Die Herren des Lichts
von Marc Neller und Benedikt Fuest
Welt am Sonntag vom 15.05.2022
Portrait dreier hochinnovativer europäischer Zulieferer-Unternehmen der systemrelevanten Chip-Industrie im Kontext globaler (wirtschaftlicher) Machtkämpfe und -abhängigkeiten. Darstellungen der wissenschaftlichen Innovationen und ihrer Bedingungen sowie der Gründerpersönlichkeiten.
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Die Herren des Lichts
Am Anfang einer postkartenblauen Woche leert Jos Benschop einen Espresso und macht sich auf den Weg zu einem geheimen Ort, der die mächtigsten Männer der Welt umtreibt. Benschop durchmisst ein Firmengelände von der Größe eines Stadtviertels, federt durch Flure, kreuzt Höfe, ein großer Mann mit schmalem Gesicht und buschigen Augenbrauen. Das Leben hat zwei scharfe Furchen um seine Mundwinkel gezogen.
An einer Stichstraße verlangsamt Benschop seinen Schritt. Der Wind weht die Geräusche einer Autobahn heran. Hinter Benschop kratzt ein anthrazitgrauer Turm am Himmel, die Sonne streut gleichmäßiges Licht auf Büroriegel und Werkhallen. Vor ihm tut sich ein Komplex aus mehrgeschossigen Flachdachbauten auf.
"Hier ist es", sagt Benschop und deutet mit ausgestrecktem Arm auf den Komplex. Er führt nur selten Gäste hinein und achtet darauf, bestimmte Bereiche zu meiden. Denn Benschop und seine Firma stehen im Zentrum eines geopolitischen Krimis.
Der anthrazitfarbene Turm ist der Sitz der Firma ASML in Veldhoven, niederländische Provinz. Die Zentrale eines Weltimperiums, das nur Eingeweihte kennen. Jos Benschop, 61 Jahre alt, ist einer der Chefentwickler. Er hat in fast vier Jahrzehnten die Anfänge miterlebt und den Aufstieg. Manche in der Branche sagen, ohne ihn wäre das Unternehmen nie geworden, was es heute ist. Benschop, sagen sie, gehöre einem exklusiven Zirkel von Menschen an, deren Expertise und Erfahrungen von unschätzbarem Wert seien. Er sei ein Herr des Lichts.
Die Präsidenten der USA und Chinas lassen die Firma beobachten, denn sie formt die Zukunft der Menschheit mit. Sie baut Maschinen, groß wie Lastwagen, Dutzende Tonnen schwer, bis zu 300 Millionen Euro teuer. Diese Maschinen funktionieren wie ein Laserdrucker. Sie stellen mit einer einzigartigen Belichtungstechnik einen der wichtigsten Rohstoffe der Weltwirtschaft her: Mikroprozessoren, auch Chips oder Halbleiter genannt, das Gehirn von Rechnern. Ohne sie funktioniert keine Fabrik mehr, keine Behörde, kein Krankenhaus. Sie steuern Handys und Laptops, Autos und Flugzeuge, Fernseher und Kaffeemaschinen.
Im digitalen Zeitalter wetteifern Wirtschaftsunternehmen wie Staaten um technologischen Vorsprung, um Herrschaftswissen. Solches Wissen ist Macht, die über Arbeitsplätze, Wohlstand und die Bedeutung von Nationen entscheidet. Vier Hersteller von Computerchips teilen den Weltmarkt unter sich auf, je einer aus den USA und Taiwan, zwei aus Südkorea. Sie alle sind angewiesen auf die Hightechmaschinen aus Europa. ASML kontrolliert den globalen Markt, die Firma hat beinahe ein Monopol.
Das erklärt, warum Benschop und seine Firma ein großes Geheimnis daraus machen, was genau in ihren Werkhallen passiert.
Auf den blaustichigen Bildern der Überwachungskameras sieht man, wie vermummte Gestalten mit Kopfhauben, Gesichtsmasken und hellblauen Schutzanzügen ihr Werk verrichten. Diese Räume sind reiner als die Operationssäle einer Klinik. Computer steuern mithilfe von Sensoren die Raumtemperatur so, dass sie rund um die Uhr exakt 21 Grad Celsius beträgt. Die Männer tragen spezielle Bartmasken, die Frauen kein Make-up, sobald sie durch eine Schleuse eintreten. Wer etwas schreiben will, muss in Kunststoff eingeschweißtes Papier benutzen. Selbst kleinste Partikel, Bartstoppeln, Hautschuppen oder Papierabrieb, die in die Luft geraten, können die Arbeit mehrerer Monate vernichten, viele Millionen Euro.
Ein Computerchip besteht größtenteils aus Silizium, aus Dutzenden, manchmal Hunderten Schichten, jede dünner als ein menschliches Haar. Auf einige wenige kommt es an. Sie sind die wahre Schaltzentrale von Computern und elektronischen Geräten. Ihre Rechenleistung hängt davon ab, wie sie belichtet werden.
Benschop und seine Entwickler haben eine Lichtmaschine erfunden, die seit Jahren in den Fabriken aller Chiphersteller steht, Marktanteil 80 Prozent. Inzwischen bauen sie zwei neue Versionen dieser Anlage, mit denen sie die Grenzen des Vorstellbaren verschoben haben. Sie haben eine Belichtungstechnik entwickelt, die niemand sonst beherrscht. Sie macht es möglich, auf Plättchen von der Größe eines Daumennagels mehr als 80 Milliarden Transistoren zu drucken.
Die Chiphersteller brauchen diese Maschine, um ein altes Grundgesetz der Computerindustrie einzuhalten. Es besagt, dass sie die Rechenleistung ihrer Chips alle zwei Jahre etwa verdoppeln muss. Je kleiner die Transistoren sind, desto mehr passen auf einen Chip. So steigern die Hersteller die Leistung und senken den Stromverbrauch.
Die neue Lichtmaschine aus den Niederlanden, so sagen es Kenner, sei eine Eintrittskarte in die Zukunft des Menschen. Alles werde von ihr abhängen, Videokonferenzen, die Medizin, selbstfahrende Autos, künstliche Intelligenz. Die Kenner sprechen das Kürzel für diese Technik, EUV, aus wie eine Zauberformel. Sie steht für extrem ultraviolettes Licht.
Das Ergebnis klebt auf einem großen Panoramafenster im 19. Stock des anthrazitfarbenen Turms in Veldhoven. Ein paar blaue Ziffern und Buchstaben, die wichtigsten Daten des abgelaufenen Geschäftsjahrs. Mehr als 32.000 Mitarbeiter, 18,6 Milliarden Euro Jahresumsatz, insgesamt 309 verkaufte Lichtmaschinen.
Benschop sagt, seine Firma habe zuletzt neue Produktionshallen gebaut und Tausende Mitarbeiter eingestellt, Forscher, Ingenieure, Facharbeiter. Viele im Alter seiner beiden Töchter, Anfang 30. Trotzdem sei es derzeit unmöglich, die Nachfrage aus aller Welt zu bedienen.
Die Fertigung ihrer Lichtmaschine der zweiten Generation ist so aufwendig, dass sie nur wenige Dutzend Stück im Jahr herstellen können. Anschließend brauchen sie drei Frachtflugzeuge, um sie zu ihren Kunden in die USA oder nach Asien zu fliegen.
So haben Benschops Superanlage und das Coronavirus dazu geführt, dass in den vergangenen Monaten ganze Industrien ihre Produktionen drosseln mussten. Rund um den Globus sind Elektroautos, Spielekonsolen oder Grafikkarten erst nach monatelanger Wartezeit zu bekommen. Manager und Verbände klagen, dass dringend benötigte Computerchips fehlen, Medien berichten über den Mangel an Halbleitern.
Die Frage ist, wie es kam, dass eine kleine Firma aus den Niederlanden eine Maschine perfektioniert hat, von der der Mensch inzwischen abhängig ist. Die Suche nach Antworten führt zu Jos Benschop und in den Süden Deutschlands, zu zwei Männern, die er seine Verbündeten nennt. Sie arbeiten in großen Kellern und weiten weißen Hallen daran, die Gesetze der Physik zu überlisten und ihr Wissen zu mehren.
1. Das weiße Ufo am Stadtrand
In einem klimatisierten Besprechungsraum sinkt Benschop in einen Stuhl, die Lamellen der Jalousien schneiden den Frühlingstag draußen in Streifen. Durch Glaswände ist das Gewimmel auf Bürofluren und im firmeneigenen Café zu sehen, ein Schauspiel ohne Ton. Benschop sieht eine Weile zu, dann erzählt er, wie alles begann.
Er wuchs in einer Kleinstadt mit Industrie auf, der Sohn eines Architekten und einer Hausfrau. Als Jugendlicher schraubte er an seinen Mofas herum, damit sie schneller fuhren als die seiner Freunde. Er studierte Physik, wurde Diplomingenieur, promovierte, fing in einer Forschungsabteilung des Elektronikkonzerns Philips in Eindhoven an. Er war 23, als er an einer Technologie zu arbeiten begann, die bis heute seinen Alltag bestimmt.
Im Jahr 1984 gründete Philips, Hersteller von Fernsehern und Haushaltsgeräten, mit einem Maschinenbauer eine Firma namens ASM Lithography, einen Abenteuerspielplatz für Ingenieure und Forscher. Das Kürzel ASM stand für Advanced Semiconductor Materials, fortschrittliche Halbleitermaterialien.
So bekam Benschop 30 neue Kollegen. Sie starteten den Versuch, das aufziehende Computerzeitalter zu revolutionieren.
Seit den Siebzigerjahren produzierten die Hersteller ihre Computerchips mit Geräten von der Größe eines Kühlschranks, deren Technik so langsam an physikalische Grenzen stieß. Sie waren kaum noch in der Lage, immer kleinere Prozessoren herzustellen. Benschop und die Kollegen der neuen Firma wollten eine Lichtmaschine konstruieren, die diese Grenzen überwinden konnte und den Fortschritt nicht aufhielt.
ASML stellte neue Mitarbeiter ein, baute eine Zentrale, ein weißes Gebäude, das heute an einer Ausfallstraße Veldhovens liegt wie ein in ferner Zeit gestrandetes Ufo. Sie entwickelten ihre ersten Spezialscanner. Die Fachleute bewunderten ihre Arbeit, die Chiphersteller kauften trotzdem lieber bei den Marktführern aus Asien, bei Firmen wie Nikon und Canon.
Heute nennen Benschops Chefs ASML die bedeutendste Firma, von der die Welt noch nie gehört hat. Benschop kichert, wenn man ihn darauf anspricht. Er verströmt die Selbstsicherheit und Ironie eines Mannes, der nichts mehr beweisen muss. Benschop sagt, wenn er morgens das Haus verlasse und mit dem Rad durch seine Stadt gleite, denke er oft, dass das Leben es gut mit ihm meinte. Allerdings vergesse er nie, dass er und die Firma, mit der er verwachsen ist, gut zwei Jahrzehnte lang dem Scheitern näher waren als dem Gelingen.
Anfang der Neunzigerjahre ging Benschop in die USA. Das Silicon Valley, Tal der unbegrenzten Möglichkeiten, zog ihn an. Als er zurück in die Heimat kam und später zu ASML, begannen die Dinge sich für die Firma allmählich zum Guten zu wenden.
Mehr als zehn Jahre lang war die Unternehmung wie ein schwarzes Loch, in dem Million um Million verschwand. In einem Akt der Notwehr brachte Philips seinen Abenteuerspielplatz noch an die Börse und stieg aus. Etwa zu dieser Zeit arbeiteten Benschop und seine Kollegen an der Entwicklung einer Maschine, die sie Twinscan nannten. Sie wurde, etwa 20 Jahre nach der Gründung der Firma, ihr wirtschaftlicher Durchbruch. Die Anlage konnte zwei Arbeitsschritte zeitgleich erledigen.
Inzwischen reizen Benschop und seine Leute die Gesetze der Physik aus. Sie haben einen Weg gefunden, ultraviolettes Licht zu nutzen. Dieses Licht gewinnen sie aus einem Plasma, einer Art Gas, das 40 Mal so heiß ist wie die Oberfläche der Sonne. Ihre Maschinen bündeln das Licht zu einem dünnen Strahl, den sie mit sechs oder mehr Spezialspiegeln so durch ihre Anlagen leiten, dass sie Strukturen von der Größe weniger Dutzend Atome erzeugen.
Einige Konkurrenten haben versucht, eine ähnliche Maschine zu konstruieren oder wenigstens zu kaufen. Am Rand der chinesischen Hafenstadt Wuhan zum Beispiel stehen nun geisterhafte Gerippe aus Beton. Die Fabrik, die dort mit Milliarden des Staates gebaut werden sollte, war pleite, bevor sie den Betrieb aufnahm.
Es ist der Grund, warum ASML an der Börse derzeit zehnmal mehr wert ist als Philips, der Gründerkonzern. Es ist auch der Grund, warum die Firma in ihre Reinräume nur ausgewählte Gäste einlässt, die Weltpolitik und ihre Machtspiele aber nicht heraushalten kann.
Die USA und China kämpfen um die Vorherrschaft in der Welt. Dazu gehört der Plan, die Industrie ihrer Länder möglichst unabhängig von anderen Regionen und Ländern zu machen. Die Produktion von Mikrochips ist ein wichtiger Teil dieses Plans.
Chinas Staatsführung hat in ihrer Industriestrategie "Made in China 2025" vor Jahren beschlossen, 70 Prozent aller Halbleiter selbst zu produzieren, die heimische Unternehmen benötigen, um elektronische Geräte herzustellen. Sie hat Hunderte Milliarden Euro investiert, ihr Ziel bisher aber nicht erreicht.
Die Vereinigten Staaten haben Intel, einen der vier großen Chipfabrikanten. Die Präsidenten Donald Trump und sein Nachfolger Joe Biden haben den großen Konkurrenten, TSMC, mit Handelsbeschränkungen und Drohungen so bedrängt, dass er nun Fabriken in den USA baut. Die Firma hat ihren Sitz in Taiwan, einem Staat, den Chinas Führung als ihr Eigentum betrachtet. Bidens Regierung fürchtet, China könnte jederzeit dort einmarschieren und die Kontrolle über das Unternehmen an sich reißen.
Außerdem lassen Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping überwachen, wie Benschop und seine Firma in Veldhoven ihr Wissen vergrößern und damit ihre geostrategische Bedeutung. Im Verborgenen ringen sie darum, Einfluss auf die Geschäfte zu nehmen.
Mindestens zweimal in den vergangenen Jahren sind Hacker in die Firmennetze von ASML und einem Zulieferer eingedrungen, die Spuren führten nach China. Und die USA verhindern seit Jahren, dass ASML die neue Generation seiner Lichtmaschinen an chinesische Unternehmen verkauft. Nur sehr selten dringt etwas davon an die Öffentlichkeit.
Vor drei Jahren aber luden Donald Trump, damals noch Präsident, seine Minister und Sicherheitsberater den niederländischen Premierminister Mark Rutte ins Weiße Haus ein. Anschließend berichteten amerikanische Medien, Trumps Leute hätten ihm Geheimdienstinformationen vorgelegt und deutlich gemacht, dass China diese Maschinen aus Veldhoven niemals besitzen darf. Wenig später beschloss Ruttes Regierung, die Exportlizenz von ASML nicht zu erneuern. Sie verbot also den Verkauf nach China.
Biden hat den Druck auf die niederländische Regierung in den vergangenen Monaten noch erhöht, damit das auch so bleibt.
"Kein Kommentar", sagt Benschop, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. Er ist ein guter Erzähler, der seine Geschichten gerne mit Pointen garniert. Sobald es um Politik geht, um Cyberangriffe und Spionageversuche, flüchtet er sich in dürre Sätze.
Benschop lenkt das Gespräch auf zwei Firmen aus Deutschland, enge Verbündete seit Jahrzehnten, ohne die es die Supermaschine nicht gäbe und keinen Weltmarktführer in Veldhoven. Menschen, die das Geschäft gut kennen, sprechen von einer Zusammenarbeit, die seit Jahrzehnten so eng ist, dass ihnen keine vergleichbare einfällt. "Wir brauchen die Deutschen, und die Deutschen brauchen uns", sagt Benschop.
2. Herr Kösters formt das Licht
Ein schiefergrauer Himmel drückt auf den Morgen, als eine große, dürre Gestalt durch die Glaswaben ihres Labors eilt, durch ein unterirdisches Labyrinth aus Gängen und Treppen, und schließlich einen Raum erreicht, in dem alles reinweiß ist. Die Wände, Decke, Boden, Regale. Michael Kösters schlüpft in einen dünnen Ganzkörperanzug, legt Haube, Mundschutz und Spezialschuhe mit Manschetten an, zieht zwei Paar Handschuhe übereinander an. Dann tritt er durch eine Glasschleuse hinein in seine Welt.
Wenig später steht er vor einem silberglänzenden Koloss aus Edelstahl und einem Gewirr aus Kabeln, gelben, grünen, schwarzen. Er steht vor mehr als zehn Jahren Arbeit, der Erfindung seines bisherigen Lebens.
Kösters, 41 Jahre alt, Rheinländer und Physiker, leitet eine Entwicklungsabteilung des Maschinenbauers Trumpf, Sitz in einem Gewerbegebiet in Ditzingen, schwäbische Provinz. Er und seine Leute haben den Koloss entwickelt, mithilfe Dutzender Forscher anderer Institute und Unternehmen. Sie nennen ihn High Power Seed Module. Er ist das Herz eines Industrielasers, von dem Fachleute sagen, er sei der stärkste seiner Art.
Kösters hat an der Universität in Bonn promoviert, seine Doktorarbeit handelt davon, wie der Mensch Licht so erzeugen und formen kann, dass es einen möglichst feinen Strahl produziert. Im Grunde erledigt der silberne Koloss, vor dem Kösters nun steht, genau das.
Die Anlage schießt in ihrem Innern zwei irrwitzig schnelle Lichtblitze auf Zinntropfen, jeweils 50.000 Mal pro Sekunde. Der zweite Blitz erhitzt die Zinntropfen auf 220.000 Grad, so verdampft er sie zu einem Plasma, einem sehr heißen Gas. Dieses Gas strahlt extrem ultraviolettes Licht ab und macht es nutzbar. All das passiert in einem Vakuum, damit keine Luft das Licht absorbiert.
Diese Lasermaschine schafft die Voraussetzung dafür, dass die Hightechanlagen von ASML schneller arbeiten und mehr Transistoren auf kleinstem Raum unterbringen als alle anderen. Das bedeutet für die Chiphersteller, dass sie ihre Anschaffungskosten für die teuren Anlagen in kurzer Zeit wieder verdienen können.
Kösters spricht mit Hingabe über technische Details und Daten. Seine Kollegen sagen, er behalte noch dann den Überblick, wenn andere sich in komplizierten Zusammenhängen verheddern. Er selbst sagt, das Wesen der Welt habe ihn schon als Kind fasziniert. Sein Vater habe ihn und seinen Bruder an den Wochenenden mit in den Garten oder den Wald geschleppt und ihnen erklärt, wie das Leben von Pflanzen und Tieren funktionierte. Der Bruder war gelangweilt, Kösters gebannt.
Als er bei Trumpf anfing, war Kösters Anfang 30. Nach sechs Monaten wurde er Teil einer Entwicklergruppe mit etwa zehn Mitarbeitern, die seit Jahren mit extrem ultraviolettem Licht experimentierte. Kösters forschte in Laboren in einem weitläufigen Kellergeschoss. Dort gab es kein Tageslicht, dafür konstante Temperaturen, keinen Luftzug, nichts, das sich plötzlich änderte und seine Messungen verzerrte.
"Perfekte Bedingungen", sagt Kösters. Trotzdem brauchte die Gruppe insgesamt gut zwölf Jahre, bis sie eine Lichtanlage für ultraviolettes Licht konzipiert hatte, die den Chipherstellern eine rentable Produktion ermöglichte.
Wenn man es betrachtet wie Kösters oder Benschop, ging es schnell. Aus der Sicht eines Unternehmenschefs dagegen sind zwölf Jahre, die Hunderte Millionen Euro kosten, aber nichts einbringen, eine riskante Wette auf die Zukunft.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen was", sagt Kösters. Er zieht die Tür des Glaskastens mit dem silbernen Monstrum zu, passiert weiße Flure, in denen Roboter und Automaten ihr Werk verrichten. Je tiefer er ins Innere der Fertigung vordringt, desto weniger Menschen in Schutzanzügen sind zu sehen und desto mehr Maschinen, gewaltige Skulpturen aus blank poliertem Stahl.
Alles ist immer größer geworden. Die Firmen, die Fabriken, die Produktionsroboter, die Reinräume. Auch die Abteilung, die Kösters leitet. Der Maschinenbauer Trumpf hat jahrelang investiert, ohne zu wissen, ob es sich je auszahlen wird. Heute sind in jedem Auto Tausende Computerchips verbaut, die Blinker steuern, Sitzheizungen, Navigationsgeräte.
Auch das ist Teil einer Antwort auf die Frage, warum drei Firmen aus den Niederlanden und aus Deutschland eine Industrieanlage geschaffen haben, die sie in der Welt unentbehrlich macht. Wer ihren Vorsprung aufholen will, braucht Spezialwissen, viel Geld und die Geduld, nicht sofort eine Rendite zu erwarten. Im Grunde muss er gegen die Logik der globalisierten Wirtschaft verstoßen.
Als Kösters an einem Labor ankommt, in dem zwei Männer und eine Frau auf Bürostühlen um einen Rollwagen mit Monitoren sitzen, sagt er: "die heiligen Hallen". Er sagt es so leise, als spräche er zu sich selbst.
In diesem Labor werkeln Kösters und seine Kollegen daran, den Gesetzen der Natur ein paar weitere Ausnahmen abzuhandeln. Sie bauen ihre Lasermaschine um. Denn ASML will bald eine Weiterentwicklung seiner Belichtungstechnik einsetzen, Jos Benschop nennt sie High NA. Auch Kösters‘ Unternehmen lässt deshalb nur ausgewählte Gäste in dieses Testlabor, Journalisten eigentlich nicht.
Kösters tritt an eine gewaltige Granitplatte heran, auf die zahllose Metallgebilde und Spiegel montiert sind. Er sagt "Focusing Unit", "Präzisionsoptiken", "Qualifizierungsparameter", seine Worte und Erklärungen schwirren wie ein Schwarm Mücken durch den Raum. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass Kösters‘ Kollegen auf der Granitplatte testen, wie nahe se einer Revolution gekommen sind. Auch ihre neuen Hochleistungslaser nutzen extrem ultraviolettes Licht. Allerdings sollen sie einen noch präziseren Laserstrahl mit mehr Spiegeln lenken. So wollen sie die Zahl der Transistoren, die auf einen Chip passen, immer weiter erhöhen.
Der Plan ist, dass ASML in drei Jahren die ersten dieser neuen Lichtmaschinen verkauft. Die großen Chiphersteller rechneten fest damit, sagen die Manager der Elektronikkonzerne, Beratungsfirmen und die Analysten der Banken. Der gesamten Branche ständen goldene Jahre bevor. Das sei eine gute Nachricht für Europa, auch für Deutschland.
Die Europäische Union und die Bundesregierung haben sich in den Kampf um die Zukunft eingemischt. Anfang des Jahres haben sie ein Gesetz beschlossen und beispiellose Subventionen. Ihr Ziel ist eine Chipindustrie, die Europas wichtigste Industrien versorgen kann.
Der amerikanische Konzern Intel, lange Weltmarktführer aus dem Silicon Valley, plant und baut derzeit vier neue Fabriken. Zwei in den USA, eine in Irland, eine auf einem Acker südwestlich von Magdeburg. Er investiert zig Milliarden Euro, um der Erste zu sein, der die Lichtmaschinen mit High NA aus Veldhoven einsetzt. Die Fabrik in Magdeburg will er damit ausrüsten. Die erste gebaute Maschine dieses Typs testet Intel derzeit.
"Es geht gerade erst richtig los", sagt Michael Kösters in seinem Labor. Und in einem Industriegebiet, etwa eineinhalb Autostunden entfernt, sieht ein alter Bekannter die Dinge ähnlich wie Kösters. Er sieht, wie ein Traum seiner jungen Jahre sich erfüllt.
3. Herr Stammler und der Golfball auf dem Mond
Als Thomas Stammler durch eine elektrische Schiebetür in den Tag tritt, schlägt ihm schwülwarme Frühlingsluft entgegen. Sein Chauffeur schnippt seine Zigarette auf den Parkplatz und öffnet den Kofferraum eines weißen Audi. Stammler stellt seinen Rollkoffer ab. Er blickt in ein Tal, das sich in die grünen Hügel der schwäbischen Ostalb schmiegt.
Am Vormittag hat Stammler letzte Absprachen getroffen, sich in den Produktionshallen umgesehen und zwischen Steak und Kartoffelschnitzen einen Vortrag gehalten. Gleich wird ihn der Chauffeur zum Münchner Flughafen fahren. Stammler reist nach Israel und von dort in die USA, zu Kollegen, Lieferanten und Kunden. Er hat eilige Dinge zu besprechen und Entscheidungen zu treffen.
Stammler, ein Mann von 56 Jahren mit freundlichem Gesicht, ist Technikvorstand von Zeiss Semiconductor Manufacturing Technology. Die Firma mit Sitz in Oberkochen gehört zum Optikkonzern Zeiss. Sie stellt Spezialspiegel her. Diese Spiegel leiten das Laserlicht, das Kösters und die Firma Trumpf formen, durch die Maschinen, die Benschop und ASML bauen.
Die weiße Limousine gleitet vom Hof, im Rückspiegel schrumpfen die Werkhallen. Wenn Stammler in zwei Wochen von seiner Reise zurückkommt, wird es darin so aussehen, als wäre er nie weg gewesen. Die Werkhallen, viele im Innern weiß und steril wie die Reinräume in Veldhoven und Ditzingen, sind Zeitentschleuniger.
Am Anfang ist ein Block aus blassrotem Glas, mit ihm beginnt der Produktionsprozess. Das Glas ist eine Erfindung der Weltraumforschung, es hält Hitzeunterschiede von 300 Grad Celsius aus, fast ohne sich zu verformen. Diesen Block schleifen Maschinen in eine runde Grundform. Danach polieren Roboter mit Spezialwerkzeugen, die Stammlers Firma selbst entwickelt, die Oberfläche des Blocks. Woche um Woche, Monat um Monat, Schicht für Schicht. Zwischendurch wechseln die Facharbeiter, die Werkhallen, die Werkzeuge. Mal poliert ein Schleifstein aus Glaskeramik, mal ein Diamant, mal Pads aus Kunststoff. Manche der Werkzeuge sind so fein, dass sie sich anfühlen wie ein Tuch aus Seide.
Irgendwann wird auf den Block eine Beschichtung aufgetragen, auch sie wird poliert und geschliffen. Zum Schluss tragen Maschinen in einer Vakuumkammer mit einem Ionenstrahl die letzte Lage ab.
Das alles kann ein Jahr dauern. Das Ergebnis sind Industriespiegel, die Fachleute als Kunstwerke optischer Präzisionsarbeit bezeichnen.
Während hinter den Scheiben der weißen Limousine die Landschaft vorüberfliegt, sagt Stammler, die Spiegel seiner Firma könnten einen Lichtstrahl von der Erde so zum Mond lenken, dass sie dort einen Golfball treffen. Er sagt auch, dass sie seit Anbeginn jedes Stück, all ihre Spiegel für lithografische Optiken, nur an einen Kunden verkaufen. Benschops Firma.
Stammler und Benschop kennen und schätzen sich, seit fast 30 Jahren. Stammler sagt, sie seien fast wie ein altes Ehepaar. Es war eine Verkettung von Zufällen, die sie zusammenbrachte.
Stammler ist auf der Ostalb geboren und aufgewachsen, nur wenige Kilometer von seiner Firma entfernt. Der weiche Dialekt der Gegend rundet bis heute seine Sätze. Nach dem Studium, Physik, zog es ihn hinaus in die Welt. Für immer, wie er hoffte.
Er ging mit seiner Freundin und einem Stipendium nach San Francisco, stellte sich eine Karriere als Wissenschaftler an einer respektablen Universität vor, sah aber nach wenigen Monaten ein, dass Grundlagenforschung nicht der richtige Weg für jemanden war, der als Junge den Röhrenfernseher seiner Eltern zu einem Oszilloskop umbaute und unschuldig tat, wenn die Eltern sich abends wunderten, warum ausgerechnet zur besten Sendezeit das Bild rieselte.
Er ließ das Stipendium sein und fing bei IBM an. Der Konzern galt damals in der Computerindustrie als das Maß aller Dinge. Stammler forschte, lernte die Goldgräberstimmung des beginnenden Computerzeitalters kennen und fand, was er suchte. Das Gefühl, an etwas mitzuarbeiten, das für die Menschheit von Bedeutung war. Wenig später bot ihm ein Unternehmen aus der Heimat einen Job an. Die Chefs von Zeiss überzeugten ihn. Sie dachten groß wie er.
Auf einer Überholspur, auf halbem Weg nach München, erzählt Stammler, dass er als Kind monatelang die Rotoren eines Modellhubschraubers feilte und schliff, bis der Hubschrauber endlich nicht mehr sofort vom Himmel fiel und zerschellte. "Im Herzen bin ich ein Bastler, immer gewesen", sagt Stammler. Sein Gesicht glüht. Der Bastler ist die Verbindung zwischen seiner Kindheit und den Hochleistungsspiegeln.
Stammler ist gut darin, komplizierte Dinge einfach erscheinen zu lassen. Die Mitarbeiter seiner Pressestelle versorgen ihn mit Ideen und Vergleichen, die auch einem Laien den Eindruck vermitteln, dass Zeiss in Oberkochen nicht irgendein erfolgreiches Familienunternehmen ist. Der Golfball auf dem Mond ist ein Beispiel, die Bundesrepublik als Scheibe ein anderes.
Stammler sagt, wenn die Oberfläche seiner Spiegel so groß wäre wie Deutschland, dann wäre die größte Abweichung von der idealen Form eine Unebenheit von einem Zehntelmillimeter. Wie Jos Benschop in Veldhoven und Michael Kösters in Ditzingen glaubt er, dass alle Entwicklung nur möglich war, weil sie und Generationen von Forschern und Tüftlern ein unumstößliches Gesetz befolgten.
Im April 1965 veröffentlichte ein Mann mit früh schütter gewordenem Haar und Hornbrille einen Aufsatz in einem Fachmagazin. Gordon Moore, Ingenieur und Unternehmer, hatte eine Beobachtung gemacht, die ihm bedeutsam erschien. Spätestens alle zwei Jahre habe die Computerindustrie so viel dazugelernt, dass sie die Leistung ihrer Chips etwa verdoppelte. Moore malte sich aus, was möglich wäre, wenn es immer so weiterginge. Wenig später gründete er mit zwei Kollegen die Firma Intel. Sie wurde ein Weltkonzern und Moores Beobachtung das Grundgesetz der globalen Elektronikindustrie.
"Das Mooresche Gesetz ist unser Takt", sagt Stammler. Zwei Jahre sind der Rhythmus, den sich ASML, Trumpf und Zeiss geben, um mit neuen Ideen die Computerchips besser, schneller, billiger zu machen. Wie Stammler es sieht, ist Moores Gesetz die Kraft, die alles ordnet. Seine Firma, seine Branche, den Fortschritt.
4. Die helle und die dunkle Seite der Macht
In Veldhoven nestelt Jos Benschop ein Handy aus der Innentasche seines Jacketts, kontrolliert die Uhrzeit, es ist Nachmittag geworden. Benschop betrachtet den Bildschirm eine Weile, dann streckt er das Telefon von sich wie eine Trophäe. "Das erste", sagt er. Das Smartphone, Baujahr 2019, war eines der ersten Geräte, dessen Schaltzentrale mit einer von Benschops Anlagen gefertigt wurde, mit extrem ultraviolettem Licht.
Im Nachhinein kann es so aussehen, als wären die vergangenen 40 Jahre das folgerichtige Ergebnis eines perfekten Plans. Drei weitgehend unbekannte Firmen entwickeln eine Wundermaschine, teilen ihr Wissen und forschen gemeinsam. Es ist, als hätten sie einander ewige Treue versprochen. Sie nutzen die Vorzüge der globalisierten Wirtschaft, das Wissen, die besten Spezialisten und das beste Material. So werden sie nach und nach zu einer Weltmacht.
Diese Geschichte ist nicht falsch, sie erklärt einen Erfolg, den lange Zeit kaum jemand für möglich hielt. Allerdings unterschlägt sie, dass es neben der hellen Seite auch eine andere gibt.
In diesem Jahr will Benschops Firma 55 ihrer Wundermaschinen bauen, demnächst mindestens 90. Diese Maschine mit ihrer besonderen Lichttechnologie ist für das Wachstum der Weltwirtschaft inzwischen wichtiger als Öl. Die Regierungen in Washington und Peking lernen gerade, dass sie es ohne diese Maschinen nicht schaffen werden, all die Computerchips für die heimische Wirtschaft herzustellen. Selbst Intel ist zwischenzeitlich in Not geraten, weil der Konzern später als seine Konkurrenten anfing, mit den Lichtmaschinen der neuen Generation zu produzieren.
Die Zukunft der Welt hängt also, zumindest teilweise, an drei Firmen, an ein paar Dutzend Industrieanlagen. Wer sie besitzt, hat Macht. Das Coronavirus und der Krieg in der Ukraine haben Bürgern und Politikern in aller Welt vor Augen geführt, dass die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten ganze Länder und Kontinente in Nöte stürzen kann.
"Unser Erfolg bringt eine große Verantwortung mit sich", sagt Thomas Stammler, bevor er mit seinem Rollkoffer in einer Abflughalle des Münchner Flughafens verschwindet.
"Wir machen keine Weltpolitik, ich halte mich da lieber raus", sagt Michael Kösters in seinem Labor.
"Wir haben etwas Großes erreicht. Wir wissen aber auch, dass das Gefahren mit sich bringt", sagt Jos Benschop, bevor er in sein Büro eilt.
Eine Hoffnung treibt diese drei Männer an. Die Hoffnung, dass der Mensch ihre Maschine einmal als ähnlich bedeutend ansieht wie die Mondlandung oder die Erfindung des Internets.