Gondeln der Hoffnung
von Sebastian Gubernator
Welt am Sonntag vom 10.04.2022
In Bonn soll der ÖPNV durch den Bau einer Seilbahn entlastet werden. Die Mehrheit der Bürger ist dafür, eine kleine Bürgerintiative aus Anwohnern blockiert. Der Artikel dokumentiert den Verlauf des Konflikts und stellt die übergeordnete Frage danach, ob dem Einzelnen Verzicht zugemutet werden kann, wenn die Allgemeinheit profitiert.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Gondeln der Hoffnung
An einem frühlingswarmen Tag im März steht Helmut Wiesner auf dem Venusberg und schaut in die Zukunft. Er lässt seinen Blick über einen bewaldeten Hang streifen, der zur Stadt hinabfällt. Im Tal schimmern Straßen und Häuser, in der Ferne glänzt der Turm der Deutschen Post. Wiesner erkennt etwas in diesem Panorama, das anderen verborgen bleibt. Er sieht Säulen aus Stahl, die wie Finger in den Himmel zeigen. Seile, die sich durch die Luft spannen, fünf Zentimeter dick. Und er sieht Gondeln, die daran hängen wie Laternen, groß genug für zehn Personen.
Helmut Wiesner, ein Mann mit Halbglatze und rechteckiger Brille, ist Stadtbaurat von Bonn. Vor ein paar Wochen dachte er noch, er suche nach einer Antwort auf die Frage, wie Städte ihren Verkehr so planen können, dass er die Erde nicht ruiniert. Inzwischen geht es auch darum, wie Deutschland es schafft, seine Energieversorgung von Staaten wie Russland zu lösen.
Bonn, eine Stadt, in der kein Berg höher ist als 195 Meter, will eine Seilbahn bauen. Nicht für Skifahrer oder Touristen, sondern als Teil des öffentlichen Nahverkehrs. Sie soll in Ramersdorf auf der rechten Rheinseite starten, den Rhein überqueren, durch zwei Wohnviertel führen und von dort hinauf zur Uniklinik auf dem Venusberg. Die grüne Oberbürgermeisterin und fast alle Parteien im Stadtrat wollen mit der Seilbahn erreichen, dass mehr Menschen ihr Auto stehen lassen. Im Jahr 2028 könnte sie fertig sein, und Helmut Wiesner ist der Mann, der sie bauen soll.
Manche Experten sehen in Seilbahnen ein Verkehrsmittel der Zukunft, zumindest in Städten. Die Gondeln, die Fachleute nennen sie Kabinen, bleiben nie im Stau stecken; Hindernisse wie Häuser, Straßen, Schienen und Flüsse überfliegen sie mühelos. Die Bahnen sind leise und schnell gebaut, je nach Trassenlänge in weniger als eineinhalb Jahren. Sie kosten viel weniger als eine neue Straße oder ein U-Bahn-Tunnel. Und werden sie mit Ökostrom betrieben, sind sie umweltfreundlich.
Deshalb sehen Verkehrsforscher sie als eine von vielen Antworten auf die Frage an, wie Deutschland klimaneutral wird. Das Bundesverkehrsministerium hat einen Arbeitskreis urbane Seilbahnen eingerichtet, um Kommunen bei der Planung besser unterstützen zu können. Vorbilder gibt es längst.
In Ankara verbindet eine Seilbahn den Stadtteil Sentepe mit einem U-Bahnhof. In New York schweben Gondeln über den East River zur Roosevelt Island. Besonders verbreitet sind urbane Seilbahnen in Lateinamerika. Durch die bolivianische Hauptstadt La Paz spannt sich ein ganzes Netz, zehn Linien, 33 Kilometer, gebaut von einem Hersteller aus Österreich.
Es gibt einige deutsche Städte, die darüber nachdenken, Stuttgart, Leipzig, Herne. Nirgendwo sind die Pläne so weit gediehen wie in Bonn. Allerdings wollen Anwohner das Projekt stoppen. Sie protestieren bei Informationsveranstaltungen und auf Facebook. Sie melden sich in Regionalzeitungen und im Fernsehen zu Wort.
"Die Seilbahn bringt keinen Vorteil", sagt Gundolf Reichert. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich Bücher und Broschüren, auf dem Schreibtisch liegen Gutachten und Studien, davor steht Reichert. Er ist ein hochgewachsener Mann von 71 Jahren. Er hat weißes Haar und einen weißen Bart. Wenn er etwas absurd findet, lacht er ein kurzes, kehliges Lachen. Er lacht oft, wenn er über die Pläne des Stadtbaurats Wiesner spricht. Vor knapp sechs Jahren hat Reichert mit ein paar Mitstreitern eine Bürgerinitiative gegründet, "Bonn bleibt seilbahnfrei". Inzwischen hat die Gruppe etwas mehr als 100 Mitglieder. Reichert ist ihr Vorsitzender, er steuert den Protest. In den vergangenen Jahren sind er und Wiesner sich oft bei Diskussionsveranstaltungen begegnet. Einer Meinung waren sie nie.
Hinter Reichert summt ein Drucker, seine Frau hat gerade einen neuen Flyer entworfen. "Achtung du zahlst", steht dort in Versalien. Danach kommen sehr viele Zeilen Text, eine Wüste aus Buchstaben. Sie schaut skeptisch auf das Blatt Papier. "Das ist einfach zu viel Text", sagt sie.
"Wir können ja einen langen Flyer machen", sagt er.
Reichert und seine Frau wohnen in einem weiß getünchten Reihenendhaus in Bonn-Dottendorf. Vor dem Haus parkt ihr Auto, im Garten erholen sich die Hortensien vom Winter. Das Grundstück ist perfekt gelegen, eigentlich.
Wenn Gundolf Reichert in seinem Arbeitszimmer das Fenster öffnet, kann er die Bäume sehen, über deren Wipfel die Gondeln hinauf zum Venusberg schweben sollen und von dort wieder hinab. Alle 20 Sekunden eine in jede Richtung, 17 Stunden am Tag. Reichert will das nicht, und wie er denken viele in seinem Wohngebiet. Manche fürchten, die Seilbahn werde Lärm verursachen. Andere stören sich an den Stützen, die gebaut werden müssten. Auf öffentlichem Grund zwar, aber was hilft das, wenn sie bis zu 50 Meter hoch sind und das Stadtbild verschandeln?
Protestforscher haben einen Begriff dafür: Nimby. Er steht für "not in my backyard", nicht in meinem Hinterhof. Die Forscher bezeichnen damit das Phänomen, dass Menschen zwar für Veränderung sind, sie aber nicht vor ihrer Haustür wollen. Die Energiewende, die Verkehrswende, all das finden sie gut, in der Theorie. Aber sie möchten die Windräder, Stromtrassen, vielleicht auch eine Seilbahn nicht in Sichtweite haben.
Fragt man Reichert, warum er gegen die Seilbahn ist, packt er ein Arsenal an Argumenten aus. Er nennt Zahlen, zitiert Studien, blättert in Dokumenten, in denen es textmarkergelb leuchtet. Er spricht nicht darüber, dass er von der Seilbahn betroffen wäre, und wenn doch, relativiert er es danach meist. Dass er zwei Häuser vermietet, die noch näher an der Trasse liegen als sein eigenes, erwähnt er so beiläufig, als tue es nichts zur Sache. Es scheint ihm wichtig, nicht wie ein Nimby zu wirken.
Helmut Wiesner hat in seinem Stadtbauratsbüro ein Satellitenbild an die Wand geheftet: Bonn von oben, ein Geschachtel in Grau und Grün. Dicke rote Linien markieren die unterschiedlichen Trassen, die in den vergangenen Jahren diskutiert wurden. Wiesner zeichnet eine davon mit dem Finger nach. Die Nordtrasse, für die sich die Stadt am Ende entschieden hat.
Wiesner ist 60 Jahre alt, er hat eine Verwaltungskarriere hinter sich: Studium der Raumplanung in Dortmund, Umweltamtsleiter in Brühl, Technischer Beigeordneter in Troisdorf. 2016 wechselte er nach Bonn. Als er seinen neuen Job antrat, hatte die Planung der Seilbahn bereits begonnen. Er fand das Projekt außergewöhnlich, er freute sich darauf.
Mehr als vier Kilometer wäre die Trasse lang, mit fünf Stationen, in denen die Gondeln zum Ein- und Ausstieg abgebremst würden. Eine Station ist an einem Regionalbahnhof geplant. Zu einer anderen soll eine S-Bahn-Strecke gebaut werden. Pendler könnten vom Zug direkt zur Gondel gehen.
Man sollte von Wiesner, einem zurückhaltenden Westfalen, keine feurigen Plädoyers erwarten. Wenn er erklärt, warum Bonn die Seilbahn brauche, spricht er von "schwachen Querverbindungen in radialen Netzen" und einem "Gewinn für den ÖPNV".
Deutschland, das weiß er, ist noch immer ein Autoland. Auf 1000 Menschen kommen 569 Fahrzeuge, die Zahl steigt Jahr für Jahr, als hätte es all die Debatten über den Klimawandel nie gegeben. Autos sind Fortbewegungsmittel und Freiheitsversprechen. Aber sie sind auch ein Problem, vor allem in den Städten. Sie verstopfen die Straßen und blasen CO2 in die Luft, allein in Deutschland rund 100 Millionen Tonnen pro Jahr. Und seit einigen Wochen ist sichtbar, wie abhängig auch Autos die Bundesrepublik machen können von Ländern wie Russland, von denen man lieber nicht abhängig sein möchte.
Stadtplaner und Verkehrswissenschaftler versuchen, dagegen anzusteuern. In Berlin sperrte der Senat vor eineinhalb Jahren einen Teil der Friedrichstraße für Autos. In Paris führte die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo fast überall Tempo 30 ein und verbannte Autos aus manchen Straßen ganz.
Helmut Wiesner hält nichts von Verboten allein. Er findet, die Politik müsse auch bessere Angebote machen. Mit einer Seilbahn zum Beispiel.
187 Luftseilbahnen gibt es in Deutschland, die meisten in Bayern. Fast alle tragen Skifahrer zu Pisten und Wanderer zu Bergwegen. Nur drei verkehren in Städten. In Koblenz und Köln führen sie über den Rhein, beide sind Überbleibsel von Bundesgartenschauen. Ähnlich in Berlin, wo Gondeln über die Gärten der Welt schweben, seit dort 2017 die Internationale Gartenausstellung stattfand.
Bonn wäre die erste Stadt, die eine Seilbahn als Teil des öffentlichen Nahverkehrs baut.
Um zu verstehen, was sich Helmut Wiesner davon erhofft, muss man sich den Verkehr auf dem Venusberg anschauen. Jeden Tag fahren mehrere Tausend Menschen aus Bonn und dem Umland hinauf zur Uniklinik. Ärzte und Apotheker, Krankenpfleger und Hausmeister, Besucher und Patienten. Zu Stoßzeiten schieben sich Kolonnen aus Autos und Bussen den Berg hinauf.
Die Seilbahn, sagt Helmut Wiesner, wäre die Lösung, oder zumindest ein Teil davon. Sie soll Lücken im öffentlichen Verkehrsnetz so elegant schließen, dass Pendler ohne ihre Autos auskommen.
Wie jedes Großprojekt in Deutschland wurde die Seilbahn von Gutachtern geprüft. Ingenieure haben eine Machbarkeitsstudie erstellt und eine standardisierte Bewertung, ausgedruckt ein daumendicker Stapel Papier voller Tabellen und Diagramme, die sich zu wenigen Sätzen verkürzen lassen: Die Seilbahn wäre machbar. Knapp 15.000 Menschen würden sie jeden Tag nutzen. Rund zwölf Millionen Autokilometer ließen sich pro Jahr vermeiden. Die Seilbahn hätte einen Nutzen-Kosten-Faktor von 1,6. Das heißt, auf jeden Euro, den sie kostet, käme laut Gutachtern ein Nutzen im Wert von 1,60 Euro: durch eingesparte Reisezeit, vermiedene Unfallschäden, geringere Emissionen. Die Stadt schätzt die Kosten für den Bau auf 66 Millionen Euro, rund 90 Prozent übernähmen Bund und Land.
Auf diese Zahlen stützt sich Helmut Wiesner, sie sind sein Fundament. Für Gundolf Reichert sind sie eine Angriffsfläche.
Reichert hat verstanden, dass keine Bürgerinitiative erfolgreich ist, wenn sie aus Leuten besteht, die ihre idyllisch gelegenen Einfamilienhäuser bejammern. Nur wer Argumente hat, kann etwas bewirken. In seinem Arbeitszimmer sammelt Reichert solche Argumente. Er hat Physik studiert und sein Berufsleben damit verbracht, Strahlen aus der Atmosphäre zu vermessen. Jetzt vermisst er die Gutachten und Studien, auf die sich Helmut Wiesner beruft. Er rechnet Statistiken nach, sucht Fehler und Schwächen. Er bezweifelt so ziemlich alles, worauf sich Wiesner stützt.
Er warnt, die Seilbahn werde wegen starken Windes an mindestens 25 Tagen im Jahr stillstehen. Er hält den Hang am Venusberg, auf dem eine Stütze geplant ist, für rutschgefährdet. Das gehe aus einer geologischen Dissertation von 1994 hervor. Die Seilbahn nennt er eine "Drecksschleuder", die jeden Tag so viel CO2 verbrauchen werde wie 17.000 Autos. Er begründet das mit dem hohen Anteil fossiler Energie am Strom in Deutschland. Er behauptet, eine Vollversorgung mit Ökostrom werde man nie erreichen. Energieforscher sehen das anders, die Bundesregierung auch.
Reichert reiht Argument an Argument, er redet schnell, wie jemand, der Angst hat, seinen Gesprächspartner zu verlieren, bevor alles gesagt ist. Einmal kommt seine Frau ins Arbeitszimmer, in der Hand hält sie ein Telefon. Ein Freund ist dran, sie soll fragen, was denn mit morgen sei.
Reichert macht ein irritiertes Gesicht. Er weiß auswendig, dass in der Machbarkeitsstudie ein Entlastungseffekt von 8,3 Prozent für den Verkehr angegeben ist, aber dass sie am nächsten Tag zum Kaffeetrinken eingeladen sind, hat er ganz vergessen. Während sich in Berlin manche Umweltaktivisten an der Straße festkleben, um aufsehenerregende Bilder zu erzeugen, steuert Gundolf Reichert seinen Protest mit dem Kopf, eher Wissenschaftler als Wutbürger.
Wiesner kennt die Kritik, er hört sie seit Jahren. Er sagt, die Stadt werde Ökostrom für den Antrieb kaufen. Und der deutsche Energiemix werde ohnehin in den nächsten Jahren immer sauberer. Tatsächlich will die Bundesregierung so viele Windräder und Solaranlagen bauen, dass sich schon 2035 der gesamte Strom aus erneuerbaren Energien speisen soll.
Aber nicht auf alles hat Wiesner eine Antwort. Ob der Hang am Venusberg ins Rutschen geraten könnte, muss noch untersucht werden. Dass der Wind ein großes Problem wäre, halten Ingenieure für unwahrscheinlich - ein genaues Gutachten steht aber aus. Wiesner sagt, er sei den Seilbahngegnern nicht böse. "Ich verstehe ihre Betroffenheit." Das Problem sei nur, dass sie gar nicht über ihre Betroffenheit sprächen. Wiesner hat den Eindruck, der CO2-Ausstoß, die Hangrutschungen, all das sei nur vorgeschoben, um davon abzulenken, worum es eigentlich gehe.
Das erzählen Wiesners Kollegen in anderen Städten auch. So sei es oft, wenn etwas Größeres gebaut werden soll. Plötzlich wollen Anwohner Vögel schützen oder verhindern, dass Bäume gefällt werden, obwohl ihnen Vögel und Bäume zuvor jahrelang egal waren.
Wiesner und Reichert liefern sich eine Materialschlacht, Auge um Auge, Zahl um Zahl. Sie haben nicht viel gemeinsam, vielleicht nur das: Beiden scheint die Umwelt wichtig zu sein.
Wiesner versucht deshalb, den Verkehr in der Stadt neu zu denken. Er ist selbst Pendler, er fährt mit der Bahn zur Arbeit. Reichert ist Mitglied im Nabu und bei Greenpeace. Wenn die Enkelkinder zu Besuch sind, geht er mit ihnen im Wald spazieren. In seiner Freizeit fotografiert er Vögel, die Bilder hängen in seinem Arbeitszimmer wie gerahmte Souvenirs. Ein Kranich. Ein Stelzenläufer. Ein Sandregenpfeifer, "der Lieblingsvogel aller Ornithologen, weil er so putzig ist".
An einem Montagmorgen stapft Reichert durch eine Straße, in der sich Mehrfamilienhäuser hinter Hecken ducken. Eine kleine Menschentraube folgt ihm, Männer und Frauen aus der Bürgerinitiative. Sie bleiben stehen, wenn er stehen bleibt, und gehen weiter, wenn er weitergeht. Reichert sieht aus wie ein Lehrer, der eine Exkursion mit seiner Klasse unternimmt, und in gewisser Weise ist er das auch.
In den nächsten Stunden wird er immer wieder dort, wo Stützen geplant sind, haltmachen und mit dem Finger in die Luft zeigen. Unterhält man sich während des Spaziergangs mit seinen Mitstreitern, hört man Folgendes: Die Seilbahn werde ein "Kostengrab". Sie sei nicht nachhaltig. Fast alle Mitglieder der Bürgerinitiative wohnen in der Nähe der Trasse. Sie verschweigen das nicht. Aber sie geben sich wie Reichert Mühe, es nicht zu betonen.
Die Seilbahngegner haben einige Argumente, mit denen sie die Stadt durchaus unter Druck setzen können. Sie wissen aber auch genau, welche Argumente sie im Gespräch mit Journalisten vortragen müssen und welche eher nicht.
Reichert ist vor einer Schule angekommen, einem Backsteinbau mit großen Fenstern. Er führt seine Gruppe auf den Schulhof. Als eine Lehrerin kommt, stellt er sich vor, "Reichert mein Name", sagt er, es gehe um die Seilbahn, er wolle nur kurz die Trasse zeigen. Man merkt, dass er nicht zum ersten Mal hier ist. Die Erich-Kästner-Grundschule ist einer der Punkte, an denen sich der Streit über die Seilbahn entzündet.
Auf einer ersten Skizze, schon ein paar Jahre her, stand eine der geplanten Stützen noch mitten auf dem Schulhof, etwa da, wo Reichert jetzt steht. Die Aufregung war groß. Reichert ließ Flyer mit einer Fotomontage drucken, auf der eine monströse Säule aus dem Schulgebäude wuchs. Seilbahngegner warnten davor, dass Eiszapfen von der Stütze fallen könnten. Als die Stadt zu einer Veranstaltung über die Seilbahn einlud, die sie "Bürgerdialog" nannte, protestierten Eltern und Kinder mit Plakaten in der Stadthalle. Manche in Bonn vermuten, Reichert habe die Eltern angestachelt. Er bestreitet das.
Spricht man Helmut Wiesner auf die Sache mit der Schule an, antwortet er wie ein Politiker: "Da wurde sehr viel aufgebauscht. Wir haben im weiteren Prozess versucht, das zu versachlichen, und wir werden das auch weiter versuchen." Die Wahrheit ist allerdings auch, dass die Stadt keine zufriedenstellende Lösung gefunden hat. Sie muss die Stütze an den Rand des Schulhofs stellen oder auf eine Kleingartenanlage daneben, ansonsten gibt es in der Umgebung keinen öffentlichen Grund. Über die Schule flögen die Gondeln so oder so, die Gegner finden das skandalös. Zumindest die Sorge wegen Unfällen entkräften die Erfahrungen: Bezogen auf die Zahl der Fahrgäste, sind Seilbahnen laut Experten das sicherste Verkehrsmittel der Welt.
In Bonn wird nicht nur der Bau einer Seilbahn verhandelt, sondern auch der Preis, den die Verkehrswende hat. Und die Frage, wer diesen Preis am Ende zahlen muss.
Für den Stadtbaurat Wiesner ist die Sache klar. Er findet, wenn die Allgemeinheit von einem Projekt profitiere, müsse der Einzelne sich zurücknehmen. Leider sei Deutschland zu einer Ellenbogengesellschaft geworden, das Gemeinwohl zähle kaum noch. Das Interesse eines Einzelnen setze sich im Zweifel gegen eine Idee durch, die gut für alle wäre. Sein Gegenspieler Reichert sagt, die Politik entscheide zum Teil über Wahnsinnsprojekte, ohne die Bevölkerung zu fragen.
An einem trüben Nachmittag betritt Helmut Wiesner ein Veranstaltungsgebäude in Bonn-Beuel und nimmt die Treppe in den ersten Stock. In der Hand hat er einen kleinen Rollkoffer. Er kommt direkt vom Flughafen, zwei Tage Cannes, eine Immobilienmesse, Gespräche mit Investoren und Fachjournalisten. Jetzt muss er zur Stadtratssitzung, die wegen Corona in einem schmucklosen Saal stattfindet: Tische auf Abstand, davor sitzen die Ratsmitglieder, als schrieben sie eine Abiturprüfung.
Wiesner steigt zu den anderen Beigeordneten aufs Podium. Der Stadtdirektor schmettert ihm ein "Bonjour!" entgegen und lacht schallend. Ein bisschen Small Talk über die Dienstreise nach Frankreich, dann entfaltet sich im Saal das Klein-Klein der kommunalen Demokratie: Diskussionen über Radfahrstreifen und einen Neubau in der Südstadt. Und über die Seilbahn. Unter dem Tagesordnungspunkt 6.10 wird besprochen, ob die Pläne fortgesetzt werden sollen. Fast alle Fraktionen sind dafür.
Im Stadtrat hat eine von den Grünen geführte Koalition mit SPD, Linken und Volt die Mehrheit. Aber auch die FDP begrüßt die Seilbahn "sehr stark" und fordert, das Projekt "möglichst schnell" auf den Weg zu bringen. Die CDU betont zwar, dass noch Fragen offen seien, sie dem Gesamtprojekt aber "sehr positiv" gegenüberstehe. Nur der Bürger Bund Bonn, eine freie Wählervereinigung, stellt die Seilbahn infrage.
Fast eine halbe Stunde dauert die Diskussion, Helmut Wiesner hört nur zu. Später wird er sagen, es sei gut, dass so viele Fraktionen ihre Unterstützung betont haben. Er hat beim Bau der Seilbahn nicht nur den Stadtrat im Rücken. Auch die Umweltverbände Nabu und BUND unterstützen sie, die Verkehrsvereine ADFC und VCD, der AStA der Universität, ebenso die Deutsche Post und die Deutsche Telekom, deren Firmenzentralen an der Trasse liegen. Die Uniklinik hat ein Video gedreht, in dem Mitarbeiter lächelnd erklären, warum sie die Seilbahn bräuchten.
Wiesner hofft, dass von Bonn eine Signalwirkung ausgehen wird. Auch in anderen Städten setzen sich Politiker aus unterschiedlichsten Parteien für Seilbahnen ein, CDU-Vertreter ebenso wie Grüne und Sozialdemokraten. Wenn es in Bonn funktioniert, hätten sie ein gutes Beispiel, auf das sie verweisen könnten. Schon jetzt hat jedes Bundesland ein eigenes Seilbahngesetz, sogar dann, wenn dort keine einzige Seilbahn betrieben wird - ein Kuriosum, zu erklären mit der Umsetzung von EU-Recht in nationale Gesetze.
Johannes Frech fände es gut, wenn es mehr urbane Seilbahnen gäbe. Mit einem Stapel Flyer in der Hand steht er auf einem Bussteig am Bonner Hauptbahnhof, umgeben von Menschen, die in den Feierabend eilen. Frech ist Rentner und Mitglied im ADFC, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. Er leitet eine Initiative, die sich für die Seilbahn einsetzt. Auf ihren Flyern schwebt eine Gondel in dämmrigem Licht über einen Wald. Es kommt nicht oft vor, dass es in Deutschland Bürgerinitiativen gibt, die für Infrastrukturprojekte demonstrieren. Wenn es nach den Bonner Befürwortern ginge, wäre die Seilbahn längst fertig. Wie Wiesner hoffen sie, dass mehr Menschen das Auto stehen lassen, wenn das Nahverkehrsnetz besser ausgebaut ist. Sie halten die Seilbahn für eine Chance, die sich Bonn nicht entgehen lassen sollte.
Gundolf Reichert dagegen sieht sich als David, der gegen einen Goliath in den Kampf zieht. Er und seine Mitstreiter gegen die Stadt, die Uniklinik, die Unternehmen, Verbände und Vereine, eine unfaire Übermacht. Man kann das so sehen. Man kann aber auch die Frage stellen, was es mit einer Demokratie macht, wenn einige Dutzend Protestierende so laut auftreten, als ob sie einen relevanten Teil der Bevölkerung repräsentierten. Die Fraktionen im Stadtrat, die für das Projekt sind, vertreten dagegen einen großen Teil der Bonner, zusammen rund 112.000 Wähler.
Reichert hängt seine Hoffnung an Seilbahnen, die in anderen Städten gescheitert sind. In Hamburg wollte ein Musical-Veranstalter vor ein paar Jahren im Hafengebiet eine bauen, von St. Pauli über die Elbe zu seinen Theatern. In einem Bürgerentscheid wurde das abgelehnt. In Wuppertal plante die Stadt eine Seilbahn vom Hauptbahnhof zur Universität. Anwohner machten dagegen mobil, 2019 mussten die Pläne nach einer Bürgerbefragung eingestampft werden.
In Bonn wird es keine Bürgerbefragung geben, die Stadt lehnt das ab. Reichert will trotzdem weitermachen. Je mehr Menschen er auf seiner Seite hat, desto größer wird der Druck auf die Politik, so sieht er es. Und sobald die exakten Positionen der Seilbahnstützen feststehen, wollen die Anwohner dagegen klagen.
Allerdings kommt ihnen seit einigen Wochen etwas in die Quere, die ganz große Politik. Seit dem Krieg in der Ukraine hat die Verkehrswende eine neue Dringlichkeit bekommen. Die Benzinpreise sind explodiert, die Bundesregierung will russische Ölimporte bis zum Sommer halbieren. Autofahren, für viele eine Notwendigkeit, ist politisch aufgeladen wie nie zuvor. Die Seilbahn hält Reichert trotzdem für Unsinn. Die meisten Pendler, glaubt er, würden sowieso weiter das Auto nehmen. "Damit kommt man schneller ans Ziel", sagt er.
Spricht man Wiesner auf den Konflikt mit Russland an, sagt er, er plane die Seilbahn vor allem, um einen Beitrag zur Klimarettung zu leisten. Aber je weniger Autos auf den Straßen fahren, desto unabhängiger sei Deutschland auch von russischem Öl.
Demnächst werden seine Kollegen aus dem Planungs- und dem Tiefbauamt eine Ausschreibung formulieren. Sie werden mit Seilbahnherstellern sprechen und Angebote prüfen. Läuft es, wie Wiesner sich das vorstellt, dann werden im Jahr 2026 die ersten Bagger rollen und Löcher in die Erde graben, wenige Meter tief. Arbeiter werden sie mit Zement aufgießen, um Fundamente für die Stützen zu schaffen. Kräne werden die Module der Seilbahn herbeitragen wie das Legospielzeug eines Riesen; Teile der Masten, Querhäupter, Rollbatterien. Schließlich, wenn die Seile aufgezogen und die Stationen gebaut sind, wird die erste Gondel starten, Fotografen werden Fotos machen, anschließend wird der Autoverkehr zurückgehen.
Jedenfalls hofft Helmut Wiesner, dass es so kommt.