Feindesland
von Martin Mehringer
manager magazin vom 18.02.2022
Reportage über die Entlassung führender Mitarbeiter unter einem Vorwand, über die psychologischen, finanziellen und sozialen Folgen dieser Demontage aus Sicht der Arbeitnehmer und über die Aussichtslosigkeit eines juristischen Vorgehens der Betroffenen aufgrund ungleich verteilter finanzieller und personeller Ressourcen.
Interview mit Ulrich Schumacher (ehemals CEO von Infineon).
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Feindesland
Enrique Strelow (62) schaut sich ein paarmal um, bevor er das Café in Ruppertshain, einem abgeschiedenen Flecken im Taunus, betritt und in der Nähe des Fensters Platz nimmt. Von fern sieht Strelow die Skyline der Bankenmetropole Frankfurt, der Stadt, in der er 32 Jahre seines Lebens gearbeitet hat, für einen Konzern, der Süßes für Kinder herstellt und vor dem er heute Angst hat: Ferrero.
Strelow zückt eine schwarze Mappe, bittet um die mitgeführten Mobiltelefone und legt sie hinein. Die Anti-Tracking-Hülle soll verhindern, dass er geortet wird. Um das Treffen zu vereinbaren, hat er zwei E-Mail-Adressen angelegt, die Fantasienamen tragen. Seit einem Einbruch in sein Büro fühlt er sich beobachtet. Manchmal wirkt er, als gehe es um Leben und Tod. Die Kündigung, der Verlust von Status und Einfluss, die finanzielle und private Belastung im Kampf gegen Ferrero zehrten ihn langsam auf, sagt er.
Enrique Strelow ist nicht allein mit seiner Angst. Wenn sich Unternehmen von Führungskräften trennen, entzündet sich mitunter ein brutaler Kleinkrieg mit zerstörerischer Wirkung – finanziell, aber auch seelisch. Es ist ein Tabuthema im Schatten kunterbunter Schlagworte wie Diversity und Nachhaltigkeit. Dabei nimmt nicht nur die Zahl der Auseinandersetzungen zu, sondern auch deren Intensität. Vermeintlicher Spesenbetrug, gekaufte Zeugen, anonyme Anzeigen: Konzerne erweisen sich als erstaunlich kreativ, um Karrieren in der Katastrophe enden zu lassen. Wer sich dagegen wehrt, die Kündigung anficht und Gehälter einfordert, muss sich auf harte Prozesse einstellen, die im Zuge der Pandemie immer länger dauern – mit oft fatalen Folgen.
Das Werk, das Strelows Karriere beendete und schlussendlich im Mai 2021 zur Kündigung führte, hätte sie eigentlich beschleunigen sollen: seine Dissertation. Die Arbeit des Betriebswirts stammt aus dem Jahr 2018, trägt den Titel "Beiträge zur Erforschung von Kommunikationsphänomenen am Point of Sale im Lebensmitteleinzelhandel aus neurowissenschaftlicher Perspektive" und dient einem Zweck: zu erforschen, wie Ferrero Kunden dazu verleiten kann, noch mehr Süßigkeiten zu kaufen.
Kaum ein Unternehmen ist darin besser als der Schokoladengigant aus Italien, ein Unternehmen mit über zwölf Milliarden Euro Umsatz, das seinen Wettbewerbsvorsprung nicht zuletzt detailversessener Markt- und Konsumentenforschung verdankt.
Strelow hat viel zu diesem Wissen beigetragen, seit er 1989 aus der Werbebranche zum Hersteller von Überraschungseiern und Kinderriegeln wechselte. "Mich hat mein ganzes Leben lang das Verhältnis zwischen Rationalität und Emotionen fasziniert", sagt er. Zuletzt forschte er als Leiter Shopper-Science an der richtigen Inszenierung der Produkte im Handel. Die Ergebnisse, die sich in der Dissertation nachlesen lassen, waren für Ferrero offenbar sehr wertvoll. Zumindest tritt der Konzern 2019 mit einer ungewöhnlichen Idee an Strelow heran.
Gemeinsam mit dem Düsseldorfer Hochschulprofessor Peter Kenning (51) soll er ein Institut gründen und dem Handelsriesen Edeka helfen, noch mehr Ferrero-Produkte zu verkaufen, um die Beziehungen zu Deutschlands größtem Einzelhändler zu verbessern. Dafür soll den beiden Wissenschaftlern ein Startkapital in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro versprochen worden sein. Entsprechende Gespräche bestätigen die Beteiligten, weitere Beweise gibt es kaum. Schließlich sollte – anscheinend um andere Händler nicht zu brüskieren – so wenig wie möglich schriftlich festgehalten werden. Alles schien auf gutem, wenn auch verschwiegenem Wege, bis Anfang 2021 die Verhandlungen platzten. Ohne eine Garantie, die nötigen Gelder für das Institut auch zu erhalten, wollte Strelow seinen Arbeitsvertrag nicht beenden; Ferrero will sich zu dem Vorgang nicht äußern.
Mit jedem Brief beginnt ein Drama
Wenige Monate später folgt die Kündigung. Der Vorwurf: Geheimnisverrat. Angeblich soll die Dissertation streng vertrauliche Daten enthalten, die Ferrero nicht freigegeben habe, was Strelow bestreitet. Statt seine Forschung fortzusetzen, geht er zum Arbeitsamt und holt sich psychologische Hilfe. "Wenn man gegen einen Gegner mit unlimitierten Ressourcen antreten muss, der sich so viele Anwälte leisten kann, bis er das gewünschte Ergebnis bekommt, fühlt man sich unendlich klein", sagt er. "Ich habe Panikattacken bekommen."
Mit jedem neuen Schreiben, jeder neuen Anschuldigung beginnt das Drama erneut. "Man zweifelt an seinem Verstand und fühlt sich wie ein Zombie." Immer wieder muss Strelow an einen früheren Vorgesetzten denken, der erst degradiert und dann entlassen wurde, keinen Anschluss mehr fand und sich schließlich das Leben nahm.
Für André Kasten (41) sind diese Tragödien inzwischen Alltag. Kasten ist Anwalt für Arbeitsrecht in der Berliner Kanzlei Abeln. Zwei seiner Mandanten haben den Freitod gewählt, seither ist er doppelt vorsichtig. "Die meisten Manager halten sich für unersetzbar", meint Kasten. "Wenn Dienstwagen, Sekretärin, Gehalt und Status auf einmal weg sind, fallen vor allem langjährige Führungskräfte in ein Loch und wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Oft melden sich dann sogar die Lebenspartner bei uns."
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben die Arbeitsgerichte des Landes 2020 in 198.766 Kündigungsverfahren ein Urteil gefällt, das entspricht einem Anstieg um rund 12 Prozent gegenüber 2011. Hinzu kommen Verfahren vor Landgerichten, die für Organträger wie Geschäftsführer und Vorstände zuständig sind, aber nicht bundesweit erhoben werden. Die meisten Betroffenen jedoch scheuen den Gang vor Gericht oder knicken irgendwann ein.
"Ich versuche am Anfang immer herauszuhören, in welchem psychologischen Zustand sich ein Mandant befindet, ob er ein privates Umfeld hat, das ihn auffängt, und die finanziellen Mittel, einen notfalls jahrelangen Kampf gegen seinen Arbeitgeber durchzustehen", sagt Kasten. Ist er davon nicht überzeugt, rät er zur schnellen Einigung, auch wenn das den Verzicht auf viel Geld bedeutet.
Gerhard Kramer dagegen hat sich durchgesetzt, dreieinhalb Jahre lang verteidigt gegen sieben Kündigungen in vier Prozessen, die jeweils erst vor dem Bundesgerichtshof endeten und den früheren Geschäftsführer der Drogeriekette Müller zwischenzeitlich in finanzielle Nöte getrieben hatten.
Mal sollte Kramer Urheber eines Schreibens an die Staatsanwaltschaft gewesen sein, das Vorwürfe gegen die Gattin von Inhaber Erwin Müller (89) enthielt, mal wurde er mittels eines GPS-Trackers überwacht und dabei verdächtigt, längst wieder einer anderen Arbeit nachzugehen. Am Ende kam Müller sogar an Kramers Bankunterlagen und leitete aus dem damit verknüpften Nachlasskonto der verstorbenen Mutter einen Prozessbetrug ab, weil Kramer zuvor vor Gericht angegeben hatte, die zurückgehaltenen Gehälter dringend zu benötigen. "Das geht an die Nieren", bekennt der ehemalige Manager, der heute als selbstständiger Berater arbeitet. "Allein auf meiner Seite sind zwischenzeitlich 350.000 Euro an Kosten für Anwälte und Gerichtsgebühren angefallen. Und man weiß ja nicht, ob man gewinnt." Denn nur dann muss der Gegner zumindest einen Großteil der Kosten übernehmen. Kramers Auslagen musste Müller nach seiner Niederlage bezahlen.
Plötzlich verschollen
Familienunternehmen sind bisweilen besonders unnachgiebig, weil einige Inhaber Widerspruch persönlich nehmen. Milchmogul Theo Müller (82) etwa treibt seinen früheren Personalchef Kiyan Nouchirvani bereits seit über sieben Jahren von Gerichtssaal zu Gerichtssaal.
Doch auch viele Konzerne werden immer rabiater. Der willkommene Kollateralnutzen: Abschreckung. "Früher hat man sich zusammengesetzt, heute werden Kündigungsgründe konstruiert, um Mitarbeiter direkt freizustellen und unter Druck zu setzen", sagt Arbeitsrechtler Kasten. Beim Klassiker Spesenabrechnung bleibe es längst nicht mehr. "Seit den Me-too-Skandalen werden Unternehmen immer kreativer. Die Frage, ob eine Kollegin einem Mandanten auch eine Mandarine schält, soll auf einmal ein Akt sexueller Belästigung sein, jemanden auf dem Gang nicht zu grüßen, Diskriminierung." Ob Arbeitgeber damit vor Gericht durchkommen, sei oft zweitrangig. Denn mit der Freistellung beginnt ein ungleicher Kampf, bei dem die Zeit gegen den Arbeitnehmer läuft.
Wer seine Karriere noch fortsetzen will oder muss, darf sich keine langen Prozesse leisten. Bereits ab einem Jahr unfreiwilliger Auszeit vom Arbeitsleben wird es schwer, einen adäquaten Anschluss zu finden, erklären Personalberater wie Dieter Hofmann (72), Inhaber der Boutique Hofmann Consultants. "Wenn einer dann auch noch vor Gericht stand, schauen alle ganz genau hin."
Es ist der Grund, warum kaum jemand über sein Schicksal an der Abbruchkante der Laufbahn sprechen will.
So hielt es bis jetzt auch Ulrich Schumacher (63), der Mann, der den Chipkonzern Infineon an die Börse geführt hatte. Bis zu seinem Absturz war er der Jungstar unter den deutschen Konzernchefs. Gegenüber [Medium] spricht er zum ersten Mal über sein spektakuläres Karriereende. "Niemand glaubt, dass so etwas passieren kann, aber es gibt keinen Schutz gegen fingierte Zeugenaussagen", sagt er (siehe Interview).
Der hochgewachsene, promovierte Elektroingenieur brauchte fünfeinhalb Jahre, um sich erfolgreich gegen den Vorwurf zu wehren, er habe Schmiergelder angenommen. Danach hatte er nach eigenen Angaben keine Kraft mehr, sein ausstehendes Salär einzuklagen.
Der Fall Schumacher ist bis heute einer der bekanntesten, weil kaum eine Demontage – auch dank fünfstelliger Monatshonorare an eine namhafte PR-Agentur – so viel Öffentlichkeit erzeugte und einer solchen Dramaturgie folgte. Die Unerbittlichkeit, mit der sich Infineon von seinem Vorstandschef trennte, erstreckt sich inzwischen oft auch auf niedrigere Ränge. "Heute werden Ethik und Diversity pro forma großgeschrieben", sagt Peter-Alexander Spitze (68), Partner der Kanzlei Filippi. "Tatsächlich herrschte früher mehr Anstand. Die Profiteure sind die Anwälte."
Auch Christoph Gessler, früherer Immobilienchef bei der Modekette C&A, braucht seit Jahren einen Rechtsbeistand. Ab Dezember 2016 sollte er unter dem Codenamen "Rainbow/White" Filialen in Spanien, Portugal und Frankreich schließen. Der deutsch-niederländische Brenninkmeijer-Clan sondierte unter dem Decknamen "Jupiter" parallel den Verkauf der Kette nach China.
Der Verkauf des Handelskonzerns scheiterte, doch Gessler pochte für seine Arbeit auf einen angeblich zugesagten Bonus und bezifferte seinen vermeintlichen Anspruch auf 277.600 Euro. C&A will davon nichts wissen, wittert Betrug und wirft ihn am 9. September 2019 raus. Zu Unrecht, wie das Düsseldorfer Arbeitsgericht in einem 18-seitigen Urteil vom 13. Juli 2020 befindet.
Trotzdem bleibt Gessler kaltgestellt, bis auch das Landesarbeitsgericht das Urteil mehr als ein Jahr später bestätigt. Mittlerweile darf der angebliche Delinquent wieder für den Konzern arbeiten, die ausstehenden Zahlungen aber muss er anmahnen. Wenn er über die Flure läuft und Kollegen trifft, darf er nichts zu dem Fall sagen, niemandem erklären, warum er auf einmal nicht mehr erwünscht war und nun wieder da ist. Ob sich ein solcher Sieg wie ein Triumph anfühlt?
Enrique Strelow, der frühere Ferrero-Manager, bestellt einen schwarzen Kaffee und blickt gen Skyline. Vor ein paar Wochen, an einem Mittwoch Ende Oktober, saß er in Raum C.3.08. des Frankfurter Arbeitsgerichts und musste sich anhören, wie der Richter erst versuchte, einen Vergleich anzuregen, von guten Argumenten auf beiden Seiten sprach, einem Urteil, das so oder so ausfallen könne.
Wenige Tage später die Kehrtwende. Statt einen zweiten Verhandlungstermin anzusetzen und Zeugen zu hören, wies das Gericht seine Klage ab. Strelow hat seine Dienstgeräte nicht fristgerecht zurückgegeben, woraufhin ihm Ferrero erneut gekündigt hatte. Die Entschuldigung, dass er während der gesetzten Frist im Krankenhaus operiert wurde, reichte dem Richter nicht. Der vermeintliche Geheimnisverrat durch die Doktorarbeit, der Auslöser des Streits, spielte vor Gericht keine Rolle.
Strelow zieht nun vor das Landesarbeitsgericht und hofft, dass ihn sein Kampf mit Ferrero nicht aufzehrt.
Es ist wie so oft in diesen Fällen: Selbst wenn er gewinnen sollte, hat er verloren.