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Klimaneutral in 4800 Tagen?

von Philipp Krohn
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.11.2021

Portrait des Nachhaltigkeitsforschers Uwe Schneidewind, der als Wuppertaler Oberbürgermeister die Stadt zum Weltzentrum der Kreislaufwirtschaft machen will: Bis 2035 sollen keine Treibhausgase mehr ausgestoßen werden. Seine Herausforderungen sind die kleinteilige kommunale Politik, fehlende finanzielle Ressourcen und die Kontaktaufnahme mit Bürgern und Vereinen. Nach einem Jahr im Amt ist die Bilanz durchwachsen, der Vorwurf: wissenschaftliche Konzepte, große Geschichten, aber wenig Konkretes.

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Klimaneutral in 4800 Tagen?

Um sieben Minuten nach vier läutet Uwe Schneidewind die Glocke. Der üppige Kronleuchter in der historischen Stadthalle in Elberfeld strahlt die blassrosa Säulen und die große Orgel an. Der Oberbürgermeister trägt eine goldene Kette und überreicht Nadeln für besonderen Einsatz im Ehrenamt. Festliche Stimmung für eine Premiere: An diesem grauen Dezembertag 2020 führt Schneidewind zum ersten Mal durch eine Sitzung des Stadtrats.
Schleppend geht sie los. Schneidewind kennt alle Räte beim Namen. Darin ist er gut: Namen kennen. „Ist das Wort erwünscht?“, fragt er nach den Anträgen. Manchmal ist er unsicher. Dann lacht er. Die Räte lachen mit. Vorschuss für einen Quereinsteiger.
Vor zwei Monaten haben die Wuppertaler den 55 Jahre alten Grünen-Politiker zum Oberbürgermeister gewählt. Es ist ein Experiment. Ein Professor aus dem Elfenbeinturm als Stadtoberhaupt. Schneidewind ist einer der führenden deutschen Nachhaltigkeitsforscher, promoviert und habilitiert in St. Gallen, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Die Bundesregierung berief ihn zum Berater für globale Umweltveränderungen, er war Mitglied der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität.
Er ist ein Manager mit Drive, heute fünfundfünfzig Jahre alt, besitzt reichlich Verwaltungserfahrung, kann Aufbruchstimmung erzeugen. „Beseelt davon, die Welt zu einem besseren Ort zu machen“, wie ein Freund sagt. In Wuppertal will er anfangen.
Doch an diesem Nachmittag handelt er zunächst eine Wassergebührenordnung, die Straßengemeindesatzung und den Aufsichtsrat des Pina-Bausch-Theaters ab. Seinen politischen Erfolg wertet er so: Eine mutige Stadt wählt sich einen Professor und zeigt, welche Veränderungslust da ist und was in der Stadt steckt. An diesem Tag, dem ersten im Stadtrat mit Schneidewind als Oberbürgermeister, ist davon wenig zu spüren.
Ein Parlament einer Großstadt mit 360.000 Einwohnern ist große Politik im Kleinen. Bald verkeilen sich die Fraktionen in der Frage, wie die Schulen auf die Corona-Pandemie vorbereitet werden sollen. „Dann danke ich für die ausführliche Diskussion“, sagt er nach der fast einstündigen kontroversen Debatte. Als eine rechtsradikale Rätin über migrationspolitische Extrawürste klagt, fordert er sie bestimmt auf, bald zum Ende zu kommen.
Seine eigenen Rentenansprüche werden gegen die Stimmen der Linken als berechtigt anerkannt. Kommunalpolitisches Kleinklein. Ums Klima geht es nicht, obwohl er den Bürgern im Wahlkampf versprochen hat, dass die Stadt bis zum Jahr 2035 keine Treibhausgase mehr ausstoßen wird. An diesem Dezembertag sind es noch 5189 Tage bis zur Klimaneutralität.
Der Nachmittag im ehrwürdigen Saal steht im Kontrast zu den Charts, die Schneidewind für Besucher im Barmener Rathaus bereithält. „Ich werde geprüft, ob ich visionäre PS auf die Straße bekomme“, sagt er. Seine Gedanken kreisen um viele Fragen: Lassen sich schnell genug Häuser dämmen, wie kommt ein schneller Schwenk zum Ökostrom zustande, macht die Verwaltung mit? Am besten schon in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit. Er spricht von Vorzeigeprojekten und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Das Wort „Narrativ“ fällt häufiger. Aschenputtel soll der Stadt als Vorbild dienen: das Märchen vom Mädchen reicher Eltern, das tief fällt und neu erblüht. Eine andere Kommunikation nach Außen sei erforderlich: Eine lustmachende Wuppertalgeschichte. Schneidewind ist ein Slogan-Erfinder.
Ob in seinen Büchern oder wenn er das Handeln in der Kommune beschreibt, immer wieder wirft er assoziative Begriffe in den Raum: Real-Labore, Wir-Bewegung, doppelte Entkopplung, Große Transformation, Zukunftskunst. Man hört ihm dann seine Vergangenheit als Roland-Berger-Berater an, vielleicht halten ihn auch deswegen einige Wissenschaftskollegen für oberflächlich – wenn auch für einen fähigen Wissenschaftsmanager.
Als junger Rektor der Uni Oldenburg legte er sich mit alten Ordinarien der Naturwissenschaften an, die seinen multidisziplinären Kurs ablehnten. Er beschreibt seinen damaligen Antrieb als revolutionären Elan. Dazu sagt er: „Ich kannte damals noch nicht alle Facetten der Macht. Es war gut, das so früh gelernt zu haben.“
Dagegen hatte er als Präsident am Wuppertal Institut die Rückendeckung seines Teams. Dass er sich mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft stritt, verschaffte ihm Respekt. Durch den Konflikt wurden seine Real-Labore unterstützt, also eine Forschung in Stadtquartieren, die Beteiligte einbezieht und konkrete Lösungsvorschläge für ökologische Fragen unterbreitet. In seiner Amtszeit entdeckte der gebürtige Kölner seine Leidenschaft für Wuppertal. Er hielt viele Vorträge und machte sich in der Stadt bekannt. Die CDU hatte niemanden, die Grünen schoben Schneidewind als ihren Mann nach vorn. Irgendwann war er Kandidat.
Am elften Februar 2021 will Schneidewind endlich das, was bisher nur auf Power-Point-Folien existiert, in die Tat umsetzen. Die Pandemie erlaubt ihm, länger als üblich seine Verwaltung kennen zu lernen und zum Aufbruch zu motivieren. Doch in der Stadt fragen die ersten: Wo ist Schneidewind?
Er trägt heute ein blaues Sakko und eine violette Krawatte. In einer virtuellen Pressekonferenz erklärt der Öffentlichkeit seinen Zukunftsplan. „Wir in Wuppertal haben kaum eigene finanzielle Ressourcen, um Akzente zu setzen“, spricht er in eine Kamera. In den vergangenen Jahren rutschte die Stadt immer wieder in eine Haushaltssperre. Wuppertal ist blank. Es werde diskutiert, ob er zu viel Pathos in seine Aufgabe lege. „Aber wir müssen der Stadt ihre Würde wiedergeben.“ Wuppertal als das Aschenputtel der deutschen Großstädte. Und später: „Ohne Pathos geht es bei mir nicht.“
Die Stadt im Bergischen ist nicht Rheinland, nicht Ruhrpott – aber liegt im Herzen einer unvergleichlichen Region mit Industrie, Wissenschaft und Innovationen. Das „Circular Valley“ haben sie Leute getauft, die sich über ihre künftige Rolle Gedanken gemacht haben. Aus der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Sie soll zum Weltzentrum für einen Trend werden, der nach einem Zentrum sucht: die Kreislaufwirtschaft.
Hier wurde einst der größte Chemiekonzern der Welt gegründet: Bayer. Der gebürtige Wuppertaler Friedrich Engels beobachtete an diesem Ort die sozialen Auswüchse der zweiten industriellen Revolution. In der Technik-Euphorie der Jahrhundertwende gaben sich die Bürger eine Schwebebahn über der Wupper – ein so modernes wie einmaliges Nahverkehrsmittel. Dann aber starb die Textilindustrie. Die Erbsen-Phase des Aschenputtel-Märchens begann.
Das Digitale hat die Region verschlafen, aber für das nächste große Thema ist sie gewappnet. Neben dem Klimawandel ist eines der gravierendsten ökologischen Probleme dieses Jahrhunderts, dass Stoffkreisläufe nicht geschlossen sind. Erst dadurch wird Abfall zu einem Problem für Tiere, Ozeane und Menschen. Schneidewind will die Öko-Krise im kleinen Maßstab lösen. Klimaneutralität bis 2035. Weltzentrum der Kreislaufwirtschaft. Sein Modellprojekt.
Mit seinen Beamten hat er sein Hundert-Tage-Programm aus dem Wahlkampf genommen und acht Handlungsfelder identifiziert. Ein Kompass für die Zwanzigerjahre, sagt Schneidewind, der Slogan-Erfinder. Der Oberbürgermeister ist Langstreckenläufer. Im Projekt stehe man jetzt bei Kilometer 2,4 von 42. Die Projektpunkte tragen Titel wie „Wuppertal leuchten lassen“. Es geht um Zukunftsflächen, eine Klimastrategie, die multifunktionale Innenstadt, eine Stadt ohne Diskriminierung.
Ambitionierte Vorhaben, die Mobilität radikal vom Auto wegzudenken, finden sich darin nicht. Er will niemanden auf dem Weg verlieren. Insbesondere in einer Stadt, die erst vor zwei Jahrzehnten eine achtspurige Straße am Bahnhof entlang gelegt hat. Einige bezeichnen ihn als konfliktscheu. Für Schneidewind hat das Methode. 5068 Tage bis zur Klimaneutralität.
Der Oberbürgermeister will eine Art Stadtlabor mit wissenschaftlicher Begleitung schaffen: arm und reich, Menschen mit Migrationshintergrund und ohne sollen mitmachen. Die Stadt will ihre Impulse aufnehmen und verstärken. Leute mit Ideen und Werten sollen zusammenarbeiten. Grüne Realo-Konsenspolitik mit akademischen Kategorien.
Doch nach einem Jahr ist zwar manches Konzept geschrieben, mancher Dialog geführt, manche Ankündigung ausgesprochen, aber außer 85 autofreien Metern im Stadtteil Elberfeld ist noch nicht viel erreicht. Die Opposition ruft immer lauter, Schneidewind müsse „inne pött kommen“, wie man hier sagt. „Irgendwann muss mal jemand eine Schippe in die Hand nehmen“, verlangt ein Kritiker. Etwas Sichtbares schaffen, das sich in eine Bilanz schreiben ließe.
Die Stimmung in der Verwaltung dagegen ist gut. Eine Epoche aufdringlicher Stadtoberhäupter, die sich auf jedes mögliche Foto drängen, ist vorerst vorbei. Schneidewind regiert nach innen, mit den Fraktionen ist der Austausch knapper. Die Opposition vermisst das Wort „sozial“ in seinem Programm. Keine der größeren Parteien sträube sich gegen mehr Klimaschutz. „Aber die Verwaltung muss dem Rat entscheidungsreife Maßnahmen zur Entscheidung vorlegen“, sagt ein politischer Gegner. Solaranlagen, Fernwärme, Dekarbonisierung, Heizungsanlagen – über das meiste lasse sich reden. Wohlmeinende finden: „Er versteht, was gemacht werden muss und kann dafür Begeisterung entfachen.“
Neun Kästchen sind auf einem Bildschirm zu sehen: in fünfen kleine Gesichter, vier sind verborgen. Öffentlichkeit in Zeiten von Corona. Das Wuppertal Institut stellt eine Sondierungsstudie vor, wie die Stadt bis zum Jahr 2035 klimaneutral wird. Ein Auftrag ihres ehemaligen Präsidenten, der das Lager gewechselt hat. An diesem Donnerstagmorgen sind es noch 4929 Tage bis zu diesem Ziel.
Uwe Schneidewind sitzt erstmals auf der anderen Seite. Im Rathaus, mit einem Kaffee in der Hand, wie auf dem Bildschirm zu sehen ist. Er versteht, wie seine ehemaligen Mitarbeiter denken: Sie stellen kein Modell vor, sondern überschlägige Rechnungen. Das Budget war knapp. Die 2,9 Millionen Tonnen Kohlendioxid des Jahres 2020 auf dem Stadtgebiet müssen weg. Knackige Ziele fürs Wohnen, für den Stromverbrauch und für die Flächenpolitik. Und dabei alle mitnehmen.
„Im Verkehr müssen wir vermeiden, verlagern, verbessern“, sagt Anja Bierwerth. Sie leitet den Forschungsbereich Stadtwandel im Institut. In ihrem Vortrag geht sie auf das Konzept der Schwammstadt Wuppertal ein. Regenwasser wird zentral gesammelt, um Überschwemmungen zu verhindern. Die Aspekte, die Schneidewind im Rathaus behandelt, hat er zehn Jahre lang als Wissenschaftler vorbereitet. Er sei extrem dankbar, sagt Schneidewind nach der Präsentation. „Wir brauchen dieses Runterrechnen, um damit in die politische Diskussion zu gehen.“ Um es mit Schneidewinds Lieblingsmärchen zu sagen: Aschenputtels Schloss wird kleiner sein müssen, besser gedämmt. Und wenn sie das Smartphone benutzt, dann mit Ökostrom geladen.
Hinterher soll er Pressevertreten noch etwas zu den autofreien 85 Metern auf dem Laurentiusplatz sagen. Die Diskussion zeige, dass sein umfangreicheres Projekt nicht leicht werde. „Wichtig ist nicht das Ergebnis, sondern der Prozess. Der Wunsch ging von der Verwaltung aus“, sagt er. Es ist, wie er es sich wünscht. Nicht er oder das Rathaus gab den Anstoß, sondern die lokale Behörde. Die Stadtverwaltung nahm den Impuls auf und verstärkte ihn.
Schneidewind ist kein ideologischer Öko. „Kein Baumumarmer“, wie er sagt. Als er in den achtziger Jahren in der Studierendenorganisation AIESEC engagiert war, habe er sich erstmals mit Ökologie beschäftigt. Der Brundtland-Report der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin weckte ein neues globales Umweltbewusstsein und stieß die Agenda21-Bewegung an. „Das war eine neue Bibel“, sagt er. Allerdings eine Bibel ohne Transzendenz.
Liest man seine Bücher wie „Die Große Transformation“ mit großem G, fällt auf, dass sie im Vergleich zu anderen Nachhaltigkeitsbüchern frei von Metaphysik, Ideengeschichte oder Mystik sind. Er ist ein pragmatischer, analytischer Öko, der am Buffet ab und zu zum Fleischhäppchen greift. Das Ziel, das Brundtland als nachhaltige Entwicklung beschrieb, entspreche seiner Aufgabe als Oberbürgermeister. „360.000 Wuppertaler müssen sich entfalten können.“
Zwei Wochen nach dem Pressetermin mit dem Wuppertal Institut tritt die Wupper übers Ufer. In der Nacht rücken die Feuerwehrfahrzeuge aus. Martinshörner hallen von den Steilhängen zurück. Der Oberbürgermeister bekommt viel davon mit. Seine Frau und er wohnen in der Elberfelder Innenstadt. Ihre drei Kinder sind schon erwachsen. Die Sachschäden gehen in die Millionen. Zum Glück stirbt niemand – anders als an der Ahr. Am nächsten Tag ist er Gast in der Lokalzeit des [anderes TV-Medium]. Doch er verzichtet auf Ortstermine im Helfer-Look.
„Ein politisches Tier hätte die Gummistiefel herausgeholt. Aber in mir ist ein Widerwille zu inszenieren um der Inszenierung willen“, sagt er. Der Krisenstab habe reibungslos funktioniert. Und vor drei Jahren sei die Innenstadt sogar stärker betroffen gewesen. Immerhin: „Der Sensibilisierung für Klimathemen hat das Rückenwind gegeben“, sagt er. Das Konzept der Schwammstadt ging auf, das mit Regenmassen besser umgehen kann.
Doch sein nüchterner Politikstil ohne markige und konkrete Ankündigungen wirft die Frage auf, wie gut Wissenschaftler eigentlich als Lokalpolitiker taugen. Der fachliche Austausch mit den Institutskollegen macht ihm sichtlich Spaß, an seinen Ortsterminen muss er noch feilen. Ein Kritiker sagt: „Er versteht das Rathaus als Skalierung des Wuppertal Instituts.“
Nachhaltigkeit ist ein globales Thema, das lokalen Handlungsdruck erzeugt. „Wenn wir das ökologische Überleben sichern wollen, funktioniert das am besten in der Kommune“, sagt einer von Schneidewinds langjährigen Weggefährten. Das verstehe der Wuppertaler Oberbürgermeister besser als andere. Sein kommunales Modellprojekt hat Ausstrahlungswirkung über die Stadtgrenzen hinaus.
Umgekehrt lässt sich fragen: Wenn ein Fachmann vom Kaliber Schneidewinds mit all seinen Kenntnissen an dieser Aufgabe scheitert, ist sie dann vielleicht insgesamt zu groß? Oder in der Logik des Aschenputtel-Märchens gedacht. Vielleicht gelingt es dem vermeintlich armen Mädchen, schöne Kleider zu bekommen. Aber es reicht nicht, zum endgültigen Ziel zu kommen, den Prinzen von sich zu überzeugen. 85 Meter autofreier Laurentiusplatz in Elberfelde sind auf dem Weg. Es sind es noch 4915 Tage bis zur Klimaneutralität.
An einem Abend Ende September dreht Schneidewind auf. Es geht an einem Schrottplatz vorbei, im Sommer wurde hier auf einer Brache ein Festivalgelände angelegt. Im Spätsommer ist es schon vorbei. Das Gelände soll einmal das Zentrum einer global nachhaltigen Kommune werden. Nicht weit von hier führt die zur Fahrradstraße umgebaute alte Nordbahntrasse entlang. Die Alte Glaserei ist ein Ort, an dem viel Phantasie erlaubt ist. Der Backstein innen drin zur Hälfte verputzt, in die verschiedenen Räume führen provisorische Holztreppen. Diskokugeln verteilen das Licht. Eine Location, die Gedanken anregen soll.
Uwe Schneidewind sitzt in der ersten Reihe auf einem abgewetzten Stuhl, wie auch fünfzig andere Teilnehmer. Unternehmer, Beamte, Vereinsvertreter, Manager. Heute soll es darum gehen, wie Wuppertal die siebzehn UN-Nachhaltigkeitsziele auf die kommunale Ebene übersetzt. Fast vierzig Modellkommunen haben das in seinem Bundesland schon hinter sich. Das Bundesministerium für Zusammenarbeit zahlt. Eine Agentur steuert das Verfahren. Schneidewinds Kritiker würden sagen, hier versammle sich seine Entourage, die ihm applaudiert und Stichworte zuflüstert.
Der Moderator der Agentur vergleicht Wuppertal mit anderen Kommunen. Die Entwicklung der Naherholungsgebiete stagniert, während sie andernorts zunimmt. Zwar hat die Abfallmenge je Kopf abgenommen, sie liegt aber immer noch über dem Landesdurchschnitt. Im ersten von fünf Schritten zur global nachhaltigen Kommune muss die Gruppe eine Bestandsaufnahme erdulden, die nicht schmeichelhaft ausfällt.
Auf zehn Stellwänden, von der Agentur vorbereitet, sind Fakten aus zehn Handlungsfeldern zusammengetragen. Die Leiterin der Wuppertaler Bibliothek ergänzt einen fehlenden Punkt mit einem Edding. „Guck dir die Plakate an und komm ein bisschen in die Diskussionen rein“, ruft der Oberbürgermeister einem Mitglied der SPD-Ratsfraktion zu, das sich verspätet hat.
Genau das beherzigt er auch selbst. An jeder Stellwand wirft er kurz Stichworte ein, hört zu, was die anderen sagen. Manchmal zückt er sein schwarzes Notizbüchlein, in dem er Ideen für später notiert. Das Buch ist das Mittel, um sein Versprechen „Da kümmern wir uns drum“ zu verwirklichen. Viele neue Gedanken finden Platz auf den Plakatwänden: die Bewerbung als Hauptstadt des fairen Handels etwa. Die Stichwortgeber kennen manchmal Dinge, auf die die Verwaltung selbst nicht kommt. Durch die zehn Meter hohe Halle dringt Gemurmel. Man trinkt Fritz Kola, die Brause der Kreativen.
Ein Gong erklingt. Noch eine halbe Stunde Zeit zum Austausch. An einer Stellwand geht es um das Thema Teilhabe. Eine junge Frau mit Kopftuch steht schüchtern an der Seite. Sie ist offenkundig nicht Teil von Schneidewinds Entourage. „Wie sehen Sie das Thema Teilhabe?“, fragt Schneidewind sie offensiv, aber einladend. Ein kleiner Dialog über sprachliche Benachteiligung und kulturelles Kapital folgt. Der Politiker hört aufmerksam zu und vermittelt den Eindruck, interessiert an ihrer Perspektive zu sein.
Die Glocke erklingt. Nun sollen Mitglieder der Stadtverwaltung die Diskussionen an den Plakatwänden zusammenfassen. Für Schneidewind ist es ein Format, in dem er glänzen kann. Der Oberbürgermeister, dem die Opposition vorwirft, zu selten auf Fotos und bei Kaninchenzüchtern vorstellig zu werden, stellt Nähe zu Anwälten ihrer Stadtquartiere her. Was wie Stichwort-Bingo wirkt, ist womöglich der Ausgangspukt für neue Netzwerke.
„Wir wollen Nachhaltigkeit in andere Teile der Gesellschaft bringen“, sagt er zum Abschluss der Veranstaltung. „Jetzt fühlen Sie sich ganz frei“, ruft er den Teilnehmern zu. Mit blauen Klebepunkten sollen sie markieren, welche der genannten Projekte Priorität haben. Die Runde lacht. Einer seiner politischen Unterstützer sagt: „Schneidewind kann einen neuen Geist kreieren. Das ist nicht nur Geschichtenerzählen, sondern Kärrnerarbeit.“
Aber werden hier nicht etwas zu viele Geschichten erzählt? Fehlt nicht das Ärmelaufkrempeln? Wo sind die klaren Ankündigungen, wo die verbindlichen Zeitpläne? Schneidewind ist überzeugt, dass positive Wuppertalgeschichten, wie er das nennt, für den eingeschlagenen Pfad der Klimaneutralität bis 2035 identitätsstiftend sein können. Wie das begüterte Aschenputtel von der reichen Tochter zur verspotteten grauen Erbsensammlerin und wieder zur Prinzessin wurde: Das soll beispielhaft für Wuppertal werden. Ein Wiederaufstieg aus der Asche zu altem Glanz.
Aschenputtel dient als Vorbild. Schneidewind hat sich dieses Narrativ nicht selbst ausgedacht. So wie das Erbsenmädchen keine Erfindung der Gebrüder Grimm ist. Sie haben Märchen gesammelt auf Marktplätzen, wo Geschichtenerzähler sie gegen einen Groschen zum Besten gaben. Kein „Hänsel und Gretel“ ohne neugieriges Publikum, kein „Froschkönig“ ohne begnadete Erzählerinnen.
Die Aschenputtel-Geschichte vom Comeback Wuppertals hat ihren Ursprung an einem Abend mit Taschenlampe und einem langen Fußmarsch. Der Unternehmensberater Carsten Gerhardt, ein Kind der Stadt, das in Sichtweite des ikonischen Gasometers in den Kindergarten ging, und seine Frau hatten die Kinder bei den Großeltern ausgelagert und wollten einmal vollständig die stillgelegte Nordbahntrasse entlangwandern, ein Drittel davon durch Tunnel, große Teile auf alten Viadukten.
Nach der Wanderung waren sie überzeugt, die Trasse müsse dem Publikum zugänglich gemacht werden. Sie gründeten einen Verein. Schließlich sammelten sie Millionen an Spendengeld und nahmen der Stadt ab, Förderanträge zu stellen. Heute nennt Gerhardt das Projekt den längsten innerstädtischen Fahrradweg der Welt.
Gerhardt und Schneidewind verbindet einiges: Baumumarmer sind beide nicht, aber Ökos aus Leidenschaft. Sie teilen die Erfahrung in einer Unternehmensberatung, Gerhardt blieb in der Branche. Beide raten dazu, raus aus der Verzichtsdebatte zu kommen. Wo vor zweihundert Jahren eine industrielle Revolution startete, sollen die Wurzeln der fünften industriellen Revolution gelegt werden: die Kreislaufwirtschaft.
So kam der Name Circular Valley zustande, deshalb wird das von überall sichtbare Gasometer zum Ort aufgemotzt, an dem sich ein Silicon Valley für Stoffkreisläufe präsentiert – mit riesigem 360-Grad-Kino, deshalb der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart als Schirmherr.
So wie die Gebrüder Grimm die Geschichtenerzähler in der Provinz brauchten, um gute Narrative zu finden, so braucht Uwe Schneidewind, der Oberbürgermeister von Wuppertal, solche Narrative. Genug Nährboden sei da, glaubt er. „Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“, wie sein umfangreichstes Buch heißt, enthält ein Kapitel über Pioniere des Wandels als Motoren der nachhaltigen Entwicklung. Carsten Gerhardt mit seiner Wuppertal-Bewegung füllt diese Rollenbeschreibung aus. Gerhardt sagt: „Ich bin glücklich, dass Uwe Schneidewind und die Wuppertal-Bewegung zusammenfließen.“
Am zweiten Oktober gibt die Stadt Wuppertal bekannt, dass 85 Meter am Laurentiusplatz künftig autofrei sein werden. Die Schilder hat die Stadtverwaltung außergewöhnlich schnell aufgehängt. In Tagen statt Wochen. Oft dauert so etwas sogar einige Monate. Im eigenen politischen Lager wird das mit der internen Kommunikation Schneidewinds in Verbindung gebracht. 4836 Tage bis zur Klimaneutralität.
Und wenn Schneidewinds Modellprojekt nicht funktioniert – trotz seiner Konzepte? „Wenn das Experiment Schneidewind scheitert, heißt das nichts“, sagt er. Mit den Oberbürgermeisterinnen und -bürgermeistern von Rostock, Bonn, Schwerin, aber auch dem umstrittenen Boris Palmer in Tübingen gebe es viele neue Rollenmodelle für künftige Stadtoberhäupter. Als er das sagt, ist es Anfang November. 4800 Tage bis zur Klimaneutralität.
Die Diskussion über die Frage, wo Uwe Schneidewind ist, ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er wird ernst, legt sein Lächeln ab, wenn er darüber spricht. Die Behauptung der Kritiker in der Stadt, er interessiere sich nicht für die Qualität öffentlicher Toiletten, sei infam. Er sagt, in der weiterhin klammen Stadt reiche das Geld nicht, um das Niveau merklich zu heben. Und für drei sanierte WCs stelle er sich nicht vor einen Fotografen.
An diesem Samstagnachmittag Anfang November stehen Besuche bei Vereinen an: Einer betreibt eine Kletterhalle, einer nennt sich Breite Burschen Barmen und hat sich im Fußball erst allmählich den Respekt der Gegner verdient. „Gern erstmal alles ansehen“, antwortet Schneidewind auf die Frage seines Gastgebers in der Kletterhalle. Während des Gesprächs mit dem Vorstand klettern junge Sportler an steilen Wänden hoch, die zum Leistungssport qualifizieren. An anderen Hängen versuchen sich Gruppen von Jugendlichen.
Mehrfach kommt das Gespräch auf Nachhaltigkeitsthemen, die dem Oberbürgermeister nahe liegen. Der Verein will in Kürze klimaneutral werden. Doch Schneidewind will das gesamte Bild bekommen. Nur als die Kletterer die Chancen der Geothermie für den Standort ansprechen, zückt er kurz sein kleines schwarzes Notizbuch. Feuer fängt er bei dem Gedanken, eine gemeinsame sommerliche Tour von der Elberfelder zur Barmer Hütte zu machen. „Das nehmen wir mit“, sagt er.
Schneidewind hat im Sommer gemerkt, dass er den näheren Kontakt zu den Bürgern und den Vereinen braucht. Corona erlaubt es jetzt. Sein Vorgänger war darin ein Meister, die große Erzählung dagegen beherrschte er nicht. Man merkt dem aktuellen Oberbürgermeister seine Herkunft aus dem Elfenbeinturm an, aber arrogant oder hochnäsig ist er nicht. Und er stellt neugierige Fragen und beginnt damit Gespräche.
Im Partyraum der Breiten Burschen riecht es nach Glühwein und Kaffee. Unten auf dem Platz müht sich die B-Jugend. Oben stehen Dutzende Pokale auf Regalen. „Die schönste Anlage in Wuppertal, wenn nicht in ganz NRW“, lobt der Vereinsvorsitzende sich und seine Mitstreiter. In einer ausrangierten Schwebebahn können Zuschauer bei Regen die Spiele verfolgen. Ein selbstgedrehter Imagefilm führt das Selbstverständnis des Vereins vor.
Danach ein Fragenfeuerwerk vom OB: Ob der Jugendliche häufiger mit Drohnen drehe? Ob der Verein in Schulen um Nachwuchs wirbt? Ob es Hallenplätze gebe? Und als der Vorstand auf Fotos aus Sansibar zeigt, will Schneidewind wissen, was mit Mitgliedern sei, die sich das nicht leisten können. Der Oberbürgermeister, der in seinem Zukunftsplan angeblich das Wort „sozial“ vergessen hat, hat es im Fußballheim im Kopf.
Vorstand und Stadtspitze gehen den kurzen Weg zur Schwebebahn, von der aus junge Leute das Spiel unten auf dem Feld verfolgen. Ein Gespräch über Jugendliche folgt, die es zu großen Vereinen schaffen. Nachfragen des Radrennfahrers Schneidewind an die Fußball-Community. Es ist ein bisschen so, als ob gerade eine zweite Phase in der Amtszeit von Uwe Schneidewind beginnt. Mehr zu den Leuten, ein bisschen Kümmerer sein. Vielleicht kann er das. Als das Gespräch darauf kommt, dass eine eigene Halle fürs Training im Winter doch nützlich sein könnte, zückt er sein schwarzes Notizbuch. „Toller Spirit“, „alle Achtung“, „absolut überzeugend“, lautet sein Fazit.
Als er das sagt, hat er einen freien Blick auf das Gasometer, diesen markanten Turm, den ihm die Wuppertal-Bewegung als Symbol für den Wandel zur Nachhaltigkeit angeboten hat. Am Vorabend fand hier eine aufwendige Produkt-Präsentation von Rolls-Royce statt. Wahrscheinlich braucht es ein wenig von beiden Rollen, vom Visionär und vom Kümmerer, damit es klappt. Seinen Schreibtisch ließ einst Johannes Rau errichten, einer seiner Vorgänger. Ein Wuppertaler, der zur Inkarnation eines Landesvaters wurde.
Schneidewind glaubt an die Erzählung von Wuppertal als dem schönen Aschenputtel und tut einiges dafür, dass die Stiefschwestern irgendwann neidisch auf das Mädchen schauen. Ein Jahr, nachdem er das Amt übernommen hat, steht aber der Beweis aus, dass die Real-Labore des Wissenschaftlers der Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Weg zum nachhaltigen Leben werden. An Ideen mangelt es nicht. In zehn Tagen soll der Rat beschließen, dass sich Wuppertal um die Bundesgartenschau 2032 bewirbt. Der Kämmerer bremst. Schneidewind glaubt, dass man dort alle relevanten Themen des Wandels der zwanziger Jahre präsentieren kann. Dann wären es nur noch 1200 Tage bis zur Klimaneutralität.