In der Falle
von Nils Heck (geb. Wischmeyer)
Süddeutsche Zeitung vom 08.01.2022
Durch Integration von Angeboten für Ratenzahlung und Kauf auf Rechnung in Onlineshops hat sich insbesondere seit der Pandemie die Verschuldung von Privatpersonen vergrößert. Kunden würden aufgrund niedrigschwelliger Kreditangebote dazu verleitet, mehr zu kaufen, als sie sich leisten könnten. Zahlungsdienstleister wie Klarna und PayPal weisen entsprechende Vorwürfe zurück.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
In der Falle
Es war 2019, als sie die Angebote entdeckte, die sie ruinieren sollten. Sie kaufte im Internet Möbel, bei denen es gerade Prozente gab, dann waren da die neuen Angebote von Sodastream und selbst Lebensmittel landeten in ihrem im virtuellen Einkaufskorb. Es ging ja alles so schnell, so unkompliziert. Klick und los. Leisten konnte sich die Rentnerin das in diesem Maße zwar nicht. Doch der Kauf auf Raten und Rechnung machte es ja alles möglich – und einfach war er noch dazu. Es ist dann ziemlich einfach, unbequeme Fragen, die man sich eigentlich stellen müsste, einfach mal auszublenden.
Jetzt kaufen, später bezahlen: Dieses Prinzip trieb Katja Häckling, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, in eine Schuldenfalle. 10 000 Euro an Schulden hat sie zwischen 2019 und 2021 angehäuft – ausgerechnet sie, die zuletzt jahrelang im Inkasso gearbeitet hat. Nun steht sie mit dem Rücken zur Wand.
Sie suchte nach einer Notlösung, versuchte, die Schulden mit einem Kredit abzulösen, suchte sich trotz ihrer Rente sogar wieder einen Job. Reichen könnte es am Ende trotzdem nicht. Es droht ihr die Privatinsolvenz. Und das alles wegen einer kleinen Shopping-Tour. Im Internet.
Der Markt könnte sich bis 2026 vervierfachen. Geschätzter Wert: fast eine Billion Dollar
Was für die Rentnerin gerade bittere Realität ist, hängt auch mit einem Trend zusammen, den es aktuell bei Finanzfirmen gibt und den Investoren mit vielen Milliarden Euro aufpumpen: Buy now, pay later (BNPL) heißt das Phänomen, das aus Australien und den USA gerade nach Europa schwappt. Ins Deutsche übersetzt bedeutet es „Kaufe jetzt, bezahle später“. Weil das für viele Menschen gar nicht mal so schlecht klingt, könnte sich der Markt bis 2026 vervierfachen und dann ein Volumen von fast einer Billion US-Dollar erreichen, rechnen Researchfirmen vor. Buy now, pay later – darunter fallen unter anderem der Kauf auf Rechnung wie auch Ratenzahlungen im Online-Shopping.
Afterpay, Affirm, Klarna, Paypal, Ratepay oder Unzer heißen die Firmen, die auf der Welle des Erfolgs reiten. Hierzulande ist Klarna Marktführer, gefolgt von Paypal, und auch Firmen wie Zalando und Otto wollen über Tochterfirmen daran verdienen. Dahinter stehen wiederum Investoren, die die Visionen der Finanzfirmen hofieren und sie mit vielen Milliarden Euro bewerten. Auf der anderen Seite: Die wachsende Sorge der Finanzaufsicht Bafin, die vor Verschuldung warnt. Und erfahrene Schuldnerberater vor Ort, Menschen wie Ralf Berg, der sagt: „Jeder zweite oder dritte Fall sitzt heute überschuldet wegen Angeboten wie Rechnung oder Ratenzahlung bei mir. Das explodiert gerade richtig.“
Ralf Berg macht den Job als Schuldnerberater schon lange, hat unzählige Menschen aus der finanziellen Talsohle geholt, indem er mit Gläubigern teils um Centbeträge gekämpft hat. Er hat erlebt, wie Handyverträge zur neuen Schuldenfalle wurden, was das Aufkommen des Internets bedeutete und wie Jugendliche ihr Leben schon früh finanziell ruiniert haben. Eines aber ist immer gleich geblieben, sagt er zackig und mit rheinischem Akzent, und das sind seine Tipps: Kaufe nichts auf Raten, kaufe nichts mit Karte, zahle mit Bargeld und führe ein Haushaltsbuch. Es sind die goldenen Regeln, die er seinen Kunden bis heute predigt, egal wie verlockend die Angebote da draußen auch sein mögen. Aktuell ist besonders eines sehr verlockend: Das Prinzip „Kaufe jetzt, bezahle später“.
Vor ein paar Jahren kannte Berg den Begriff nicht einmal, dann landeten die ersten Schuldner bei ihm. Sie hatten auf Rechnung gekauft, erst eine Sache, dann viele, dann verloren sie irgendwann den Überblick und häuften ihn mit der Zeit an, diesen tückischen kleinen Schuldenberg, der scheinbar ganz von alleine immer größer wurde. „Von den 500 Fällen, die wir mit unserem Team jährlich betreuen, ist ein Großteil bei Klarna oder Paypal verschuldet“, sagt Berg. „In der Pandemiezeit ist das noch extremer geworden und das wird immer mehr“, sagt Berg. „Bald brauchen wir Warnschilder“, sagt er. „‚Kaufe jetzt, bezahle später‘ ist nicht ungefährlich“ oder „Achten Sie auf Ihre Ratenzahlungen“.
Wird hier gerade ein neuer Trend zu einem großen Risiko?
Gefragt, wie sie sich die hohen Zahlen erklären, betonen Paypal wie Klarna, dass sie vor den Käufen umfassende Bonitätsprüfungen durchführen, Limits für Kunden setzen und alles tun, damit diese sich nicht verschulden. Warum aber landen dann so viele Menschen in der Schuldenfalle?
Im Land der schwäbischen Hausfrau muss dieser Trend sowieso merkwürdig anmuten. Rechnungskauf kennen die meisten aus Zeiten des Otto-Katalogs und Ratenzahlungen sind für TV-Geräte bei Mediamarkt schon lange üblich. Was also macht den Hype ausgerechnet jetzt besonders und die Investoren so heiß?
Neu ist zum Beispiel die Entwicklung hin zum Online-Shopping. Die Integration der Bezahlarten in den meisten Online-Shops ist so flüssig, dass es Menschen wie Katja Häckling oft gar nicht auffällt. Früher musste sie zur Bank, einen Kredit beantragen, warten und konnte dann erst etwas kaufen, beispielsweise den neuen Kühlschrank oder den Fernseher. Diese Wege, die Formulare, das waren oft schon erste Hemmschwellen. Heute geht alles mit ein paar Klicks, vielleicht noch einer kurzen Überprüfung vor dem Kauf. „Das ist noch nie so einfach gewesen“, sagt die Rentnerin, die auch in den Jahren zuvor immer mal wieder auf Rate oder Rechnung gekauft hat. Aber so wie jetzt war es noch nie.
Ebenfalls neu in der Welt von „Kaufe jetzt, bezahle später“ ist der veränderte Warenkorb. Während es es früher eher Autos oder das neue Sofa waren, die die Menschen finanziert haben, sind es heute auch Modeartikel wie T-Shirts von H&M, Socken von Zara oder günstige Elektronik aus dem asiatischen Raum. Ein Warenkorb bei Klarna liegt im Durchschnitt bei nur 100 Euro. Am Ende ist es aber die Summe der einzelnen Rechnungen, die durchschlägt. Wenn man so will, geht es dann nicht selten ohne große Bedenken am Kopf vorbei und direkt in den Mausklick.
Das System verleitet offenbar dazu, dass die Menschen mehr kaufen, als sie es sonst machen würden. Zu viel sogar? In Deutschland wirbt Klarna gegenüber Händlern damit, dass der Bestellwert bei ihnen 58 Prozent höher als bei anderen Kunden sei. Und: 30 Prozent aller Nutzer von Klarna hätte nur aufgrund einer Finanzierungsoption einen Einkauf getätigt. Beim Konkurrenten Paypal klingen die Werbeversprechen auf der Website für interessierte Unternehmen und Händler ähnlich. Der Kunde würde so zu Spontankäufen verleitet, heißt es dort. Und: „Die Möglichkeit, größere Einkäufe in Teilen zu bezahlen, schafft zusätzlichen Kaufanreiz für Ihre Kunden“, wirbt der US-Konzern.
Ein ehemaliger Klarna-Mitarbeiter kennt das System der geteilten Rechnung nur zu gut. Er erklärt, dass die meisten Kunden getrieben seien von ihrem eigenen Cashflow. Das bedeutet, sie wissen grob, wie viel Geld sie in der Brieftasche haben und wie viel etwa auf dem Konto. Wollen sie nun einen Einkauf tätigen, schauen sie, ob das Geld reicht. Ist es zu wenig oder zu knapp, wird der Kauf eher nicht getätigt. Teilt der Händler die Zahlung hingegen in mehrere Teile auf wie bei einer Rate oder verschiebt sie wie bei einer Rechnung, sieht es für den Kunden plötzlich so aus, als könne er sich das Produkt doch leisten. „‚Kaufe jetzt, bezahle später‘ verleitet Leute dazu, mehr als geplant in den Warenkorb zu legen“, sagt der Ex-Mitarbeiter.
Danach gefragt, ob das Angebot darauf ausgelegt sei, Kunden zu übermäßigem Konsum zu verleiten, weisen Klarna und auch Paypal die Vorwürfe zurück. Die Kunden würden die Option auf einen Rechnungs- oder Ratenkauf nicht für übermäßigen Konsum, sondern aufgrund der Flexibilität und Sicherheit der Optionen nutzen. „Klarna übernimmt bei jeder Bestellung das gesamte Ausfall- und Betrugsrisiko“, heißt es auf Anfrage. „Aus diesem Grund bevorzugen Kundinnen und Kunden oft BNPL-Angebote“, so eine Sprecherin.
Gerade an der Flexibilität aber stört sich die Bafin, denn diese habe „Tücken“, schreibt die Finanzaufsicht auf ihrer Website. Oft seien die Konditionen der Anbieter verhältnismäßig teuer. „Niedrige Einzelraten und/oder in scheinbar ferner Zukunft liegende Fälligkeitsdaten können auch zu unbedachtem Handeln verleiten“, schreibt die Finanzaufsicht und warnt die Verbraucherinnen und Verbraucher: „Insbesondere wenn Sie also ohnehin schon ‚knapp bei Kasse‘ sind, laufen Sie möglicherweise Gefahr, Schulden zu machen, die Sie schlicht nicht stemmen können.“
Mit solchen Warnungen ist sie gewiss nicht allein. Auch die Verbraucherschützer haben den Trend zu „Kaufe jetzt, bezahle später“ genau im Blick. In den USA hat sich sogar das Consumer Financial Protection Bureau (CFPB) eingeschaltet. Die Behörde, die für den Verbraucherschutz im Finanzsektor zuständig ist, will die Angebote der großen Firmen auf Vorteile, aber eben auch und gerade auf Risiken hin prüfen.
Hierzulande sind die Verbraucherzentralen alarmiert. Steffen Hoffmann vom Bundesverband Verbraucherzentrale (VZBV) beispielsweise sieht besonders die Ratenzahlung bei kleineren Produkten als Problem, das zunehmend größer wird. „Das Geschäftsmodell funktioniert nur, weil die Finanzfirmen die Menschen zu höherem Konsum verleiten – und vermeintlich fahrlässig die Verschuldung in Kauf nehmen. Das halte ich für sehr gefährlich“, sagt der Verbraucherschützer.
Der Rapper Snoop Dogg macht Werbung in einem pinken Bett und findet das alles ganz toll
Die Finanzfirmen hingegen schwören auf die neue Bezahlart und wollen sie unters Volk bringen. Um Ratenkauf und Rechnungszahlung bekannter zu machen, setzen die Finanzfirmen unter anderem auf Influencer und Prominente. Die Rapper-Legende Snoop Dogg beispielsweise liegt in einem Werbespot von Klarna in einem weißen Anzug in einem gigantischen, pinken Himmelbett, umgeben von Hunden mit langen Mähnen. Die Kamera zoomt von seinem Körper weg, während er sagt: „Zu wissen, dass ich all das später bezahlen kann, macht mich so entspannt.“ Was er natürlich nicht sagt: Snoop Doggs Vermögen wird auf an die 150 Millionen Dollar geschätzt. Da kann man natürlich ruhig mal entspannt im pinken Himmelbett liegen und auf Klarna-Rechnungen warten.
Solche Marketingmethoden geben der Idee, Dinge erst später zu bezahlen, einen modernen Anstrich. Die Menschen würden vergessen, dass sie gerade einen kleinen Kredit aufnehmen, sagt Scott Galloway, Professor für Marketing an der Stern School of Business der New York University. „Im Grunde verkleiden die Firmen so Schulden, damit sie lustig und schick aussehen. Aber es sind immer noch Schulden.“
Besonders junge Menschen seien anfällig für solche Art der Werbung, glaubt Galloway. In den USA sind ihm zufolge etwa drei Viertel der „Kaufe jetzt, bezahle später“-Nutzer Millenials oder aus der Generation Z. Das heißt, sie sind verhältnismäßig jung, haben teils aber schon Konsumschulden bei Finanzfirmen wie Paypal, Klarna oder Afterpay.
Deutlich wird das auf Videoplattformen wie Tiktok. Dort gibt es mittlerweile den Hashtag #klarnaschulden. Unter diesem finden sich Hunderte Videos von jungen Menschen, die zu Songs tanzen und ihre Schulden bei Klarna feiern, während das eigene Bank- oder Klarnakonto im Minus ist. Ein Mädchen beispielsweise spricht über mögliche Geburtstagsgeschenke für sich, eines, das sie besonders freuen würde: Wenn jemand ihre Klarna-Rechnungen bezahlen könnte.
Das Angebot spricht aber offenbar nicht nur Jugendliche an. Schuldnerberater Ralf Berg sieht das Problem gerade bei den Ratenzahlungen längst über alle Altersklassen hinweg. „Die geringen Raten locken die Menschen, sie vergessen, dass sie die auch zurückzahlen und dazu noch hohe Zinsen zahlen müssen, und dann kaufen sie nicht nur den Laptop, sondern noch 30, 40, 50 andere Dinge, vom T-Shirt bis zu den Schuhen“, berichtet Berg.
Der Mann mit dem rheinischen Akzent kennt die typischen Abläufe: Am Anfang ist es nur ein Rechnungskauf, den man erst später zurückzahlen muss, dann sind es zwei, dann noch ein Ratenkauf hier und ein anderer Ratenkauf dort. In der Folge verlieren die Menschen den Überblick und schon sitzen sie in seinem Büro und wissen gar nicht, wie das passiert ist.
5000 bis 30 000 Euro Schulden haben die meisten Menschen, die sich an Ralf Berg wenden, darunter auch Katja Häckling. Teile der Schulden sind meist langfristige Kredite oder Investitionen, immer häufiger aber eben auch Konsumschulden, die sie über die Methode „Kaufe jetzt, bezahle später“ angehäuft haben. Teils kaufen die Menschen aus reiner Langeweile, teils weil es so einfach ist, und teils weil sie sich sonst bestimmte Dinge nicht mehr leisten können. Steigt nun die Inflationsrate, dürfte sich das Problem noch verstärken, fürchtet Berg.
Wie schnell es in die Verschuldung gehen kann, weiß Katja Häckling nur zu gut. In der Pandemie konnten Kinder und Enkel sie nicht mehr besuchen, die Arbeit, die ihr früher viel gegeben hatte, war nicht mehr da. Eigentlich reichte die Rente für größere Ausgaben nicht mehr, doch sie konnte ja erst einmal auf Rechnung oder Raten kaufen, später bezahlen. Als „später“ dann aber zum „jetzt“ wurde, fehlte das Geld. Hinzu kamen oft 9,99 Prozent effektiver Jahreszins. „Der Kauf auf Rate sah im ersten Moment natürlich viel besser aus. Ich wusste auch, dass da Zinsen drauf anfallen, aber nicht, dass die so hoch sind. Das war schon viel“, sagt Häckling heute.
Erst kommen die Pakete, dann die Erinnerungen, dann die Mahngebühren
Zu den Paketen kamen dann noch die ersten Erinnerungen der Firmen dazu, dann die Mahnungen, und dann saß sie bei Ralf Berg. Früher machten viele Finanzfirmen bereits mit solchen Mahnungen viel Geld. Heute wolle man damit kein Geld mehr verdienen, betonen die Marktführer Klarna und Paypal. „Wir wollen an den Mahngebühren möglichst wenig verdienen, sondern machen unser Geld mit den Händlern“, sagt Thomas Vagner, Deutschland-Chef von Klarna. Diese bezahlen eine Gebühr für die Zahlungsabwicklung.
Tatsächlich gibt es bei den meisten seriösen Anbietern den Trend, ein Inkasso wenn möglich zu vermeiden. Auch Katja Häckling hat das so erlebt, was sie prinzipiell erst einmal gut fand. Bei Klarna kommen zum Beispiel diverse Erinnerungen, damit der Kunde nicht in Schwierigkeiten gerät, auch die Schulden seien recht übersichtlich zusammengefasst in der App.
Geholfen hat es nicht. Katja Häckling muss nun versuchen, ihre Schulden Stück für Stück abzubauen. Ihr 450-Euro-Job könnte dabei ein bisschen helfen, nebenbei muss sie sich mit Gläubigern einigen. Bis jetzt weiß sie aber noch nicht, ob all das doch noch einen glücklichen Ausgang nimmt. Bei einer Sache ist sie sich aber sicher: „Ich würde das nicht mehr machen, also jetzt zu kaufen und später zu bezahlen“, sagt sie. „Das ist mir zu riskant.“