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Lässt sich hier noch Weizen ernten?

von Wolfgang Uchatius, Moritz Aisslinger, Andrea Böhm, Lea Frehse, Christiane Grefe, Kerstin Kohlenberg und Fabian Kretschmer
Die Zeit vom 12.05.2022

Seit dem Krieg in der Ukraine ist der globale Weizenhandel von Knappheit bedroht, die Ernte und der Export erschwert, es drohen Hungersnöte. Die Reportage schildert die komplexen Zusammenhänge an einem Weizenbauer in der Ukraine, einem vom Import abhängigen Dorf in Kenia, einem Büro des World Food Programme im Senegal, einem Weizenzüchter aus dem Libanon, der die lokale Produktion stärken will und einem Weizenlager in China, wo aus Angst vor einer Hungersnot gehortet wird.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt. Tabellen und Grafiken werden in einem separaten PDF zugänglich gemacht.

Lässt sich hier noch Weizen ernten?

Dietrich Treis ist keiner dieser Menschen, die alles schwarz oder weiß sehen. Für ihn ist die Welt schwarz oder braun. Wobei schwarz besser ist, denn das bedeutet, dass im Boden viel Humus steckt. Und Humus macht den Boden fruchtbar.
Der Acker, an dem Treis an diesem Morgen Anfang April in seinem Wagen vorbeirollt, ist braun. Daran erkennt man zum einen, dass die Ernte hier im Umland von Passau in Niederbayern nie so gut sein wird wie auf einem schwarzen Acker. Und zum anderen, dass Treis nicht bei sich zu Hause ist, auf seinem Hof in der Ukraine, wo die schwarze Erde ihm im vergangenen Herbst eine Rekordernte bescherte. 35.000 Tonnen Getreide. Das sind 500 Eisenbahnwaggons.
»Irre«, sagt Treis.
Der Hof von Dietrich Treis liegt in Baryschiwka, 70 Kilometer östlich von Kiew. Man darf ihn sich nicht wie manchen deutschen Bauernhof vorstellen, mit Wohnhaus, Stall und Feldern drumherum. Treis, 58 Jahre alt, Maschinenbauingenieur, ist weniger Bauer als Manager. Er leitet eine Agrarfabrik mit 80 Angestellten, 13 Traktoren, 6 Lastwagen, 2 Mähdreschern, einem Bürogebäude und 4500 Hektar Land. Sein Chef, ein niederbayerischer Investor, hat das Unternehmen vor fünf Jahren gekauft und Treis als Geschäftsführer eingesetzt. Als der Krieg begann, verließ Treis die Ukraine, er leitet den Hof jetzt von Passau aus, auch die ukrainische Justiziarin und Buchhalterin sind inzwischen hier. Treis ist unterwegs, um die beiden abzuholen. Sie wollen sich per Videokonferenz mit dem Team in der Ukraine zusammenschalten. Es wird um eine wichtige Frage gehen.
Wie lassen sich Felder bestellen, wenn Bomben fallen und Panzer rollen?
Treis baut auf seinen Äckern sehr viel Weizen an. Auf der ukrainischen Schwarzerde wächst Getreide wie anderswo Unkraut. Die Ernte verkauft Treis rund um den Globus. Nach Afrika und in den Nahen Osten, neuerdings auch nach China. Unternehmen wie seines gibt es viele in der Ukraine. Das Land beliefert die Welt mit Weizen, wie der Irak oder Kuwait sie mit Öl beliefern.
Aber was bedeutet es für die Welt, wenn der Krieg die Lieferungen unterbricht?
Zurück in Passau, klappt Treis seinen Computer auf, er holt Kaffee und Pralinen. Die Buchhalterin und die Justiziarin nehmen auf der Eckbank vor dem Panoramafenster Platz. Treis ist im Haus der Schwiegereltern seines Chefs untergekommen. Man sieht die Donau und die Altstadt von Passau. Eine Aussicht, so schön wie friedlich. Keiner schaut hin.
Auf dem Bildschirm erscheinen jetzt die Gesichter von Treis’ wichtigsten Leuten in der Ukraine. Der Verkaufsleiter. Die Leiterin des Lagers. Der Chefingenieur. Die Finanzchefin. Der Agrarwissenschaftler. Weil sie in einer sogenannten kriegsrelevanten Industrie arbeiten, konnte Treis verhindern, dass die Männer zur Armee eingezogen werden. Nur bei seinem besten Traktoristen gelang das nicht. Wolodymyr ist ausgebildeter Panzerfahrer, auf ihn wollte die ukrainische Armee nicht verzichten. Wolodymyr, schon über sechzig, hat bereits in Afghanistan gekämpft, damals für die Russen.
»Guten Morgen! Ich freue mich, dass ich euch alle endlich mal wieder sehe.« Treis spricht Russisch, er hat es an der Uni gelernt und lebt seit mehr als 20 Jahren in der Ukraine.
Er fragt, ob es allen gut geht. Plauderstimmung kommt nicht auf. Sie fangen an, über den Weizen zu reden. Im Herbst haben Treis’ Leute ihn ausgesät, das ist Monate her, trotzdem sind die Halme gerade mal zehn Zentimeter hoch.
»Rasenhöhe«, sagt Treis und hebt die Hand.
Doch nun kommt der Frühling. Nach dem langen Winter steigen auch in der Ukraine die Temperaturen. Die Pflanzen beginnen zu wachsen. Wie kleine Buchhalter ziehen sie eine Art Zwischenbilanz. Sie prüfen, wie viele Nährstoffe sie zur Verfügung haben und wie viele Weizenkörner sie damit bis zum Sommer ausbilden können. Je besser die Pflanzen jetzt mit Nährstoffen versorgt werden, desto mehr trauen sie sich zu. Die Ähren werden länger und dichter, die Körner zahlreicher.
Die Nährstoffe muss Treis liefern. Er muss seine Felder düngen, dann kann es eine gute Ernte werden.
Aber auf den Feldern liegen Minen.
Die Finanzchefin sagt: »Im Nachbarort ist ein Traktor auf eine Mine gefahren. Dem Fahrer ist wohl nichts Schlimmes passiert. Aber der Traktor ist hin.«
Kurzes Schweigen. Dann sagt Treis: »Kann uns die Bürgerwehr da helfen?«
Der Verkaufsleiter: »Auf dem Nachbarbetrieb sollen sie schon mit der Minenräumung angefangen haben.«
Der Produktionsleiter hat eine Drohne besorgt. Die will er über die Felder fliegen lassen und versuchen, nach Minen zu suchen. Doch lassen sich Minen aus der Luft aufspüren?
Treis sagt, er habe zehn Schutzwesten für die Traktorfahrer aufgetrieben. »Die haben die höchste Sicherheitsstufe, aber die Dinger wiegen zwölf Kilo.«
Ob die Westen bei einer explodierenden Mine vor Verletzungen schützen, wissen Treis und seine Mitarbeiter nicht. Woher auch? Sie wissen nur: Sie haben zwei Wochen Zeit, die Felder zu düngen, vielleicht drei Wochen. Schaffen sie es nicht, können sie die Ernte vergessen.
»Übermorgen schalten wir uns wieder zusammen«, sagt Treis. Dann beendet er die Konferenz.
Die Welt braucht Weizen, von Jahr zu Jahr mehr. 780 Millionen Tonnen waren es im Jahr 2021. Weizen steckt im französischen Baguette, im indischen Roti, im türkischen Bazlama und im deutschen Bauernbrot, er steckt im Hefezopf und in der Breze, im Brötchen und in der Semmel, aber auch in der Pasta, in der Pizza, im Apfelkuchen und im Backpulver. Der kleinkörnige, gelbliche Couscous ist aus Weizen und der gröbere, bräunliche Bulgur, genau wie Kekse und Cracker, Paniermehl und Backerbsen.
Ein Weizenkorn ist wenige Millimeter groß und besteht fast ausschließlich aus Stärke, Proteinen und ein wenig Fett. Trotzdem oder gerade deshalb ist Weizen ein Weltprodukt, genau wie Erdöl. Aber während es schon mehrere weltweite Ölkrisen gab, könnte dieser Krieg einen neuen Begriff in Gebrauch bringen: weltweite Weizenkrise.
Was bedeutet es für die Menschen, wenn eines ihrer wichtigsten Grundnahrungsmittel knapp wird? Diese Frage ist der Ausgangspunkt einer Recherche, die bei Dietrich Treis in Passau begonnen hat und weiterführen wird zu einer Frau namens Isabelle Mballa, die in Dakar, der Hauptstadt des Senegal, hauptberuflich den Hunger bekämpft, danach zu einem Bauern im Libanon, einem deutschen Bundesminister und schließlich, ganz am Ende, zu einem alten Mann in China, dessen Erzählungen deutlich machen, wie sich, rein theoretisch, diese Krise sehr einfach lösen ließe. Allerdings folgt die Wirklichkeit nicht immer der Theorie, und das ist ein Grund, weshalb am Rand eines kleinen Dorfes in Kenia der halb verbrannte Kadaver einer Ziege auf dem Boden liegt. Aus dem Gerippe steigt Rauch in die Luft. Ein paar Meter weiter liegt eine verkohlte Kuh.

Kenia

Die Tiere waren einmal der Reichtum dieses Dorfes, das Falama heißt und in der Provinz Garissa liegt, nicht weit von der Grenze zu Somalia, inmitten einer endlosen Trockensavanne. 450 Menschen leben hier in aus Ästen zusammengesteckten, mit Decken und Fellen behängten Rundhütten. Sie sind Viehhirten seit Generationen. Die Männer ziehen mit den großen Tieren, Kamelen und Rindern, oft monatelang umher auf der Suche nach Weideland und Wasser. Die Frauen kümmern sich um die Kinder, sie versorgen die Ziegen und Schafe, schleppen Wasser und Feuerholz, kochen, waschen. Es ist ein einfaches, ursprüngliches Leben, in dem Geld eine wichtige Rolle spielt. Die Menschen von Falama ziehen ihre Tiere groß, verpflegen sie mit Wasser und Futter und verkaufen sie dann auf dem Markt in der 15 Kilometer entfernten Kleinstadt. Mit den Einnahmen bezahlen sie das, was sie zum Leben brauchen. Das ist, wenn man so will, von jeher das Geschäftsmodell dieses Dorfes.
Es gibt Tiergehege in Falama, ein aus Ziegelsteinen gemauertes Schulgebäude, einen Wassertank und einen Laden, der Weizenmehl und Tierfutter verkauft, außerdem Süßigkeiten für die Kinder und die leuchtend orangene Hennapaste, mit der die Männer sich die Bärte färben. All das sind Anzeichen dafür, dass den Menschen hier ihr Leben gelingt, oder genauer, es waren Anzeichen dafür, denn jetzt ist der Wassertank leer, die meisten Tiere sind tot, und der Dorfladen ist pleite. »Wir haben nur noch anschreiben lassen«, sagt Halima Shide Omar. »Und niemand konnte mehr seine Schulden bezahlen.«
Halima Shide Omar ist eine hagere Frau, verhüllt mit Hi¬dschab und schwarzem Umhang wie alle Frauen im Dorf – trotz der 38 Grad an diesem Vormittag. Ihr Alter gibt sie mit »ungefähr 50« an. Zehn Kinder hat sie großgezogen, hat nie lesen und schreiben gelernt. Aber rechnen kann sie. Das Zwei-Kilo-Paket Weizenmehl kostete zuletzt knapp 150 kenianische Schilling, umgerechnet 1,20 Euro, im Vergleich zu 120 Schilling vor einem Jahr, und schon damals war der Preis kaum noch zu bezahlen. So kam es, dass der Laden schloss und der Weizen aus Falama verschwand.
Es gibt kein Internet und kein Fernsehen in Falama. Von der Ukraine und dem russischen Angriff auf dieses Land hat Halima Shide Omar noch nie gehört. Und doch hat der Krieg auch sie und ihre Familie erfasst. Das hat mit den Getreidefeldern der Ukraine zu tun und damit, dass Weizen, genau wie Erdöl, an der Börse gehandelt wird. Dort gelten einfache Regeln. Eine davon: Wenn das Angebot sinkt, steigt der Preis. Kaum hatte der Krieg begonnen, kaum stand das Bild von zerstörten ukrainischen Feldern und ausgefallenen Ernten als Möglichkeit im Raum, sprangen die Weizennotierungen an den Weltbörsen nach oben, um zehn, zwanzig, fünfzig Prozent. Es sind diese Zahlen, an denen sich die großen Rohstoffhändler orientieren, es sind diese Preise, die als Maßstab dienen für neu geschlossene Verträge. Sie verteuern die Schiffsladungen mit Weizen, die jeden Tag die Häfen der Welt erreichen. Ob in Frankreich oder Deutschland, Ägypten oder Indonesien, Brasilien oder Bangladesch, überall werden die höheren Preise weitergegeben von den Großhändlern an die Zwischenhändler und schließlich an die Einzelhändler, die Supermärkte, Bäckereien und Ladenbetreiber. Es dauerte nicht lange, dann hatte der neue Weizenpreis auch den äußersten Osten Kenias erreicht, wo das Dorf Falama liegt.
Und wo es seit anderthalb Jahren kaum geregnet hat.
Zwei Regenzeiten gibt es hier, normalerweise: die kurzen Regen, die zwischen Oktober und Dezember fallen, und die langen Regen von Ende März bis Ende Mai. Immer mal wieder kommt es vor, dass eine Regenzeit ausfällt oder sogar zwei und die Männer mit den Herden noch weitere Wege gehen müssen, um Nahrung für die Tiere zu finden, oder noch mehr Geld für Futter ausgeben müssen. Das passiert etwa einmal in zehn Jahren, aber nicht öfter. Zumindest war das früher so, aber inzwischen bleibt der Regen alle paar Jahre aus, und seit dem Herbst 2020 hat es nur hin und wieder getröpfelt. Das Einzige, was in der verdorrten Erde rund um das Dorf noch wächst, sind dornige Sträucher, deren Blätter nicht einmal die Ziegen fressen. Halima Shide Omar und die anderen Frauen laufen jetzt drei Stunden bis zur letzten Wasserstelle in der Gegend, einem kleinen Auffangbecken mit einer brackigen Brühe darin, aus der auch Wildtiere wie Hyänen und Wasserbüffel trinken. »Da muss man sehr aufpassen«, sagt Halima Shide Omar. Die Menschen im Dorf bekommen jetzt immer öfter Durchfall, vor allem die Kinder.
Fast zeitgleich mit der Dürre erfassten die Ausläufer einer zweiten Krise das Dorf, der Pandemie. Lockdowns, geschlossene Grenzen, blockierte Transportwege ließen auch in Kenia die Preise steigen, schon vor dem Ukraine-Krieg. Tierfutter wurde teurer, Speiseöl, Zucker, auch der Weizen, schon damals. Und wegen des ausbleibenden Regens besaßen die Familien immer weniger Tiere, die sie hätten verkaufen können, um an Geld zu kommen. Selbst Kamele starben, die bislang noch jede Trockenheit überstanden hatten. Aber noch kamen die Menschen zurecht, noch hatten sie ein paar Geldscheine für das Allernötigste, noch war da der Laden, der sie mit Weizen versorgte.
Dann begann in einem fernen Land ein Krieg, und die Preise stiegen noch weiter, nicht nur für Weizenmehl. Die Ukraine ist auch einer der wichtigsten Exporteure von Mais und Sonnenblumenöl.
Der Laden schloss, und in Falama zog der Hunger ein.

Senegal

6600 Kilometer weiter westlich, am anderen Ende Afrikas, läuft Isabelle Mballa in Dakar, der Hauptstadt des Senegal, die Stufen zu ihrem Büro hinauf, erster Stock, zweiter Stock, geradeaus. Im Gehen schaut sie kurz in die anderen Räume, wo Männer und Frauen vor ihren Computern sitzen und telefonieren und sich auf Websites durch Getreidesorten, Liefermengen und Preise klicken. »Das sind unsere Einkäufer«, sagt Mballa. »Sie versuchen, überall auf der Welt an Nahrungsmittel zu kommen.«
Mballa öffnet die Tür zu ihrem Büro, rückt Stühle zurecht. An der Wand hängen Bilder von Kindern in Flüchtlingslagern, in denen Mballa stationiert war. Mballa, 57 Jahre alt, arbeitet seit mehr als 20 Jahren für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das World Food Programme, kurz WFP. Die Organisation ist in rund 120 Ländern vertreten, versorgt mehr als 100 Millionen Menschen mit allem, was sie zum Überleben benötigen. Das WFP liefert Essen in Krisengebiete, bekämpft Mangelernährung und verteilt Schulmahlzeiten an Kinder. 2020 wurde es mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Bei Mballa läuft in Dakar alles zusammen, was mit dem Einkauf, dem Transport und der Qualität der Nahrungsmittel zu tun hat. Ihre Leute sind nicht nur für den Senegal zuständig, sondern auch für umliegende Länder wie Mauretanien, Niger, Mali, den Tschad und Burkina Faso.
Mballa kommt aus Kamerun, einst deutsche Kolonie. »Ich hatte vier Jahre Deutsch in der Schule«, sagt sie. Ein paar deutsche Wörter kann sie noch. Danke. Bitte. Entschuldigung. Für das WFP hat Mballa schon in Gambia, Madagaskar, Lesotho und Südafrika gearbeitet, sie hat eine Hungerkrise im Kongo erlebt, einen Putsch in Mali.
Sie sagt: »Die jetzige Situation ist selbst für mich neu.«
Das WFP hat eine sogenannte hunger map entwickelt, eine Hungerkarte, sie illustriert farblich und in Echtzeit die Ernährungssituation auf der Welt. In dunkel- oder hellgrün gefärbten Gebieten leben so gut wie keine unterernährten Menschen, Gelb signalisiert eine angespannte Lage, Orange und Rot eine zunehmende Ernährungskrise. Dunkelrot heißt: Hungersnot.
Legt man die Karten des WFP aus den vergangenen Jahren nebeneinander, fällt auf: Die roten Flecke sind kleiner und kleiner geworden. Bis zum Jahr 2018. Seitdem wachsen sie wieder. Das Klima. Die Pandemie. Und jetzt der Krieg. Inzwischen befinden sich weltweit 44 Millionen Menschen in 38 Ländern in einer akuten Notlage. Besonders schlimm ist die Situation im Jemen, im Kongo, im Südsudan, in Äthiopien, Madagaskar, Somalia und in Teilen Kenias.
Die Frage ist: Wie soll Isabelle Mballa es schaffen, die Hungernden zu ernähren, wenn dem WFP selbst die Nahrungsmittel fehlen?
Denn auch das Welternährungsprogramm hat vor Kriegsbeginn einen Gutteil des Getreides aus der Ukraine bezogen. Jetzt benötigt es Ersatz. Schnell. »Wir schauen uns gerade in Indien um«, sagt Mballa. Auch Argentinien und Australien sind mögliche Bezugsquellen. Das WFP schickt jeden Tag 30 Schiffe, 100 Flugzeuge und mehr als 5000 Lastwagen rund um den Globus, finanziert durch Spenden. Nach den USA ist Deutschland die größte Gebernation – 1,4 Milliarden Euro hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr bereitgestellt. Doch Verträge zu schließen, Transportwege zu organisieren kostet Zeit. Mballas Leute an ihren Computern suchen nun jeden Tag nach Alternativen zum Weizen. Sie kaufen mehr Reis ein als früher, mehr Hirse, mehr Sorghum. Aber sie sind nicht die Einzigen. Weshalb nun auch die Preise für Reis, Hirse und Sorghum steigen.

Deutschland

Im Wohnzimmer von Dietrich Treis in Passau erscheinen wieder Gesichter aus der Ukraine auf dem Bildschirm. Die Lagerleiterin. Die Finanzchefin. Der Verkaufsleiter. Der Chefingenieur. Der Agronom. Treis sitzt im weißen T-Shirt vor dem Computer. Er wirkt erschöpft. Es ist schon fast Mitte April, und die Minen sind noch immer nicht geräumt. Treis wollte zumindest die unverminten Felder düngen lassen, doch nun ist der Teleskoplader defekt, mit dem seine Leute die Düngemaschinen beladen. Um ihn zu reparieren, brauchen sie ein Ersatzteil, aber der deutsche Hersteller liefert seit Kriegsbeginn nichts mehr in die Ukraine. Treis hat das Unternehmen angeschrieben und darum gebeten, eine Lösung zu finden. Bislang ohne Antwort.
Außerdem ist die Internetverbindung so schlecht, dass die Finanzchefin nichts hört und der Verkaufsleiter und die Lagerleiterin immer wieder aus der Konferenz fliegen. Treis beendet die Besprechung.
Weil es sonst nichts zu tun gibt, nimmt er sein Handy und loggt sich in die Videoüberwachung des Hofes ein. Mit dem Finger wischt er über den Screen, von einem Bild zum nächsten. Man sieht drei große Silos, Lagerhallen, leere Büroräume, einen gelben Bagger und einen Kastenwagen vor einer Scheune. »Den anderen hat die Armee zusammen mit drei Lkw eingezogen«, sagt Treis. Die restlichen Fahrzeuge und Maschinen haben seine Leute möglichst weiträumig über das Unternehmensgelände verteilt. »Damit nicht alles auf einmal kaputtgeht, falls uns eine Bombe trifft.«

Libanon

Die Erde hier ist nicht schwarz, auch nicht braun, sondern tiefrot. Grün und halbhoch steht der junge Weizen. Die Römer nannten die Bekaa-Ebene im Osten des Landes die Kornkammer ihres Reiches. Heute wächst im Libanon statt Getreide die Armut. Dabei ist auch dieser Boden fruchtbar. »Riech mal«, sagt Walid al-Jusef. Er hat einige Halme samt Wurzelballen aus dem Acker gezogen und hält den Klumpen in die Luft. Feucht riecht er, ein bisschen dumpf. Aus der Erde kriecht eine Made hervor.
Walid al-Jusef, ein 38-jähriger Mann mit Kugelbauch und Gummistiefeln, ist Bauer, wie sein Vater und Großvater. Aber anders als Dietrich Treis in der Ukraine produziert er seinen Weizen nicht für den Export. Der Großteil der Körner ist noch nicht einmal zum Essen gedacht. Al-Jusef züchtet Weizen, der als Saatgut für andere Bauern dienen soll, für Felder hier im Libanon.
Al-Jusef will zurück zum Anfang.
Die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas verbrauchen viel Weizen, bauen aber wenig selbst an. Stattdessen kaufen sie ihn auf dem Weltmarkt. Ägypten importierte zuletzt mehr als 60 Prozent seines Weizens, der Libanon sogar 90 Prozent. So wie Deutschland abhängig ist von ausländischem Öl, so ist der Libanon abhängig von ausländischem Weizen.
Der Unterschied ist: In Deutschland hat es niemals nennenswerte Mengen an Öl gegeben. Der Nahe Osten aber ist die Heimat des Weizens. Hier hat alles begonnen. Vor 10.000 Jahren. Damals fingen die Menschen an, die Körner der Wildgräser, die sie zuvor nur gesammelt hatten, eigens auszusäen. Aus Jägern und Sammlern wurden Bauern, die herausfanden, dass sich Weizen lagern und weiterverarbeiten ließ, zu Mehl, zu Brot. Sie säten Körner aus, die sich dafür besonders gut eigneten – der Beginn der Zucht. Weizensorten wurden weitergetragen und getauscht. Im Mittelalter setzte sich das Getreide in Mitteleuropa durch, später gelangte es nach Amerika und Australien. Heute ist der Weizen das weltweit meistangebaute Getreide.
Im Nahen Osten aber ist er selten geworden.
Das hat viel mit einem landwirtschaftlichen Umsturz zu tun, der sogenannten Grünen Revolution, die in den Sechzigerjahren begann. Damals hatten Hungersnöte weite Teile Afrikas und Asiens ergriffen. Amerikanische Agrarforscher entwickelten Hochleistungsweizen, der weltweit die Erträge steigern und die Not lindern sollte. Sie hatten Erfolg, bald gab es so viel Weizen auf der Welt wie nie zuvor. Der Hunger ging zurück, der neue Weizen rettete Millionen Menschen das Leben. Aber um die empfindlichen Hochleistungspflanzen zum Wachsen zu bringen, brauchte es große Mengen an Kunstdünger und Pestizide gegen Schädlinge und Unkraut. Die modernen Körner ließen sich auch nicht nach der Ernte einfach neu aussäen. Stattdessen musste das patentierte Saatgut bei den Agrarkonzernen der Welt regelmäßig neu eingekauft werden.
Vielen Bauern im Nahen Osten fehlte dafür das Geld. Mit dem oftmals staatlich subventionierten Weizen von den riesigen Äckern Amerikas und Europas konnten sie nicht mithalten. So kam es, dass der Weizen zum Massenprodukt wurde und gleichzeitig in vielen Ländern von den Feldern verschwand. Manchen Regierungen im Nahen Osten war das ganz recht. Die Bäckereien waren voll, das Brot war günstig. Wer sah schon voraus, dass die Lieferungen aus Osteuropa eines Tages ausbleiben würden?
Walid al-Jusef stammt aus Syrien. Vor Jahren ist er vor dem Krieg geflohen, hat Hof und Felder verlassen. Im Libanon hatte er Glück. Er lernte französische Agrarwissenschaftler kennen, mit denen er ein Kollektiv gründete, es nennt sich Buzuruna Juzuruna, arabisch für: »Unsere Saaten sind unsere Wurzeln«. Diese Wurzeln bewahren sie in einem Häuschen aus Lehm auf, gleich neben dem Feld. Auf grob gezimmerten Regalen stehen dort kleine Kisten, die das enthalten, was Al-Jusef auf seinen Feldern zu mehren versucht: althergebrachte, traditionelle Tomatensamen, Bohnen, Weizenkörner. Es sind Sorten, die über Jahrhunderte durch Auslese und natürliche Kreuzung entstanden sind.
Als das Kollektiv im Jahr 2018 auf diesem Feld anfing, schüttelten die Bauern der Umgebung den Kopf über diese nostalgischen Spinner, aber jetzt sitzt ein Dutzend von ihnen hier zusammen, um den großen Tisch vor dem Lehmhaus. Sie interessieren sich für Al-Jusefs Weizensaaten. Sie wissen, dass die Pflanzen, die daraus entstehen, geringere Erträge liefern als der moderne Hochleistungsweizen. Aber diese Pflanzen benötigen eben auch nicht so viel teuren Dünger, und die Körner lassen sich wieder und wieder als Saatgut verwenden.
Ein älterer Bauer schaut sich lange Al-Jusefs Acker an, die Samen in den Kisten, dann erzählt er, er habe seine Felder jahrelang brach liegen lassen oder andere Pflanzen angebaut. Gegen den Weizen des Weltmarkts hatte er keine Chance. Aber nun wolle er es mit den traditionellen Sorten noch einmal versuchen. »Wir merken jetzt, dass wir Geiseln sind. Wenn wir nicht selbst anbauen, sind wir geliefert.«

Deutschland

In Passau gibt es gute Nachrichten. Der deutsche Hersteller des Teleskopladers hat einen Weg gefunden, das Ersatzteil in die Ukraine zu liefern. Es brauchte nur ein Dokument, in dem das Unternehmen versichert, dass die Ware nicht über die Ukraine weiter nach Russland überführt wird, denn das würde gegen die Sanktionen verstoßen. Zwar wurden die Felder, die nahe der Front liegen, noch immer nicht von Minen geräumt. Aber Treis und seine Mitarbeiter haben jetzt beschlossen, die Zufahrten zu den Äckern selbst abzusuchen. Sie halten es für unwahrscheinlich, dass Minen mitten auf den Feldern liegen.
Treis weiß von zwei Fällen, in denen Fahrzeuge am Feldrand auf Minen gefahren sind. Deshalb wollen sie beim Düngen zehn bis fünfzehn Meter Abstand von den Wegen halten. So bleibt zwar ein Teil der Weizenpflanzen unversorgt, aber sie können endlich anfangen. »Hundert Prozent sicher ist das nicht«, sagt Treis. Um die verlorene Zeit aufzuholen, werden seine Leute auch im Dunkeln arbeiten. Zwar sollen sich nach dem Rückzug der russischen Armee noch versprengte russische Soldaten in den Wäldern verstecken, weshalb in der Gegend eine nächtliche Ausgangssperre gilt, bis die ukrainischen Streitkräfte sie gefunden und gefangen genommen haben. Aber der Bürgermeister macht für Treis eine Ausnahme.
In dem niedersächsischen Dorf Becklingen im Landkreis Celle steigt der deutsche Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft eine Leiter hinauf, die auf das Dach eines Sauenstalls führt. Der Bauer steht schon oben. Er will Cem Özdemir sein neues Futterlager zeigen, das hinter dem Stall liegt.
Nun kann man fragen, was an einem Lager für Schweinefutter so interessant ist, dass man dafür auf eine Leiter klettern muss. Noch vor drei Monaten hätte die Antwort vermutlich gelautet: nicht viel. Durch den Krieg und die gestiegenen Weizenpreise aber ist Schweinefutter politisch geworden.
Denn Weizen steckt nicht nur im Brot, in der Pizza und dem Kuchen. Sondern auch im Futtertrog. Weltweit ernährt ein Fünftel der Weizenernte nicht Menschen, sondern Tiere, in Deutschland ist es sogar ein Drittel. Während sich in Teilen Afrikas und des Nahen Ostens der Hunger ausbreitet, werden in Deutschland die Schweine fett. Cem Özdemir hatte also nicht unrecht, als er schon vor Wochen sagte, weniger Fleisch zu essen sei ein Beitrag gegen Putin. Das weiß vermutlich auch der Landwirt, oben auf dem Dach, der auf seinem Hof 320 Muttersauen, 600 Mastschweine und 1400 Ferkel hält, die alle täglich fressen müssen. Deshalb zeigt er nun auf sein Lager und erklärt dem Minister, wie dort Futter zusammengemischt wird. Aus Roggen, Gerste, Haferschalen sowie Erbsen, Ackerbohnen und Abfällen aus einer nahe gelegenen Knäckebrotfabrik. Und nur aus ganz wenig Weizen, betont der Bauer. Und ausschließlich Weizen, den man nicht zu Brot verbacken könne.
Der Grünen-Politiker Özdemir, erst seit fünf Monaten im Amt, ist an diesem Nachmittag auf Hofbesuch, um sich herum Ministerialbeamte, Lokaljournalisten, ein paar Einheimische aus dem Dorf und natürlich die Bauersfamilie, Vater, Mutter und drei Kinder, alle im gleichen türkisfarbenen Kapuzenpulli.
Der Bauer wirtschaftet konventionell, aber, wie er sagt, mit »Bock auf Veränderung« und »Passion fürs Schwein«. In den vergangenen Jahren hat er den Hof umgebaut, um seinen Tieren mehr Lebensfreude zu verschaffen. Özdemir lässt sich die geräumigen Bewegungsbuchten zeigen, in denen mächtige Sauen ihre Neugeborenen säugen, die Kletterlandschaften für Ferkel, auch den Strohstall mit überdachtem Auslauf, in dem die Schweine selbst entscheiden können, ob sie lieber drinnen bleiben oder ins Freie laufen wollen. »Ach, das kriegen die selbst hin!«, staunt Özdemir, als er sieht, wie ein Jungtier mit seinem Rüssel die Klappe nach draußen öffnet. Es wird anschaulich: Mehr Platz für das einzelne Tier bedeutet in der Regel weniger Tiere – und weniger Weizen im Trog.
Solche Umbauten kosten allerdings oft Hunderttausende Euro. Auch die Produktionskosten steigen, wenn es den Schweinen gut gehen soll. Der Landwirt sagt: »Ohne staatliche Förderung geht das nicht.« Özdemir versichert, sein Ministerium arbeite unter Hochdruck daran, ein Tierhaltungskennzeichen zu entwickeln – ein offizielles Siegel, das den Verbrauchern anzeigen soll, dass ein Bauer sich gut um seine Tiere kümmert. Woher Özdemir aber das Geld bekommen will, um die Landwirte über eine Anschubfinanzierung hinaus zu unterstützen, sagt er nicht. Von einer Fleischabgabe? Einer höheren Mehrwertsteuer für tierische Produkte? Als Özdemir sein Amt antrat, wären das Vorschläge gewesen, über die man diskutieren kann. Aber jetzt? Bei einer Inflationsrate von mehr als sieben Prozent noch zusätzliche Abgaben einführen oder Steuern erhöhen? Wer will das durchsetzen? Der Krieg hat den Druck zur Veränderung erhöht – und gleichzeitig die Möglichkeiten zur Veränderung verringert.
Die Zahl der Tiere auf deutschen Bauernhöfen ist nicht das einzige Thema, das durch den Überfall auf die Ukraine neue Brisanz bekommen hat. Es gibt auch noch etwas, das Fachleute als »Tank-Teller-Konflikt« bezeichnen: Neben den mehr als 30 Prozent Futterweizen werden in Deutschland mehr als acht Prozent des Weizens für Energiezwecke genutzt, zum Beispiel für Biosprit. Die Körner werden vermahlen und vergoren und zu Ethanol verarbeitet. Autos verbrennen Getreide, europaweit 10.000 Tonnen am Tag, das entspricht 15 Millionen Brotlaiben. »Es ist nicht nachhaltig, Weizen und Mais in den Tank zu schütten«, sagt Özdemir an diesem Nachmittag in Niedersachsen.
Özdemir unterstützt die Initiative von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne), den Biosprit zu reduzieren. Allerdings darf man auch den Klimawandel nicht vergessen. Weizen im Tank erschwert den Kampf gegen den Hunger, erleichtert aber das Einhalten der Emissionsziele im Verkehrssektor. Nicht einfach, da eine Entscheidung zu fällen.
Und schließlich ist da noch der Konflikt um die EU-Auflage, wonach Bauern künftig vier Prozent ihrer Felder brach liegen lassen müssen. Für den Artenschutz, den Bodenschutz, den Klimaschutz. Die Entscheidung war längst gefallen. Nun ist die Diskussion neu entbrannt. Statt Bienenwiesen brauche man mehr Weizenfelder, fordern Bauernverbände – und auch der zuständige EU-Kommissar.
Für das kommende Wochenende hat Özdemir nun erst einmal die Agrarminister der sieben bedeutendsten Industrienationen nach Stuttgart eingeladen, um über Biosprit, Hunger und Ernährungssicherheit zu beraten.
Eines steht für ihn schon fest: »Am wichtigsten ist, dass der Krieg enden muss.«
Dietrich Treis’ Leute kommen mit dem Düngen zügig voran. Bisher ist alles gut gegangen. Keine Minen. Keine russischen Soldaten. Alle Mitarbeiter unversehrt. Treis gibt ihnen ein paar Tage frei. Er überlegt, demnächst wieder in die Ukraine zu fahren. Mal nach dem Rechten sehen. In den vergangenen Wochen kamen auf dem Hof immer wieder Fahrzeuge und Ersatzteile abhanden. Treis vermutet, dass einer seiner Leute damit die ukrainische Bürgerwehr versorgt.

China

Im Osten des Landes, in der Provinzhauptstadt Jinan, soll die Anlage liegen: riesige Lager des Staatskonzerns Sinograin, Getreidespeicher mit 340.000 Tonnen Weizen. Auf Online-Landkarten sind die Silos nicht zu finden. Selbst die Regierungsvertreterin, die den Termin organisiert hat, nennt keinen genauen Treffpunkt. Sie schickt nur einen Bus, der den Besuch abholt, eine Gruppe westlicher Journalisten. Sie sollen die Speicher besichtigen dürfen.
Nach einer halben Stunde Fahrt hält der Bus vor einem Gitterzaun. Dahinter die Silos. In der Ferne sind ein paar Arbeiter in blauen Overalls zu sehen. Uniformierte Sicherheitskräfte verbieten das Fotografieren. Der Termin war seit Wochen geplant, doch dann dürfen die Medienvertreter nur ein paar Ausstellungshallen mit Propagandatafeln der Kommunistischen Partei betreten. Eine Begründung gibt es nicht. Die Speicherkammern, in denen Tausende Sensoren eine stete Raumtemperatur von minus 15 Grad sicherstellen sollen, bleiben verschlossen.
In China werden die Weizenvorräte bewacht wie anderswo Atomkraftwerke.
Anfang März, keine zwei Wochen nach Kriegsbeginn, sagte der chinesische Staatschef Xi Jinping in einer Rede vor Parteikadern: »Unsere Wachsamkeit bei der Ernährungssicherheit darf nicht nachlassen.« Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist für China eine Herausforderung. Das Land muss knapp 20 Prozent der Weltbevölkerung ernähren, verfügt aber über nicht einmal zehn Prozent der globalen Ackerfläche. Von Jahr zu Jahr werden es weniger. Im Nordosten machen die sich häufenden Dürren jede Landwirtschaft unmöglich, im Süden ist es der wiederkehrende Starkregen. Und im ganzen Land werden immer mehr Felder in Industriegebiete und Apartmentanlagen umgewandelt, um den Menschen Arbeit und Wohnung zu bieten.
Doch was, wenn die Menschen irgendwann zwar Arbeit und Wohnung haben, aber nichts mehr zu essen? Was, wenn der Hunger nach China zurückkommt? Li Qiang hat ihn erlebt.
Er wohnt in einem der Altstadtviertel von Peking. Ein 71-jähriger Mann, der noch immer arbeitet, noch immer sein Geld damit verdient, mit Antiquitäten zu handeln. Vor langer Zeit hat er eine alte Schnupftabakdose mit kleinem Gewinn weiterverkauft, so hat es angefangen, wenig später folgte ein Stifthalter aus Elfenbein. In einem kleinen Eckzimmer zeigt er seine aktuellen Schätze: ein Standgrammofon mit Kurbel, etliche Münzen aus der Qing-Dynastie, einen Jade-Buddha, der aus dem Besitz eines Ministers der alten chinesischen Republik stammen soll. Irgendwo hat er die Sachen aufgetrieben, irgendwann wird irgendwer ihm mehr Geld dafür geben, als er selbst bezahlt hat, so läuft das seit Jahren, und es läuft gut für Li Qiang, weil China als Ganzes immer wohlhabender wird, und ein kleiner Teil dieses Wohlstandes landet bei Li Qiang und seinen Antiquitäten.
Aber es war eben auch einmal anders.
Li Qiang stammt aus einem Dorf an der chinesischen Küste. Er wuchs mit sieben Geschwistern auf, sein Vater starb früh. Als Jugendlicher wurde er einer der vier Produktionseinheiten des Dorfes zugeteilt. Sie bestellten Felder, bauten Häuser, reparierten Straßen. Die Essensrationen waren karg. »Manchmal bekamen wir 500 Gramm zugeteilt, Getreide, Süßkartoffeln oder was eben gerade verfügbar war, das war dann ein guter Tag«, sagt Li. An schlechten Tagen bekamen sie weniger oder nichts, dann schlich er sich auf die Felder, um Gemüse auszugraben. Li sagt, es sei ein hartes Leben gewesen, aber er kam über die Runden, irgendwie. Bis sie in den Sechzigerjahren die Auswirkungen dessen spürten, was der damalige Staatschef Mao Zedong als »Großen Sprung nach vorn« bezeichnete. Mao hatte sämtliche Landwirtschaftsbetriebe des Landes zwangskollektivieren lassen. Die Bauern wurden von den Feldern abgezogen und als Industrie- und Bauarbeiter eingesetzt, ihr Werkzeug wurde eingeschmolzen, um Stahl zu gewinnen. Die Folge war ein nie da gewesener Einbruch der Agrarproduktion. Es gab keinen Reis mehr, keinen Weizen, kein Gemüse. Es gab auch nichts mehr, was Li Qiang hätte heimlich ausgraben können. Das Einzige, was es gab, war Hunger.
50 Millionen Chinesen sollen damals gestorben sein. Genau weiß es niemand.
Dass die größte Hungerkatastrophe des 20. Jahrhunderts eine menschengemachte Tragödie war, wird in China bis heute unter Verschluss gehalten. In chinesischen Schulbüchern wird die Hungersnot mit Unwettern und Missernten erklärt, auf Baidu Baike, dem chinesischen Pendant zu Wikipedia, wird sie in wenigen Absätzen als »Rückschlag« auf dem Weg zum Sozialismus abgetan. Aber das bedeutet nicht, dass die Schrecken jener Jahre in China vergessen sind, im Gegenteil. Staatschef Xi Jinping lässt sich von seinem Propagandaapparat als einen Mann inszenieren, der die Entbehrung aus eigener Erfahrung kennt. Die Staatsmedien heben regelmäßig hervor, dass der 68-jährige Xi als junger Mann sieben Jahre lang in der trockenen Einöde von Shaanxi in Zentralchina lebte, wo er tagsüber auf den Feldern arbeitete und nachts in einer Erdhöhle schlief. Wenn Xi ein Dorf in der Provinz besucht, lässt er sich häufig dabei fotografieren, wie er die Küchen einfacher Leute betritt, in die Kochtöpfe schaut, die Kühlschränke inspiziert. Dazu wird er dann mit Sätzen wie diesem zitiert: »Als ich jung war, wurde mir von meiner Familie streng beigebracht, keine Lebensmittel zu verschwenden, nicht einmal ein Reiskorn.«
Nie wieder Hunger. Nie wieder Getreidemangel. Über die Jahrzehnte ist dies zu einer Art ungeschriebenen Leitlinie chinesischer Politik geworden. Und deshalb hat die Regierung einen Ausweg gefunden aus dem Dilemma, dass in China zu vielen Menschen zu wenig Felder gegenüberstehen: Sie hat Weizen gekauft, in riesigen Mengen, in den USA, Kanada, Frankreich, der Ukraine, von Jahr zu Jahr mehr, und hat ihn eingelagert. Mit diesem Weizen ließen sich die Menschen im Nahen Osten ernähren, in der Sahelzone, in Nord- und Ostafrika, auch in dem Dorf Falama im Osten Kenias. Aber der chinesischen Regierung geht es nicht darum, den Hunger in Afrika zu bekämpfen, sondern den Hunger in China zu verhindern. Manche Beobachter bezeichnen die Volksrepublik schon als »Staubsauger«, der die Regale des Weltmarktes leert. Schätzungen zufolge befinden sich inzwischen 50 Prozent der weltweiten Weizenvorräte in chinesischem Besitz, 150 Millionen Tonnen, die in geheimen Speichern herumliegen.

Deutschland

Aus Passau berichtet Dietrich Treis: Alle Felder sind gedüngt. Keine Vorfälle. Auch das Wetter ist gut. Der Weizen kann jetzt wachsen. Es sieht nach einer Rekordernte aus. Allerdings gibt es da noch ein anderes Problem: Selbst wenn die Pflanzen gedeihen, selbst wenn Treis’ Leute das Getreide ungehindert ernten können, wie sollen sie es aus dem Land schaffen?
Vom Feld in den Zug, mit dem Zug zum Hafen und dann über das Schwarze Meer hinaus in die Welt. Das war der Vertriebsweg des ukrainischen Weizens. 98 Prozent der Exportproduktion wurden auf diesem Weg verladen. Vor dem Krieg.
Jetzt blockiert das russische Militär die Häfen. Zahlreiche Schiffe liegen dort vor Anker, voll beladen mit Weizen, geerntet im vergangenen Jahr. Sie kommen nicht raus.
Auch Treis hat noch einen Teil der letzten Ernte in seinen Silos. Theoretisch könnte er ihn mit dem Zug nach Westen schaffen, um zum Beispiel die Häfen von Gdańsk in Polen oder Konstanza in Rumänien zu erreichen. Aber die ukrainische Eisenbahn benutzt eine andere Schienenbreite als die Nachbarländer. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als das Land zur Sowjetunion gehörte. Der Weizen muss an der Grenze umständlich von ukrainischen Waggons in rumänische oder polnische umgeladen werden. Dafür braucht man Förderbänder, von denen es zu wenige gibt. Am wichtigsten Eisenbahn-Grenzübergang nach Polen stecken inzwischen mehr als tausend Waggons mit fast 80.000 Tonnen Getreide fest.
Ohne Zugang zum Meer gibt es keinen Weg, den ukrainischen Weizen nach Kenia, in den Libanon oder zum WFP zu bringen.
Wenige Tage später verbreitet sich eine neue Nachricht aus der Ukraine. Die russische Armee hat begonnen, gezielt Weizenfelder zu bombardieren und große Gebäude im Osten des Landes. Es sind Getreidespeicher.