversicherer AIG und Zurich gearbeitet, ehe er 2017 Neodigital mitgründete, einen Onlineversicherer aus dem saarländischen Neunkirchen. Derzeit soll Neodigital mit der Huk darüber verhandeln, ob diese bei dem Start-up einsteigt - um dann eine Gemeinschaftsfirma für Kfz-Versicherungen zu starten.
Voss will zu den Gesprächen mit der Huk nichts sagen, spricht stattdessen lieber über Telematiktarife. "Die Kunden werden sie annehmen, weil sich die Policen lohnen", glaubt er. Neodigital will für solche Produkte "die technologische Basis anbieten", sagt Voss. "Wir erfassen die Daten im Auto und berechnen daraus eine Punktzahl, die Versicherer nutzen können, um ihre Tarife zu kalkulieren."
Bedeutet: Neodigital hat - zusammen mit inzwischen 21 Versicherern - eine Minimessstation erdacht, die Fahrer künftig im Auto anbringen sollen. Noch bis Ende des Jahres läuft die Testphase. Die Messstation erfasst unter anderem, wie schnell der Wagen beschleunigt, und überträgt die Daten auf das Smartphone des Fahrers. Ein Dienstleister errechnet daraus Durchschnittswerte, die er dem Versicherer schickt.
Dass sich das Gerät mit dem Smartphone verbindet, lässt Voss träumen: "Künftig können sich mehrere Personen mit der Messstation verbinden. Dadurch lässt sich nachvollziehen, wer wie schnell mit diesem Auto fährt", sagt er. "Denkbar ist, dass mehrere Personen ein Auto nutzen, aber jeder eine eigene Police hat."
TESLA SETZT AUF DAS APPLE-PRINZIP
Während Versicherer erst Messverfahren entwickeln müssen, erfassen Autohersteller wie Tesla ohnehin massenweise Daten und werten sie aus. "Tesla kann deshalb auf mehr Daten zugreifen", sagt ZEB-Berater Theine. Einer aus der Branche meint: "Das ist deren Joker."
Tatsächlich zeichnen die von Versicherern entwickelten Messgeräte einige Daten nicht auf, die das Auto selbst erfasst. Dazu zählen der Reifendruck und die Nutzung eines Assistenzsystems. "Tesla verfügt über all diese Daten, die helfen können, das Risiko noch besser abzuschätzen", sagt Theine.
Tesla-Chef Elon Musk könnte den Wissensvorsprung nutzen, um einen Mikrokosmus rund um die eigenen Autos zu bauen - ähnlich wie iPhone-Hersteller Apple. Schließlich stellt Tesla heute schon die eigenen Autos nicht nur her, sondern verantwortet auch den Handel damit. Selbst viele Reparaturwerkstätten sind an Tesla gebunden. Die Versicherung ergänzt das perfekt.
Musk kam überhaupt nur auf die Idee zur eigenen Kfz-Versicherung, weil er seine Kunden benachteiligt sah. Denn Versicherer fürchteten besonders hohe Reparaturkosten bei Tesla-Modellen und verlangten von deren Fahrern höhere Beiträge. Weil Versicherungsbeiträge durchaus für 10 bis 20 Prozent der Autonutzungskosten stehen, kann solch ein Nachteil den geschäftlichen Tesla-Erfolg gefährden.
Nun könnte der E-Auto-Bauer künftig die ganze Kette abdecken und davon profitieren. Das Risiko bestimmter Schäden, die damit verbundenen Kosten, deren Vermeidung oder Behebung wären so viel transparenter - innerhalb des Konzerns. Zumal Tesla bereits über einen großen, in den vergangenen Jahren angehäuften Berg solcher Informationen verfügt.
Nicht nur im Fall des E-Auto-Herstellers führt dieser Wissensvorsprung zu Diskussionen. Längst ist eine Debatte darum entbrannt, wer Zugang zu den Autodaten hat. "Für uns sind die im Fahrzeug gespeicherten Daten grundsätzlich dem Fahrer oder Halter zuzuordnen. Somit muss auch der Fahrzeughalter oder - fahrer frei entscheiden können, wem er seine Daten zur Verfügung stellt", sagt Katharina Amann, bei der Allianz zuständig für Versicherungskooperationen mit Autoherstellern. Wäre es anders, könnten Autobauer die Versicherer aus dem Geschäft aussperren. Huk-Manager John erwartet für Europa, dass der Kunde über seine Daten entscheiden kann, die EU-Kommission künftig dafür sorge, dass Versicherer "relativ einfach Zugriff" auf die Daten erhalten.
Kritiker sehen beim Trend zu Telematiktarifen weitere Datenprobleme: Es geht um den Schutz dieser Informationen. Marion Jungbluth etwa, Leiterin des Mobilitätsteams beim Verbraucherzentrale Bundesverband, findet: "Telematiktarife dienen mehr den Versicherungen als den Kfz-Haltern." Zwar könnten Letztere wenige Euro sparen, bezahlten diese aber, indem sie sensible Daten preisgäben. "Je detaillierter ein Bewegungsprofil ist, desto leichter lässt sich auf den Lebensstil und Gewohnheiten zurückschließen." Telematiktarife könnten Autofahrer zunehmend "gläsern" machen. "Ein Tarif, der viele Daten sammelt und personenbezogene Daten eventuell weitergibt, ist langfristig teuer", sagt sie.
Verbraucherschützer Kleinlein vom Bund der Versicherten bemängelt außerdem die Intransparenz vieler Telematiktarife. Oft bleibe völlig unklar, "wann der Versicherte durch welches Handeln in welcher Ausprägung seine individuelle Bewertung positiv beeinflussen kann". An anderer Stelle sei zwar klar, was als riskant eingestuft werde, aber es sei nicht steuerbar. "Wer als Pendler morgens und nachmittags in der Rushhour fahren muss, der muss häufiger bremsen und beschleunigen", so Kleinlein. Damit könnten Pendler als schlechtere Fahrer eingestuft werden. "Ausweichoptionen hat der Versicherte dann nicht."
Die Frage nach den Folgen der Telematiktarife könnte noch heikler geraten, zu einer großen gesellschaftlichen Debatte führen: Schließlich könnten die Tarife zu einer Selektion und Umverteilung führen, sollten sie enormen Einfluss erlangen. Steigen später einmal die Preise für gewöhnliche Tarife, weil nur noch risikofreudige Fahrer übrig bleiben, während die vorsichtigen längst gewechselt sind? Huk-Manager John verteidigt die neuen Angebote: Das Modell sei "sehr, sehr fair, weil wir die tatsächlichen Risiken eher erfassen können".
Zumal es bei den herkömmlichen Kfz-Versicherungen durchaus fragwürdige Effekte geben kann, wenn etwa ein Umzug in eine als riskanter eingestufte Wohngegend den Beitrag steigen lässt. Oder junge Fahranfänger sich erst über Jahre ohne Schäden eine hohe "Schadensfreiheitsklasse" aufbauen müssen, damit ihr Beitrag dann sinkt.
Feuerwehrmann Oerding jedenfalls ist mit seinem Telematiktarif zufrieden, trotz der Nachteile durch die Einsatzfahrten. Nur kleinere Probleme gebe es noch: "Das System weist schon mal Tempolimits an Stellen aus, an denen kein Schild hängt." Ein anderes Mal sei das Gerät von einer Baustelle ausgegangen, die offenbar nicht mehr existierte. Die Huk habe ihn beschwichtigt: Das Streckennetz werde ständig aktualisiert.
Das Geschäft mit der Kfz-Versicherung ist eben vor allem ein Geschäft mit: Daten.