Die Kampfbahn
von Wolfgang Bauer
Die Zeit vom 11.06.2022
Die von Alter, Korruption und Verfall geplagte ukrainische Staatseisenbahn ist mangels Alternativen die einzige Möglichkeit, die Front zu versorgen und Flüchtlinge zu evakuieren. Der Artikel begleitet einen Gleisbauer, einen Bahnhofsdirektor, einen Streckengänger, eine Schrankenwärterin, einen Lokführer, einen Brückeninspizienten sowie den Vorstand und gibt einen Eindruck ihrer täglichen Herausforderungen.
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Die Kampfbahn
Auszug aus dem täglichen Schadensbericht, 13. Mai. Raketenangriffe auf Bahnanlagen im ganzen Land. Raketenbeschuss von Gleisanlagen in Losowa, Bezirk Charkiw, in Tscherkaske, Zentralukraine, in Dobropolje, Donbass. Raketenangriff auf Gleisanlagen in Krementschuk, Zentralukraine. Angriff auf den Bahnhof von Nowhorod-Siwerskyj, Nordukraine.
Der Nachtzug fährt an, in fast völliger Dunkelheit, unmerklich erst, dann mit einem harten Ruck, der die Passagiere, die noch stehen, aus dem Gleichgewicht wirft. Sie taumeln, spreizen die Arme, suchen fluchend nach Halt. Es ist ein Beben, das ganz vorne von der Lokomotive ausgeht, sich auf den ersten Waggon überträgt, auf den zweiten, den dritten und mit jedem weiteren Waggon zu einem metallischen Kreischen wird, das sich kurz über den leeren Bahnsteig legt und dann verklingt.
Der Zug rollt aus dem Hauptbahnhof von Kiew hinaus, nunmehr scheppernd und seufzend, dann schneller und schneller. Die Mechanik findet allmählich ihren Rhythmus, das dumpfe Schlagen von Stahl auf Stahl, das wiederkehrende Trommeln, neun Waggons und 330 Meter lang.
Im letzten Waggon, einem Schlafwagen, sitzt auf einer Pritsche Oleksandr Kamyschin. Pferdeschwanz und ausrasierter Undercut, tief über sein Smartphone gebeugt. Der 37-Jährige, der, wenn er sich zur vollen Körpergröße aufrichtet, kaum in das Abteil passt, leitet eines der größten Unternehmen Europas: die staatseigene Eisenbahn Ukrsalisnyzja. Ein Imperium mit 22.300 Schienenkilometern, 1648 Bahnhöfen und 232.000 Beschäftigten. Es ist der bedeutsamste Arbeitgeber der Ukraine.
Wie im ganzen Zug sind auch die Fenster in Kamyschins Abteil mit Plastikfolie abgeklebt. Das soll verhindern, dass bei Beschuss Glassplitter die Insassen durchbohren. Ebenfalls zur Sicherheit hat das Zugpersonal in jedem Abteil die Jalousien zugezogen. Der Zug fährt lichtlos durch die Nacht.
Es ist der 13. Mai, erst im letzten Moment hat Kamyschin der Verkehrsleitung die Anweisung gegeben, einen Sonderwaggon für ihn selbst anzuhängen. Das Ziel des Zuges ist Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, von zwei Seiten umgeben von russischen Truppen. "Ich weiß, was ich riskiere", sagt Kamyschin. Vor wenigen Tagen habe ihn der ukrainische Geheimdienst informiert, die Russen hätten eine Taskforce gebildet, um ihn, Kamyschin, umzubringen.
Dieser Krieg, der jeden Tag Hunderte Menschen das Leben kostet, ist auch ein Krieg der Eisenbahnen. In keinem anderen Konflikt der vergangenen Jahrzehnte haben Züge eine so große Rolle gespielt. Die Bahn ist in der Ukraine jetzt oft die einzige Möglichkeit, sich durchs Land zu bewegen. Die Flughäfen sind geschlossen. An den Tankstellen gibt es kaum Benzin. Bisher wurde es über Weißrussland und die Schwarzmeerhäfen eingeführt, doch beide Wege sind blockiert. Ausländische Regierungschefs, Präsidenten und Minister reisen mit der Bahn an. Züge wurden zu Rettungszügen. 3,8 Millionen Menschen hat Kamyschins Unternehmen in den vergangenen Wochen evakuiert, darunter mehr als eine Million Kinder. Und Züge nähren den Krieg. Jeden Tag schaffen sie Waffen und Munition an die Front. Was Überleben für die einen ist, ist Verderben für die anderen.
Mehrfach täglich attackieren die russischen Streitkräfte die ukrainische Eisenbahn. Sie beschießen Bahnhöfe, Schienen, Brücken, Reparaturwerkstätten, Depots und Unterkünfte. Umgekehrt bringen ukrainische Saboteure Züge in Russland zum Entgleisen. Denn auch Russland ist in diesem Krieg auf seine Eisenbahn angewiesen. Es ist ein Wettlauf zwischen denen, die Schienen zerstören, und denen, die Schienen reparieren. 161 von Kamyschins Mitarbeitern haben bis Anfang Juni ihr Leben verloren.
Die ukrainische Eisenbahn, die vor dem Krieg einen desolaten Ruf hatte, Symbol war für den Verfall eines Staatswesens, für die alles durchdringende Korruption in der Ukraine, ist über Nacht zum Sinnbild der letzten Ordnung geworden. Die Existenz eines ganzen Landes liegt auf den Schienen.
Das Schienenreich des Vorstands
Der Nachtzug verlässt das Bahnnetz der Hauptstadt in Richtung Osten. Eine Schaffnerin in schönster blauer Uniform serviert Wasser und Tee. Kamyschin, der Weinliebhaber, hat sich eine kleine Auswahl an erlesenem Rotwein mitgebracht. Früher war er Manager einer großen Investmentholding, bis ihn der ukrainische Transportminister im August vergangenen Jahres zum Chef der Staatsbahn machte.
Seine Ernennung war umstritten. Die ukrainische Staatsbahn befand sich in der tiefsten Krise seit der Unabhängigkeit. Viele Millionen Dollar Schulden, verlorene Rechtsstreitigkeiten, eine hoffnungslos veraltete Technik. Im Jahr 2020 hatten sich gleich vier Vorstandsvorsitzende abgewechselt. In den vergangenen 15 Jahren gab es nur einen Chef, der länger als drei Jahre durchhielt.
Auch der Neue schien wenig Chancen zu haben. Ein Retter, der auf viele gescheiterte Retter folgte. Oleksandr Kamyschin sollte die Eisenbahn sanieren, hatte aber keinerlei Eisenbahn-Erfahrung. Er sollte das Unternehmen unabhängiger von den Oligarchen machen, besonders von Rinat Achmetow, dem Stahl- und Kohlemagnaten. Dessen Einfluss war so groß, dass die Bahn seine Frachten zu Preisen transportierte, die nicht einmal die Kosten trugen. Kamyschin hatte zuvor für eine Holding gearbeitet, die Achmetow gehörte. Wie unabhängig konnte er sein?
Als Vorstand der Ukrsalisnyzja habe man drei Möglichkeiten, sagt Kamyschin jetzt in seinem Schlafwagenabteil: "Erstens Aufbauen. Zweitens Nichtstun. Drittens Stehlen." Er habe sich für die erste Option entschieden. Es hört sich an wie Wortgeklingel, aber Kamyschin hat tatsächlich die Frachttarife erhöht, auch für Achmetow. Er drängte auf den Kauf neuer Züge, verlangte von Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Zuschuss aus dem Staatshaushalt. Niemand weiß, wie die Geschichte weitergegangen wäre, denn dann, Kamyschin war sechs Monate im Amt, kam der Krieg.
Während der Zug immer weiter Richtung Osten, Richtung Charkiw, fährt, öffnet Kamyschin eine neue Flasche Wein. "Ich lasse mir von Putin die Lebensfreude nicht nehmen", sagt er. Die ersten Kriegswochen verbrachte er mit seinen fünf Vorstandskollegen fast ausschließlich auf der Schiene, ständig auf der Flucht vor russischen Luftangriffen. Sie koppelten ihren Waggon an wechselnde Züge an, hielten ihre Routen geheim, versuchten schneller zu sein als die russische Spionageaufklärung, fuhren quer durch das Land, von dem damals keiner wusste, wie lange es noch Bestand haben würde. Von ihrem Waggon aus koordinierten sie die Evakuierungszüge, ließen Lokführer russischen Vorstößen ausweichen, schliefen auf Bahnhofsbänken. Es war eine Zeit, in der oft unklar war, ob die Züge, die abfuhren, an ihrem Zielbahnhof ankommen würden.
Am frühen Morgen erreicht der Zug den Bahnhof von Charkiw, dessen Stadtzentrum bis vor wenigen Tagen noch unter Beschuss stand. "Ich weiß, dass die Hälfte unserer Mitarbeiter im Osten mit den Russen sympathisieren", hat Kamyschin auf der Fahrt zuvor gesagt. "Ich bin dort nicht sicher." Einsam wartet auf dem Bahnsteig eine kleine Gruppe von Männern, Kamyschins Empfangskomitee. Der Regionaldirektor der Bahn ist unter ihnen, der Bahnhofsdirektor, ältere Herren mit stolzen Bäuchen, kurzen Hälsen und rauen Stimmen, echte Eisenbahner, wie sie über sich selbst sagen.
Gemeinsam mit Kamyschin, begleitet von einem Dutzend Soldaten, betreten sie die leere Bahnhofshalle, dann den weiten Vorplatz, auch er leer. Anders als in Kiew leben in Charkiw noch viele Menschen in Kellern. "So ist die Lage", sagt der Regionaldirektor, als sie sein Büro in einem verschachtelten Bau aus der Zarenzeit erreicht haben. Er breitet vor Kamyschin eine Karte aus.
"Die Brücke nach Kupjansk ist gesprengt", sagt der Regionaldirektor. Er fährt mit dem Finger den Verlauf der Bahnlinien ab. "Auch die Brücke bei Tschuhujiw."
"Was ist mit der Verbindung nach Lyman?", fragt Kamyschin. Jede einzelne Verbindung im Umkreis von Charkiw gehen sie durch, fast alle unpassierbar. Am Ende kommen sie auf drei Dutzend zerstörte Brücken. Dazu sind oft die Stromleitungen beschädigt oder unterbrochen.
Oleksandr Kamyschin sieht auf der Karte, wie sich im Osten des Landes sein Schienenreich immer mehr auflöst.
Auszug aus dem Schadensbericht vom 14. Mai. Beschuss des Bahnhofs von Siwersk, Donbass. Zerstörung des dortigen Umspannwerks, deshalb Stromausfall. Der Transportminister gibt bekannt, es seien 23 Prozent des Eisenbahnnetzes zerstört, ein Verlust von 6300 Schienenkilometern.
Der Gleisbauer und die Rakete
Die Wucht der Explosion schlug einen drei Meter tiefen Krater ins Gleisbett. Sie riss die Schienen aus ihren Verankerungen, als wären sie Mikadostäbe. Eine Schiene prallte gegen die Wand eines angrenzenden Gebäudes, zwei andere kamen verbogen übereinander zum Liegen. "Schau", sagt der Vorarbeiter Andrej Mirosenko, 30, und zeigt auf seinem Handy das Bild der Zerstörung. Er steht am Einschlagsort auf kohlenschwarzer Erde, vier Tage nach dem Angriff.
In der Nacht, als der Vorstand Kamyschin im Zug nach Charkiw unterwegs war, gegen 3.30 Uhr, traf eine russische Rakete die Gleisanlagen der Kohlemine "Nummer 3" in Dobropolje. Eine Stadt mit knapp 30.000 Einwohnern, 170 Kilometer südlich von Charkiw. Die Front ist hier nur etwa 40 Kilometer entfernt.
Mirosenko leitet einen Bautrupp der Bahn; mit neun Mann arbeitet er daran, die Gleise wieder befahrbar zu machen.
Ein Kampfflieger hatte die Rakete abgefeuert, sie ist nicht vollständig explodiert. So hat sie nur auf einer Strecke von 25 Metern die Gleise zerrissen, die umliegenden Dächer abgedeckt, aber nicht den Förderturm der Kohlemine weggesprengt. Arbeiter haben die Überreste der Rakete gesammelt. Zwei Müllsäcke voller Leichtmetall, dünn wie Fingernägel. Ineinander verschmolzene elektronische Bauteile. So viel Erfindungsgeist, um zu töten.
Der Bautrupp von Andrej Mirosenko hat bereits den Bombenkrater eingeebnet. Die Arbeiter haben die verkohlten Holzschwellen zur Seite geschoben, haben das Gleisbett mit neuem Schotter wieder aufgebaut, neue Schienen herangetragen, mit schweren Hämmern schlagen sie gegen das Eisen, um die Gleise einzupassen. Fast alles ist hier noch Handarbeit, fast wie zur Pionierzeit der Eisenbahn. Mirosenko, orange Weste auf schwarzem Shirt, hatte Glück, auf dem Minengelände fand er Ersatzschienen, um die Gleise zu flicken. Schienen werden für die Eisenbahn immer mehr zum Problem. Das einzige ukrainische Stahlwerk, das Schienen herstellt, war das Asowstal-Werk, die letzte Bastion, in der sich die Verteidiger von Mariupol verschanzt hatten. Jetzt ist das Stahlwerk in den Händen der Russen.
Die Arbeiter legen die Hämmer beiseite, Mirosenko misst nach, ob die beiden Schienenstränge auf gleicher Höhe liegen. "18 Zentimeter auseinander", sagt er. Seine Männer müssen noch einmal von vorn beginnen. Bolzen lockern, die Schienen vom Gleisbett heben, Schotter aufschütten.
Plötzlich ein Geräusch in der Luft, ein Kampfjet, niedrig fliegend, dann hinter ihm ein zweiter. Die Flugzeuge legen sich steil in die Kurve und halten auf die Mine zu. Die Männer wollen sich schon zu Boden werfen, ein zweiter Angriff der Russen womöglich. "Ukraine!", ruft da einer der Arbeiter. "Ukraine!", sagt auch Mirosenko. Er hat den goldenen Dreizack, das ukrainische Wappenzeichen, auf den Tragflächen entdeckt. Die Maschinen donnern über die Gleisarbeiter hinweg in Richtung Osten, in Richtung Front. Der Tod, den ihre Bomben bringen, ist für jemand anderen bestimmt.
Das rhythmische Klopfen der Hämmer beginnt von Neuem. Andrej Mirosenko ist im Donbass aufgewachsen, er hat Philologie und russische Literatur studiert. Sein Vater war Gleisbauer. Mirosenko wusste, wie hart diese Arbeit ist, und schwor sich, nie dem Beispiel seines Vaters zu folgen. "Ich liebe das Dunkle und Schwere in der russischen Literatur", sagt er. Diese Begeisterung wollte er als Lehrer weitergeben. Nach seinem Abschluss bewarb er sich auf freie Stellen, aber immer waren da zu viele andere Bewerber. Mirosenko probierte dieses und jenes, am Ende sprach er mit seinem Vater und heuerte als Gleisbauer in dessen Arbeitsbrigade an. "Der erste Tag war ein Albtraum", sagt Mirosenko. Seine Hände bluteten, Arme und Rücken schmerzten. Aber Mirosenko kämpfte sich durch, schleppte Schienen, lernte, machte Prüfungen, seit Kurzem ist er Abschnittsleiter.
Jetzt eilt er mit seinem Trupp von Schaden zu Schaden. Ihm ist bewusst, dass nicht nur die Gleise Ziele sind, sondern auch die Gleisbauer. Aber, sagt er, jemand müsse ja die Arbeit machen. Als Einziger seiner Gruppe habe er noch keine Kinder. Könne er sich da drücken?
Wie es für ihn weitergeht, weiß er nicht. Er wohnt außerhalb von Dobropolje, noch näher an der Front. Er weiß nicht, ob er fliehen wird, falls die Russen kommen, oder ob er bleibt. Er schlafe schlecht, sagt er. Sein Vater ist vor neun Monaten an Covid gestorben, er hing sehr an ihm. Dazu das Grollen am Horizont, der Hall der Artilleriesalven an der Front. Oft steht Mirosenko nachts am Fenster und schaut auf die aufflackernden Blitze. Sie scheinen ihm deutlich näher zu sein als noch vor einigen Wochen.
Auszug aus dem Schadensbericht vom 19. Mai. Explosion am Güterbahnhof im Hafen von Mykolajiw, Südukraine. Granatbeschuss der Gleisanlagen in Awdijiwka, Donbass. Raketenangriff auf Gleisanlagen in der Stadt Dnipro, Zentralukraine. Schwerer Artilleriebeschuss von Bahnanlagen in Lyman, Donbass. Zerstörte Gleise und ausgebrannte Verwaltungsgebäude.
Der Bahnhofsdirektor und die Flucht
Sie torkeln mehr, als dass sie laufen, stürzen heraus aus den Bussen, die sie zum Bahnhof brachten. Alte Leute fast nur, mit Koffern, deren Last sie ins Schwanken bringt. Pokrowsk, zentraler Kreuzungsbahnhof im Donbass, 20 Kilometer von Dobropolje entfernt. Weiter als nach Pokrowsk wagt sich kein Personenzug in den Osten. Jeden Tag gegen 16 Uhr fährt von hier der Evakuierungszug ab. "O mein Gott", stöhnt eine Frau, die mit ihrem Mann das Gepäck in den Zug gewuchtet hat. Sie weint, er hat nasse Augen. Eine Verkäuferin und ein Elektriker der Bahn, der mit seinem Trupp Oberleitungen reparierte – bis zu diesem Morgen. Sie kommen aus Lyman, einer Stadt im Norden des Donbass. Die russischen Truppen stehen am Ortsrand und beschießen die Stadt. Das Paar hatte vor, die Kämpfe im Keller ihres Hauses durchzustehen. "Wir haben so viel Liebe in dieses Haus gesteckt!", sagt die Frau. Aber heute Morgen habe eine Granate das Nachbarhaus getroffen. "Es ist genug. Es ist genug. Ich kann nicht mehr! Zwei Monate haben wir im Keller gelebt!"
Ihrer beider Eltern weigerten sich nach wie vor, den Ort zu verlassen, aber an diesem Morgen, nach dieser Granate, hätten sie sich entschieden, die Alten zurückzulassen. Ihre Haustiere zurückzulassen: drei Katzen und zwei Hunde. "Wir haben sie auf der Straße ausgesetzt", sagt die Frau und bricht wieder in Tränen aus.
"Achtung", ertönt blechern eine Bahnsteigdurchsage. Der Zug werde in wenigen Augenblicken abfahren. Reisende in die Hauptstadt Kiew sollen in den vorderen Zugteil einsteigen. Reisende nach Dnipro, dem ehemaligen Dnipropetrowsk, 180 Kilometer in Richtung Westen, in den hinteren Zugteil. "Wir wissen nicht, wohin!", sagt die Verkäuferin, die bittet, nicht mit Namen genannt zu werden.
Es sind nicht mehr viele, die den Zug nach Westen nehmen. Tausende am Tag waren es zu Beginn des Krieges. 200 werden es heute sein. An manchen Tagen sind es nur zwei Dutzend. Die meisten, die bisher nicht geflohen sind, haben sich entschieden auszuharren. Doch immer wenn im Donbass eine neue Siedlung in Reichweite der russischen Artillerie kommt, steigen die Zahlen am Bahnhof Pokrowsk wieder. Wegen des Vorrückens der Russen musste der Evakuierungsbahnhof schon dreimal weiter ins Landesinnere verlegt werden. Bis Anfang April fuhren die Züge noch von Kramatorsk ab, wo 59 Menschen starben, als der Bahnhof am 8. April mit Streumunition bombardiert wurde. Der Bahnvorstand entschied, die Evakuierungszüge von nun in Losowa starten zu lassen. Tage später geriet auch dort der Bahnhof unter Beschuss – ein Angriff, der angeblich einem Zug galt, der Panzer geladen hatte. Wieder wurden die Evakuierungen verlegt, nach Pokrowsk, das inzwischen auch schon mehrfach bombardiert wurde.
Der Bahnhofsdirektor Dmitri Wakulenko schaut noch ein letztes Mal den Zug hinauf und hinunter und will gerade mit der Pfeife das Signal zur Abfahrt geben, als jemand brüllt: "Wartet!" Ein Minivan hat es eben erst auf den Bahnsteig geschafft. Eine britische Freiwilligen-Organisation. Sie bringen Insassen einer Psychiatrie. Die Patienten liegen auf Tragen, sitzen in Rollstühlen, werden in großer Hektik in den ersten Waggon hineingewuchtet. "Ich mache es für Gott", sagt ein Texaner mit Cowboyhut, der die Kranken begleitet hat. Er beginnt zu weinen, als seine Schützlinge im Zug untergebracht sind. Der Bahnhofsdirektor Wakulenko gibt jetzt endgültig das Signal, ein langer Pfiff, der Zug fährt an.
228.000 Menschen hätten die Transporte, die er bisher abgefertigt hat, in Sicherheit gebracht, sagt der 41-jährige Wakulenko kurz danach in seinem Büro im Bahnhofsgebäude. Jeden Tag steht er in seiner Uniform auf dem Bahnsteig und schaut auf die Flucht der anderen. Er trägt die Verspätung des abgefahrenen Zuges in das Logbuch ein, so ist es Vorschrift. Auch ein Krieg ändert daran nichts. Pausenlos klingelt sein Telefon. Über Nacht wurde das vorher mittelbedeutende Pokrowsk zu einem der wichtigsten Bahnhöfe in der Ukraine. Seine Familie hat Wakulenko längst in Sicherheit gebracht. "Ich habe Angst", sagt er. "Nur Verrückte haben in diesen Tagen keine Angst."
Von außen klopft es an die Scheibe eines seiner Bürofenster. Ein Arbeiter draußen winkt und grinst. Er vernagelt an diesem Nachmittag sämtliche Fenster mit Spanplatten. Es wird bald mit verstärkten Angriffen auf Pokrowsk gerechnet.
Erst vor wenigen Tagen hat Wakulenko einen seiner Mitarbeiter verloren. Nach einem russischen Bombardement hatten die Männer eines Reparaturtrupps die Schienen nach Schäden und nicht detonierten Sprengkörpern abgesucht, Routine mittlerweile, aber einer der Männer übersah einen Blindgänger. Er trat darauf und starb.
"Nicht das letzte Fenster!", ruft Wakulenko dem Arbeiter zu, der die Bürofenster mit Platten vernageln will. Da steht seine Stechpalme, und die brauche doch wenigstens etwas Licht.
Auszug aus dem Schadensbericht vom 20. Mai. Gleise in Lubny, Zentralukraine, zerstört sowie Gleisanlagen in Mala Danyliwka. Beschuss des Güterbahnhofs in Awdijiwka, Donbass. Drei Raketentreffer am Bahnhof Malyn, Westukraine. Ein Umspannwerk und mehrere Güterwaggons zerstört. Beschuss von Gleisanlagen in Mykolajiw.
Der Albtraum des Streckengängers
In einem Krieg, der jedes Gleisbett und jede Weiche zum Angriffsziel macht, ist niemand sicher, der sich entlang der Schienen bewegt. Nicht der Vorstand und auch nicht Alexander Ostrowskii.
Er hat fast sein ganzes Arbeitsleben auf den Gleisen verbracht, den Gleisen rund um Dobropolje. Der 39-Jährige übt einen Beruf aus, der in nahezu allen europäischen Ländern seit Jahrzehnten ausgestorben ist, den des Streckengängers. Die ukrainische Eisenbahn ist ein Reservoir antiquierter Berufe, weswegen sie westlichen Sanierern vor dem Krieg als Museumsbahn galt. Es gibt in vielen Regionen noch immer keine digitalen Verkehrsleitstellen. Einsatzleiter koordinieren die Fahrten auf einem der größten Schienennetze Europas häufig noch mithilfe von Papiertabellen. Fast wie zur Zarenzeit.
Zudem wird in der Ukraine jeder der 22.300 Schienenkilometer manuell auf seine Sicherheit kontrolliert, jeden Tag.
Immer um kurz vor acht steht Alexander Ostrowskii, den alle Sascha nennen, mit den anderen Streckengängern von Dobropolje im Besprechungsraum ihres kleinen Stützpunkts, eines Backsteinbaus am Rande der Schienen. Das hölzerne Plumpsklo steht im Garten. "Kollegen", sagt der Schichtleiter zu den sieben Männern und zwei Frauen. "Achtet auf verdächtige Objekte im Gleis. Achtet auf verdächtige Personen. Ihr wisst, es sollen Saboteure unterwegs sein." In Zweiergruppen gehen sie dann auseinander. Ostrowskii, ein groß gewachsener, fast kahl rasierter Mann, und sein Kollege haben an diesem Tag die ersten Kilometer der Bahnstrecke nach Pokrowsk zugewiesen bekommen. Kilometer 34 bis Kilometer 40. Ostrowskii geht voran, über der Schulter einen fünf Kilogramm schweren Schraubenschlüssel, länger als sein Arm.
Kilometer 35, 150 Meter.
Ein Bolzen auf der rechten Gleisseite ist locker, Ostrowskii zieht ihn wieder an.
Kilometer 35, 350 Meter.
Aus der Ferne schallt Fliegeralarm zu den beiden Männern herüber. Ein schriller langer Sirenenton. Sie ignorieren ihn. "Was soll ich dagegen tun?", sagt Ostrowskii. Mit dem Schraubenschlüssel schlägt er gegen das Metall, zieht links zwei Bolzen fest, rechts zwei Bolzen. Er hört es, wenn sie locker sind. "Auch beim Festziehen klingt jeder Bolzen unterschiedlich", sagt Ostrowskii. Anders sei das bei neuen Schrauben. Die seien fast geräuschlos, aber es gebe keine neuen Schrauben.
Kilometer 36, 100 Meter.
Die Schienen queren eine Straße, am Übergang steht ein Bahnwärterhäuschen, von dem aus die Schrankenanlage bedient wird. Eine weitere Besonderheit der Ukraine. Die Bahnwärterhäuschen sind rund um die Uhr besetzt. Man kennt sich, ein kurzer Gruß, der Streckengänger trägt sich ins Logbuch ein, dann geht er weiter.
Kilometer 37, 400 Meter.
Fast zwei Stunden brauchen die beiden Männer für die sechs Kilometer. Ein Güterzug nähert sich aus der Ferne, mit 15 Stundenkilometern. Für höhere Geschwindigkeiten sind die Gleise zu alt. Ostrowskii klettert ein Stück den Bahndamm hinab und hält eine zusammengerollte gelbe Fahne hoch. Das Zeichen für eine freie Strecke. Die Waggons rumpeln vorbei, zu den Minen.
Früher hat Ostrowskii in einer der Kohlegruben von Dobropolje gearbeitet, das war gleich nach seinem Militärdienst. Er hasste die Mine. Sein Patenonkel war in einer Mine gestorben, da war Ostrowskii noch ein Kind. "Ich hatte jeden einzelnen Tag Angst", sagt er. Mehrere Male verletzte er sich am Kopf. Die Bergbaustadt Dobropolje hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert. Die Fördertechnik ist veraltet, die Schächte des Donbass gehören zu den gefährlichsten Europas.
Nach neun Monaten im Bergwerk wechselte Ostrowskii als Streckengänger zur Bahn. Auch dort komme es fast täglich zu Arbeitsunfällen, sagt er. Aber in Dobropolje gibt es für die meisten jungen Männer nur zwei Möglichkeiten: Mine oder Schiene.
Kilometer 38, 800 Meter.
Eine Explosion, weit weg. Ostrowskii hält kurz inne. Immer abends ruft er Freunde an, um sich über den aktuellen Frontverlauf zu informieren. Er traue den Medien nicht, sagt er, weder den russischen noch den ukrainischen. In vielen Orten nahe den Kämpfen hat er Freunde, die ihm von der Lage berichten. Ostrowskii unterhält seinen eigenen Nachrichtendienst, so wie viele Menschen im Donbass. Mehrere Male wurden die Gleise, auf denen er läuft, bereits von Raketen getroffen, zum Glück nie während seiner Kontrollgänge.
Ostrowskii wohnt mit seiner Familie in einem Plattenbau. Die Wände der Wohnung sind mit Fotografien und Zeichnungen der beiden Töchter bedeckt, sechs und acht Jahre alt. Immer und immer wieder, erzählt Ostrowskii, träume er den gleichen Traum. Er sitzt im Garten seines Elternhauses, in dem er aufgewachsen ist, ganz nah an den Gleisen. Er sieht einen Zug kommen, sieht, wie sich die Lok schiefstellt und entgleist.
Vor einigen Jahren hat er erlebt, wie ein Kohlenzug auf seiner Strecke entgleiste, weil jemand die Bolzen mehrerer Schwellen gestohlen hatte. Obwohl niemand zu Schaden kam, könne er die Bilder nicht vergessen, sagt er. Im Traum will er helfen, ist aber wie gelähmt. Er will sich bewegen, kann es aber nicht. Dann wacht er auf. Bis der Traum in einer anderen Nacht wieder von vorn beginnt.
Kilometer 40.
Der Endpunkt des Kontrollgangs. Ein Punkt auf offener Strecke. Ostrowskii raucht eine Zigarette, dann macht er sich mit seinem Kollegen auf den Rückweg.
Auszug aus dem Schadensbericht vom 21. Mai. Eine Eisenbahnbrücke nahe dem Bahnhof von Lyssytschansk, Donbass, zerstört. Erneuter Beschuss des Güterbahnhofs in Malyn, Westukraine. Beschädigung von Gleisanlagen in Lubny, Zentralukraine, und Bachmut, Donbass.
Die Hoffnung der Schrankenwärterin
Am Rand von Dobropolje steht Natascha Dmitriewa mit leicht wirr abstehenden Haaren vor ihrem Schrankenwärterhäuschen. Die Nacht über hat sie nicht geschlafen, so ist es Vorschrift. Sie hat ihren Kopf zwischen beide Hände genommen und sich auf ihren kleinen Schreibtisch gestützt. Das ist erlaubt. 4859 Schrankenwärter gibt es in der Ukraine – meistens sind es Wärterinnen, die sind verlässlicher als die Männer, heißt es, sie trinken weniger, und von ihnen allen ist Dmitriewa der Front am nächsten.
"Ich hätte nie gedacht, dass die Russen auf mich einmal mit Raketen schießen wollen", sagt sie. Sie lacht. Aber natürlich hat sie Angst. Eine Ikone hängt über dem Fenster des Schrankenwärterhäuschens, ein kleiner weißer Bau, erst vor zwei Jahren renoviert. Der Innenraum, etwa drei mal drei Meter groß. Hier arbeitet die 59-Jährige seit mehr als 30 Jahren. Vier Frauen teilen sich den Schichtdienst. Alle 24 Stunden wechseln sie sich ab. Ihre wichtigste Aufgabe: bei der Anfahrt eines Zuges die Schranken zu schließen. Dazu dient ein kleiner grauer Metallkasten, der außen an ihrem Häuschen montiert ist. Auf Knopfdruck senken sich die Schranken an beiden Seiten der Gleise, eine Sirene ertönt.
Das passiert derzeit dreimal pro 24-Stunden-Schicht, früher, vor dem Krieg, waren es noch 25 Züge allein in der Nacht. Wenn die Elektrik ausfällt, muss Natascha Dmitriewa eine Ersatzschranke per Hand über die Straße schieben. Das kam in den 30 Jahren, die sie hier arbeitet, nur einmal vor. Die größte Abwechslung bestand darin, dass die Asphaltdecke der Straße erneuert wurde. Das ist dreimal geschehen. Dmitriewa überlegt: "Nein, viermal."
Die Welt von Natascha Dmitriewa ist auf den ersten Blick eine sehr kleine, und doch sieht sie von hier auf die große. Von ihrem Häuschen aus schaut sie auf den Mahlstrom des Krieges. Auf der Straße, die hier die Schienen quert, herrscht dichter Verkehr. Die eine Spur führt aus Dobropolje hinaus, in Richtung Front: Auf ihr fahren Lastwagen, die Panzer geladen haben, Ambulanzen mit ausgeschaltetem Blaulicht, vollgepackte Munitionstransporter, Soldaten in Bussen und Zivilfahrzeugen, in sauberen Uniformen. Auf der Gegenfahrbahn, die von der Front zurückführt: ausgeglühte Panzerwracks, ebenfalls auf Laster gespannt, nun aber mit Planen verdeckt, Ambulanzen, jetzt mit aktiviertem Blaulicht, die über den Bahnübergang rasen, Busse voller Soldaten, die meisten dösend, die Uniformen verdreckt.
Die Fahrer achteten immer weniger auf die Schranken, klagt Natascha Dmitriewa. Die Autos, besonders die von der Front, rasten noch in letzter Sekunde durch. Zum Glück führen die Züge hier so langsam.
Vor einigen Jahren ist den Frauen am Schrankenhaus ein Hund zugelaufen. Druschok nennt Dmitriewa ihn, übersetzt: kleiner Kumpel. Druschok hat es sich angewöhnt, Autos, die die Schranken ignorieren, zu jagen. Einige Fahrer ärgern sich ernstlich und versuchen, ihn zu überfahren, und sie, Natascha Dmitriewa, muss dem Drama jeden Tag neu zusehen. Dieser Hund, sagt sie, diese Fahrer.
Wenn sie nicht Druschok krault, jätet Dmitriewa das Unkraut in dem kleinen Garten. Der gehört zur Standardausstattung eines Schrankenwärterhäuschens. Die Frauen haben sich die Beete untereinander aufgeteilt. Natascha Dmitriewa steht als Dienstältester das beste Stück zu, das vordere, von der Straße aus sichtbar, auf dem sie bunte Blumen zieht. Ihre Kolleginnen Sweta und Tatjana haben sich weiter hinten auf Gemüse konzentriert. Das Beet von Mascha verunkrautet, sie ist geflohen.
Es sei ihr unheimlich auf den Straßen von Dobropolje, sagt Dmitriewa. "Mein Mann meint, wir leben in einer Zombie-Stadt." Fast drei Viertel der Menschen hätten den Ort verlassen. In ihrem Plattenbau stünden über die Hälfte der Wohnungen leer. Die, die gehen, hinterließen ihre Schlüssel denen, die blieben, bis auch die gingen. Bisher seien nur sechs Wohnblocks von Raketen getroffen worden, aber niemand wisse, wie lange die Front halte. Wenn die Verteidigung kollabiere, sei der Krieg schnell hier.
Die Schrankenwärterinnen waren in der Ukraine bisher viel mehr als nur Frauen, die den Betrieb der Eisenbahn sichern. In der Provinz sind sie häufig sozialer Mittelpunkt ihrer Gemeinden. An ihrem Häuschen trifft man sich, tauscht Neuigkeiten aus. "Ruslana ist wieder in der Stadt", sagt Dmitriewa, als wolle sie sich selber Mut machen. "Das ist ein gutes Zeichen!" Ruslana ist eine der beiden Prostituierten von Dobropolje. Seit anderthalb Jahrzehnten steht sie immer an derselben Straße der Stadt, sogar im Winter, halb nackt, die Beine ganz blau. Nach Kriegsbeginn war sie verschwunden, geflohen vielleicht. Jetzt ist sie wieder da.
"Ich habe Hoffnung", sagt Natascha. "Die Leute kommen wieder. Wo sollen sie denn auch hin?"
Auszug aus dem Schadensbericht vom 22. Mai. Raketenangriffe auf Bahnanlagen in Wilnjansk, Südukraine, den Güterbahnhof in Bachmut, Donbass, Gleisanlagen in Mykolajiw, Südukraine, und in Malyn, Westukraine, dabei Schäden an 150 Wohnhäusern. Ein Bahnbeschäftigter wurde getötet, drei weitere wurden verletzt.
Der Lokführer und der liebe Gott
Quer über die Windschutzscheibe verläuft ein Riss, mehrfach gezackt, mitten durch das Sichtfeld von Juri Kulehitsky. Die Spuren eines Beschusses vor zwei Wochen. Er ist im Güterbahnhof von Pokrowsk in den Führerstand der Lok geklettert, zusammen mit seinem Assistenten. Ihre heutige Fahrt wird sie bis wenige Kilometer vor die Front führen. Das Ziel: das Kraftwerk von Kurachowe. Ihre Fracht: Kohle. 42 Waggons voll Kohle. Der Zug ist knapp einen Kilometer lang und im Krieg ein perfektes Ziel.
Bremsencheck mit der Leitstelle. Eine raue Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Das Abgleichen von Codes und technischen Daten. Kulehitsky liest sie von seinen Armaturen ab, der Assistent wiederholt die Worte. So wird das auf der ganzen Fahrt sein. Alles wird doppelt gesagt, als doppelte Sicherheit. Die Leitstelle gibt die Strecke frei. "Die Weiche gehört uns", sagt Kulehitsky. "Die Weiche gehört uns", sagt sein Assistent.
Sie wagen die 65 Kilometer lange Fahrt, weil das Kraftwerk von Kurachowe große Teile der Region mit Strom versorgt. Sie kennen das Risiko. Vorsichtig rollen sie an, nicht zu schnell, damit die vielen Waggons blockadefrei hinter ihnen mitrollen. Am Bahnhof vorbei, dessen Fenster mittlerweile komplett vernagelt wurden, bis auf eines.
Die Diesellok stammt aus sowjetischer Zeit. Ein enger Gang führt durch den Motorenraum. Ein Gefühl wie in einem U-Boot. Ohrenbetäubender Lärm, fauchende Luftströme, die mal von links, mal von rechts einblasen. Es ist heiß. Zu Beginn der Fahrt misst das Thermometer im Motorenraum 72 Grad. Im Sommer kann es auch 97 Grad heiß werden. "Diese Lok ist ein Biest", sagt Kulehitsky.
Als die russische Armee vor einem Monat das Bahndepot in Pokrowsk beschoss, wäre das Biest fast zerstört worden. Die Explosion beschädigte vier Loks schwer und verletzte drei Eisenbahner. Er habe aufgehört, seiner Frau von seinem Alltag zu erzählen, sagt Kulehitsky, Vater dreier Kinder. Seine Familie lebt jetzt im türkischen Ankara, bei Verwandten. Mehrere Male habe er gesehen, wie Raketen dicht über seinen Zug hinwegschossen. Tage zuvor sei eine Bombe vor seinem Haus in Pokrowsk eingeschlagen, neun Menschen seien gestorben.
Er riskiere auf diesen Fahrten sein Leben, wage sich bis kurz vor die Kampfzone, transportiere nachts die Waffen der Armee. Weil er aber nach geleisteten Stunden bezahlt werde und durch den Krieg und den Auftragseinbruch weniger Stunden anfielen, sei sein Verdienst von 1000 Euro auf 400 gesunken. "Das ist der Dank", sagt er.
Ganz langsam fährt Kulehitsky den Zug über einen See, der vor dem Kraftwerk liegt. Die Schienen verlaufen auf einem Damm. Er ist gespickt mit roten Tafeln, die vor Minen warnen. "Sieht schön aus, ist es aber nicht", sagt er über den See, an dessen Ufer einzelne Ferienhäuser stehen. In den See flössen die Abwässer des Kraftwerks.
Der letzte Bahnhof vor den Russen. Entkoppeln der Waggons. Hektisches Ankoppeln von 56 anderen, leeren Waggons. Auf der Rückfahrt überlegt Kulehitsky, wie Gott all das zulassen könne. "Ich frage mich das die ganze Zeit", sagt er. Kulehitsky ist religiös, russisch-orthodox. Als Kind litt er unter mehreren Gebrechen. Seine Mutter brachte ihn oft in die Kirche, gemeinsam beteten sie zu den Heiligen. Und es habe geholfen, sagt er. "Es gibt einen göttlichen Plan. Es gibt einen Gott. Dieser Krieg ist eine Strafe für unsere Sünden." Er überlegt, hält seinen Steuerknüppel fest in der Hand, den Rücken durchgedrückt. Er flucht auf die alte Technik. "Ich bin mir da ganz sicher", sagt er: "Gott wird diesen Krieg stoppen."
Auszug aus dem Schadensbericht vom 23. Mai. Beschuss der Gleisanlagen bei Utkiwka, Nordukraine. Zwei Raketen auf Gleisanlagen in Pawlohrad, Zentralukraine, zwei Raketen auf Gleisanlagen in Synelnykowe, Südukraine. Anzahl der bislang zerstörten Eisenbahnbrücken: 41.
Die Brücke des Sergej Nikulin
Der Wagen von Direktor Sergej Nikulin hält im sicheren Abstand zu der Brücke. Nikulin ist seit Kriegsbeginn nur einmal hier gewesen. Er steigt aus dem Auto, das der Fahrer im Schatten eines Baumes geparkt hat. So, hofft Nikulin, ist er besser vor Drohnen geschützt. Nikulin leitet im Verbund der ukrainischen Eisenbahn die Region Odessa. Ihm unterstehen 32.000 Beschäftigte – und die Brücke von Satoka. Eine Stunde südlich von der Hafenstadt entfernt steht die derzeit für die Ukraine wichtigste Eisenbahnbrücke. 40 Prozent des wenigen Getreides, das die Ukraine in diesen Wochen noch exportieren kann, werden über diese Brücke transportiert. Sie ist 270 Meter lang und quert die Mündung des Dnister, der hier ins Schwarze Meer fließt. Kein anderes einzelnes Bauwerk wurde in diesem Krieg so oft beschossen wie diese Brücke.
"Ich muss Sie bitten, einige Sicherheitshinweise zu beachten", sagt der Offizier des Militärkommandos, das zum Schutz der Brücke abgestellt ist. "Erstens, wenn Sie im Falle eines Fliegeralarms noch am Beginn der Brücke sind, entfernen Sie sich wieder von der Brücke. Zweitens, sollten Sie sich im Falle eines Alarms auf dem Erddamm befinden, suchen Sie Deckung auf der seeabgewandten Seite. Drittens, haben Sie bei Alarm keine Möglichkeit mehr, die Brücke zu verlassen, legen Sie sich flach hin und nehmen Sie Ihre Hände in den Nacken."
Nach Sperrung der Schwarzmeerhäfen durch die Russen nutzt die Ukraine zwei kleine Häfen am Donaulauf. Die können nicht blockiert werden, da sie an die rumänischen Gewässer grenzen. Nikulin, 41, hat früher in der Leitung des Hafens von Odessa gearbeitet, er ist Fachmann für das Zusammenspiel von Häfen und Eisenbahn. Er hofft, die Donauhäfen in kurzer Zeit ausbauen zu können, ein Komitee arbeite daran. Das alles aber habe nur mit dieser Brücke einen Sinn.
Er geht auf sie zu, mit schnellem Schritt. Siebzehn Raketen haben die Russen bis zu diesem Tag auf die Brücke abgefeuert. Manche von Kriegsschiffen im Schwarzen Meer aus, andere von U-Booten. Manchmal nutzten sie auch Langstreckenbomber, die mit ihren Lenkwaffen auf die Brücke zielten. Fast alle Angriffe verfehlten ihr Ziel. Meist explodierten die Raketen im Wasser. Einige trafen Ferienanlagen am Ufer, eine schlug im Haus einer Familie ein. Ein zwölfjähriges Mädchen verlor beide Beine.
Drei Raketen trafen. Doch die Schienen blieben intakt, die Schäden ließen sich reparieren.
Sergej Nikulin hat das andere Ufer erreicht, er kehrt wieder um, schaut sich die Ausbesserungen an. Ein Güterzug kommt ihm entgegen, voller Getreide, fabrikneue Güterwaggons, bemerkt er zufrieden, da schrillt der Alarm. "Weg hier!", brüllt der Militärkommandant. Nikulin rennt von der Brücke, zurück zu seinem Wagen, wirft sich auf die Rückbank, ruft: "Fahr!", und der Fahrer rast die Straße entlang zurück nach Odessa.
Der Vorstand und die Normalität
Den ganzen Tag sieht Oleksandr Kamyschin das Aquarium, aber er mag es nicht. In seinem Büro in Kiew hat es einer seiner Vorgänger einbauen lassen. Die Sekretärin füttert die Fische, ein Spezialist putzt das Glas. Es ist ein Anschein von Normalität in den Alltag der Führungsetage zurückgekehrt. Trotz der täglichen Angriffe haben sich die Fahrpläne der Bahn stabilisiert. Kamyschin nimmt wieder Termine wahr, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Er trifft Unternehmer und hört sich ihre Klagen über den Zustand des Kiewer Hauptbahnhofs an. Er besichtigt die kurz vor dem Krieg eingeweihte Lounge. Er ist dabei, als eine Rolltreppe in Betrieb genommen wird, die lange Zeit nicht funktioniert hat.
Kamyschin würde auch gerne wieder die Verhandlungen mit der Hamburger Hafengesellschaft über eine Beteiligung aufnehmen, aber dafür sei es noch zu früh.
Immer noch dominiert der Krieg. Es gibt Zahlungsschwierigkeiten. Gehälter können nicht immer pünktlich überwiesen werden. Reparaturen verzögern sich, weil das Geld fehlt. Die wichtigste Einnahmequelle, der Güterverkehr, ist drastisch geschrumpft. Die Bahnvorstände hoffen auf baldige EU-Mittel – niemand weiß, wann die fließen.
An einem Wochenende Ende Mai frühstückt Oleksandr Kamyschin das erste Mal in diesem Krieg mit seiner Familie. Ein Mehrfamilienhaus in Kiew. Der Weihnachtsbaum steht noch in der Ecke des Wohnzimmers, so haben es sich die Söhne gewünscht. Weihnachten für immer. Seit dem ersten Kriegstag hat Kamyschin seine Familie nicht gesehen. Jetzt ist sie für einige Tage beisammen. Seine Frau war mit den Kindern nach Ungarn geflohen, später in die USA. Wochenlang lebten sie in einem Hotel.
"Wo ist der Zucker?", fragt sie ihren Mann. Er sucht in den Küchenschränken, kein Zucker. Auch Kamyschin hat in den vergangenen Wochen fast täglich seinen Übernachtungsort gewechselt. Er habe letzte Nacht kaum geschlafen, aus Sorge, sagt er. Die Kinder toben ausgelassen im Wohnzimmer, sie albern und kreischen, doch mit einem Mal geht der Kleinste ans Fenster, mit einem Legospielzeug in der Hand.
Er schaut hinaus, dreht sich um zu seinen Eltern und sagt: "Sirene."
Tage später wird am Güterbahnhof von Pokrowsk die Unterkunft der Streckengänger von einer Rakete getroffen. Ein Mann wird am Kopf verletzt, eine Frau verliert ihr Augenlicht. Am 30. Mai gelingt es den Russen, die Brücke über den Dnister zu zerstören. Es ist ihr 18. Versuch. Der Schaden ist so schwer, dass sie in den nächsten Monaten für Getreidezüge nicht mehr befahrbar sein wird.