Leichenwagen für die Mafia
von Markus Zydra und Uwe Ritzer
Süddeutsche Zeitung vom 07.05.2022
Durch Falsch- und Ferngutachten des Prüfkonzerns TÜV-Süd können notdürftig reparierte Unfall- und Importautos sowie illegale Umbauten von kriminellen Banden mit dem Gütesiegel "TÜV-geprüft in Germany" im Ausland verkauft werden, der Schaden geht in die Milliarden. Der Artikel weist Verbindungen korrupter Prüfer zur Mafia und nach Osteuropa nach.
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Leichenwagen für die Mafia
Die italienischen Polizisten beobachten die Autowerkstatt in der Nähe von Parma schon länger. Sie haben den Verdacht, dass dort krumme Geschäfte ablaufen. Am 18. April 2017, einem Dienstag, schlagen sie zu. Die Ermittler gehen rein, verschaffen sich einen Überblick und kontrollieren die Personalien der Anwesenden. Darunter ist auch ein deutscher Staatsbürger. Er heißt Thomas Eder. Der Kfz-Sachverständige ist nicht irgendwer. Immerhin sitzt er im Aufsichtsrat des TÜV Süd, jenem technischen Prüfkonzern, der von München aus international agiert.
Die italienischen Polizisten wundern sich und halten Eders Personalien fest. Bei der Befragung der Anwesenden erfahren sie, dass der Mann vom TÜV Süd für einige Fahrzeuge Gutachten für deren Zulassung in Deutschland erstellen sollte. Das kommt den Ermittlern verdächtig vor: Zum einen, weil ein deutscher Kfz-Gutachter im Ausland keine Gebrauchtwagen prüfen und zertifizieren darf. Zum anderen besitzt die Werkstatt gar nicht die technischen Voraussetzungen für solche Untersuchungen.
Der Fall ist seltsam, rätselhaft. Für Eder wird er aber keine juristische Folgen haben. Er sei dort gewesen, um landwirtschaftliche Arbeitsmaschinen zu begutachten, wird der TÜV Süd später auf [Medium]-Nachfrage erklären. Das sei erlaubt. Doch Ermittler sagen, in der Werkstatt hätten keine Traktoren oder dergleichen gestanden, sondern Gebrauchtwagen der Marke Fiat. Und diese Autos seien so stark umgebaut gewesen, dass sie in Italien niemals eine Zulassung für den regulären Straßenverkehr erhalten hätten. Was hatte also TÜV-Experte Eder dort, in einer von der italienischen Polizei überwachten Werkstatt, zu suchen? Er lässt zwei [Medium]-Anfragen dazu unbeantwortet.
Das Bild der unabhängigen Prüfer bekommt Flecken
Wenn Staatsanwälte wegen Betrugs, Bestechung und Hehlerei ermitteln, Polizisten zu Razzien ausrücken und es bei alledem auch um Geschäfte mit der italienischen Mafia und den Hells Angels geht, denkt man an Kriminelle und andere halbseidene Gestalten, aber nicht an Kfz-Prüfer vom guten alten deutschen TÜV. Jene Götter im Blaumann, die bei Otto Normalautofahrern auf Rostsuche penibel mit ihrem Schraubenzieher am Auspuff herumstochern, Bremsbeläge und Reifenprofile millimetergenau vermessen, ehe sie die ersehnte Plakette auf das Nummernschild kleben, die jedes Auto braucht, soll es auf öffentlichen Straßen fahren dürfen.
Doch das Bild von den unbestechlichen Wächtern der technischen Sicherheit im Straßenverkehr hat bei genauerem Hinsehen hässliche Flecken. Nach Recherchen [des Mediums] vergaben der TÜV und andere einschlägige deutsche Prüforganisationen wie Dekra unter fragwürdigen Umständen Prüfsiegel für Hunderttausende Fahrzeuge, von denen ziemlich viele nicht verkehrssicher waren. Dabei handelte es sich um eigenmächtig umgebaute Serienfahrzeuge und importierte Unfallautos, die notdürftig zusammengeschraubt wurden und wegen ihres miserablen technischen Zustandes nie hätten zugelassen werden dürfen. Deutsche Prüfer haben sogar Autos für technisch einwandfrei erklärt, die sie persönlich nie gesehen, geschweige denn technisch untersucht haben.
Das belegen umfangreiche Unterlagen aus mehreren Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, die [dem Medium] vorliegen, das bestätigen aber auch in die krummen Geschäfte involvierte Personen. Die Vorgehensweise erinnert an Ärzte, die Diagnosen bei Kranken stellen, mit denen sie nie Kontakt hatten. Oder die Schwerkranke mal eben schnell für gesund erklären. Aufgrund solcher Ferngutachten und falscher Expertisen konnten die Fahrzeuge hierzulande problemlos zugelassen und in der Regel mit hohem Profit weiterverkauft werden. Und meistens war bei alledem Korruption im Spiel.
Es ist ein kriminelles Milliardengeschäft. Das ergibt sich aus den siebenstelligen Importzahlen schrottreifer US-Autos nach Europa sowie zahlreichen Ermittlungsverfahren von Polizei und Justiz. Und es stellt sich die Frage, ob deutsche Sachverständigenorganisationen nur wegschauen - oder aktiv mitwirken. Letzterem Verdacht geht beispielsweise die Staatsanwaltschaft Baden-Baden nach. Ein langjähriger Gutachter des TÜV Süd steht im Verdacht, "Gefälligkeitsgutachten zu vorgenommenen Umbauten an den Fahrzeugen" erstellt zu haben, "ohne die Fahrzeuge selbst begutachtet zu haben", bestätigt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Es geht um Autos, die Italien nie verlassen haben, mithilfe der Ferngutachten aber dort wie auch im Badischen zugelassen wurden.
Solche und ähnliche Fälle gibt es landauf, landab. Allerdings werden diese nicht zentral erfasst, jede Behörde arbeitet meist für sich. Gleich 14 Beschuldigte führt beispielsweise die Staatsanwaltschaft Duisburg in ihrem Verfahren in den Akten. Es geht um importierte US-Wagen, wobei zwei von ihnen der Rockerbande Hells Angels zugeordnet werden. Der Vorwurf lautet unter anderem gewerbs- und bandenmäßige Hehlerei und Betrug. Bei der Staatsanwaltschaft Dortmund laufen Ermittlungen gegen Gutachter des TÜV Rheinland und einer Dekra-Organisation aus den neuen Bundesländern. Gegen zwei Beschuldigte erhob sie bereits im April 2020 wegen Falschbeurkundung, Bestechlichkeit und Bestechung Anklage vor der Wirtschaftskammer des Landgerichts.
Das Amtsgericht Rosenheim verurteilte einen Prüfer des TÜV Süd Ende 2020 wegen Falschbeurkundung und Bestechlichkeit im Amt zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe. Der Mann, der nach Angaben des TÜV Süd inzwischen aus dem Unternehmen "ausgeschieden" ist, hatte jahrelang Autos begutachtet, die er, außer vielleicht auf Fotos, nie gesehen hatte. Er trug erfundene Bremswerte in seine Expertisen ein. Einige Fahrzeuge begutachtete er im Ausland, obwohl das deutschen Kfz-Prüfern gesetzlich verboten ist. Zur Belohnung lud ihn ein von alledem profitierender Autohändler zu USA-Reisen ein: San Francisco, Las Vegas, New York - das volle Programm, alles inklusive. Schließlich hatte ihm der Mann vom TÜV Süd mit seinen Gefälligkeitsgutachten geholfen, allein binnen eines halben Jahres an die hundert Autos in Deutschland und Österreich zu verkaufen. Der Händler erhielt 16 Monate Haft mit Bewährung.
Der TÜV Süd fällt immer wieder negativ auf
Das alles will nicht so recht zu jenem Ethikkodex passen, in dem der TÜV Süd propagiert, seine Arbeit stets "verlässlich erfüllen" zu wollen. Der Konzern gerät immer wieder in die Negativschlagzeilen: Vor dem Landgericht München klagen Überlebende des Bergbauunglücks in Brasilien auf rund 440 Millionen Euro Schadenersatz, da Experten des TÜV Süd einen später geborstenen Damm als sicher zertifiziert hatten. Bei dem Unglück 2019 starben 270 Menschen. Auch während der Finanzkrise machte der TÜV eine schlechte Figur, als er umtriebige Finanzanbieter mit einem Prüfsiegel aufwertete, was Anleger dazu verführte, in riskante Finanzprodukte zu investieren. Manch einer verlor viel Geld.
Und nun also auch der Fahrzeugbereich - das Kerngeschäft der Sachverständigenbranche. Dort, wo es um Leben und Tod auf den Straßen geht. TÜV, Dekra, GTÜ, KÜS und wie sie alle heißen, erfüllen im Auftrag des Staates hoheitliche Aufgaben, wenn sie Fahrzeuge zu den turnusmäßigen Hauptuntersuchungen vorfahren lassen. Sie werden von den Verkehrsministerien der Länder beaufsichtigt. Was offenbar Vorfälle wie an einem regnerischen Oktobertag 2018 nicht verhindert.
Da staunten Autobahnpolizisten nicht schlecht, als sie auf der A 9 bei Berg im oberfränkischen Landkreis Hof vor einem ebenso zerbeulten wie überlangen goldfarbenen Leichenwagen standen.
Der Maserati, Schätzwert mehr als 100 000 Euro, war auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern geraten und in die Leitplanke gekracht. Am Steuer saß ein 58-Jähriger aus dem italienischen Carrara, der in Berlin eine Leiche abholen und nach Italien überführen sollte. Dort erfreuen sich aufgemotzte Luxusautos speziell bei Familien von Mafiaorganisationen wie der Ndrangheta großer Beliebtheit für das letzte Geleit. Wogegen prinzipiell nichts einzuwenden wäre, würde es sich bei den ungewöhnlichen Leichenwagen nicht um Serienfahrzeuge handeln, die in Hinterhofwerkstätten eigenmächtig verlängert und umgebaut wurden. Doch solche Fahrzeuge stellen auch ein gewaltiges Verkehrsrisiko dar, denn Verlängerungen um bis zu zwei Meter verändern nicht nur Maße und Gewicht der Autos erheblich, sondern auch deren Fahreigenschaften, Aerodynamik und Bremswege. Was deutsche Prüfer nicht daran hinderte, Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern auch nach dem Umbau für unproblematisch zu erklären. "Die Strafverfahren in Baden-Baden und Rosenheim zeigen, wie Mitarbeiter des TÜV Süd mit Kriminellen aus Italien kooperieren", sagt ein Insider. "Und dabei in Kauf nehmen, dass diese Kriminellen zumindest teilweise der Mafia zuzurechnen sind."
Dass in vielen Fällen geschmierte deutsche Prüfer bei der Legalisierung illegaler Umbauten eine zentrale Rolle spielen, fiel der Polizei nach und nach auf. Als Erstes wunderten sich Beamte in Nordrhein-Westfalen über eine exorbitante Häufung von Tageszulassungen für Maserati-Leichenwagen. Der Grund: Die Formalitäten über und in Deutschland abzuwickeln, ist der einfachste Weg. In Italien ist es eine langwierige bürokratische Prozedur, nachträgliche Umbauten an einem Auto genehmigt zu bekommen. In Deutschland reicht die Unbedenklichkeits-Expertise eines Sachverständigen, um die Zulassungspapiere zu erhalten. Die dürfen in jedem anderen EU-Land umgehend in eine nationale Zulassung umgewandelt werden.
Das ganz große kriminelle Massengeschäft läuft jedoch mit Importautos. Und wieder sind deutsche Experten auf fragwürdige Weise involviert. "Hier prüft TÜV Süd" steht groß auf dem Transparent, das drei Männer für ein Erinnerungsfoto stolz vor sich gespannt haben. Die Aufnahme ist brisant. Stehen die drei Prüfer des TÜV Süd doch vor einer Werkstatt in der litauischen Hauptstadt Vilnius, wo sie eigentlich gar nicht hätten tätig werden dürfen. Denn Paragraf sechs des Kraftfahrsachverständigengesetzes erlaubt Sachverständigen die Prüfung von Gebrauchtwagen nur in ihrem angestammten heimatlichen Umfeld. Es sei denn, es gibt eine Ausnahmegenehmigung. Doch das zuständige bayerische Verkehrsministerium verneint auf Nachfrage, dem TÜV Süd jemals eine solche Genehmigung erteilt zu haben.
Die drei Männer mit dem Transparent arbeiteten normalerweise in TÜV-Süd-Niederlassungen in Oberfranken. Zwischen 2016 und 2018 fliegen sie aber alle paar Wochen für einige Tage nach Vilnius, um in einer auf einen Tierarzt registrierten Werkstatt Unbedenklichkeits-Expertisen für schrottreife Importwagen aus den USA auszustellen. Das Treiben fliegt auf, als deutsche Ermittler gegen einen in Bayern angesiedelten Importeur solcher sogenannten "Salvage"-Autos ermittelten. Dieser hatte die Fahrzeuge nach Deutschland geholt, hier einmal zugelassen und dann als "TÜV-geprüft in Germany" weiterverkauft. Im Jahr 2019 wurde der Importeur vom Landgericht Hof zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt.
Der TÜV Süd gibt sich arglos und teilt auf Anfrage mit: "Bei einer durch die Aufsichtsbehörde angestrengten Überprüfung der Begutachtungen konnte TÜV Süd darlegen, dass die Begutachtungen unter Beachtung geltender Richtlinien erfolgt waren. Weder die Qualität der Begutachtungen noch die Modalitäten der Abrechnungen wurden bemängelt." Das Verfahren gegen die TÜV-Beschäftigten wurde eingestellt, weil der ursprüngliche Tatverdacht wegen Bestechung und Bestechlichkeit bei den Prüfern letztlich nicht nachweisbar war.
Generell sind solche Tatnachweise nur sehr schwer zu führen. Staatsanwaltschaften müssen die fragwürdigen Autos einzeln aufspüren. Nicht selten sind diese aber längst weiterverkauft und in anderen Ländern zugelassen. Vor allem Litauen ist eine Drehscheibe für den Import von Salvage-Fahrzeugen in die EU und nach Deutschland. Dabei handelt es sich um Autos, die in den USA aus Sicherheitsgründen aus dem Verkehr gezogen wurden, meist nach schweren Verkehrsunfällen. US-Behörden sprechen von Certificate of Destruction, non-repairable, parts only, Dealer only, Junking oder Junk Certificate. Was bedeutet, dass sie dort nur noch zur Teileverwertung ausgeschlachtet werden dürfen. In Europa kehren die in den USA aussortierten Autos zurück auf die Straße. Dank der Hilfe deutscher Sachverständiger.
Die häufigsten Abnehmerländer sind neben Litauen auch Polen und Deutschland. Die einschlägigen Kfz-Handelsportale im Internet sind voll mit Angeboten von Luxusautos, die durch niedrige Preise auffallen. Die Kunden erfahren in der Regel nichts über deren Unfallhistorie. "Man könnte diesen Schrottfrisierungen Einhalt gebieten, aber keine der großen deutschen Sachverständigenorganisationen hat Interesse an den Fahrzeughistorien dieser Importfahrzeuge", sagt Carfax-Deutschlandchef Frank Brüggink, der genau diese Informationen europaweit anbietet.
Deutsche Ermittler fanden bei stichprobenhaften Überprüfungen von wieder zugelassenen Salvage-Fahrzeugen der Marken Audi und VW in fast allen Fällen Teile, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus gestohlenen Fahrzeugen stammten. Die Produktionsaufkleber waren entfernt worden, was eine Rückverfolgung unmöglich macht. Darüber hinaus verbauten die Schrauber defekte Airbag-Systeme, beließen beschädigte Lenkungen im Fahrzeug und verschweißten gebrochene Achsen unsachgemäß. Es gibt dokumentierte Fälle, wo sich während der Fahrt der Airbag öffnete oder ein aus zwei Karosserieteilen zusammengeschweißtes Auto plötzlich in der Mitte auseinanderbrach.
Gewinnmargen liegen bei bis zu 30 000 Euro je Fahrzeug
Der Gesamtschaden aus diesen kriminellen Machenschaften geht in die Milliarden, wie ein Insider am Beispiel eines Porsche vorrechnet. "Der Wagen wird für 30 000 Euro importiert, Mechaniker reparieren ihn notdürftig für einen sehr niedrigen Stundenlohn, gleichzeitig werden gestohlene Autoteile verbaut, die wenig kosten. Auf dem Markt erzielt so ein Fahrzeug dann 80 000 Euro." Die Gewinnmargen lägen je nach Typ bei 10 000 bis 30 000 Euro je Auto. In den vergangenen fünf Jahren wurden nach Angaben von Carfax eine Million solcher Schrottautos nach Europa verschifft, bevorzugt US-Fabrikate von Audi, BMW, Mercedes oder Porsche.
Allein die TÜV-Süd-Prüfer aus Oberfranken nahmen mit dem Salvage-Geschäft in Litauen binnen zwei Jahren rund 600 000 Euro ein. Etwa die Hälfte des Betrags war ordentlich als Umsatz verbucht - mit der anderen Hälfte ging es weniger transparent zu. Fahnder versuchten nachträglich, die wahren Geldflüsse zu rekonstruieren, was aber misslang. Das lag vor allem daran, dass die TÜV-Gutachter in Litauen in bar kassierten. Ohne Quittung, ohne Rechnung. Die Mitarbeiter flogen nach getaner Arbeit mit bis zu 10 000 Euro Cash im Flieger zurück, manchmal überließ man diese Aufgabe auch Kurieren.