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Der Riss

von Wolfgang Bauer
ZEITmagazin vom 17.04.2022

Reportage über die Mannschaft am Salang-Tunnel, der Kabul mit dem Süden Afghanistans verbindet. Von den Russen gebaut, durch Korruption und Krieg fast zerstört, wird er nach der Machtübernahme der Taliban von einer stolzen Mindestbesatzung notdürftig aufrechterhalten, die mit Kälte, Höhenkrankheit und Mangel kämpft.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Der Riss

Im Tunnel. Die Gesichter glänzend vor schwarzem Öl, kauern die drei Männer im Scheinwerferlicht ihres Lkw. Sie beugen sich über ihre Werkzeuge und einen defekten Bremszylinder. Sie reden kaum. Ihnen bleibt nicht viel Zeit. Nur das leise Klirren ihrer Schraubenschlüssel ist zu hören.
Tief im Gebirge Afghanistans, das die Welt als Hindukusch kennt, flirrt die Luft vor Autoabgasen, Dreck und Ruß. Dicklicher giftiger Nebel. Die Sicht im Tunnel reicht nur wenige Meter. In der klaustrophobisch engen Röhre kommen zwei Fahrzeuge knapp an­ein­an­der vorbei. Auf dem einst asphaltierten Boden liegt zentimeterhoch der Staub, die Wände sind bedeckt von einer dicken Kruste und voller Risse. Es ist düster, selten kommt das Licht der Decken­beleuchtung gegen die Schwaden an. Seit einer Stunde versuchen die Männer, den Laster wieder flottzumachen. Die Ölschläuche der Bremsen sind geplatzt. Sie haben 90 Säcke Heu geladen, 13 Tonnen, über sechs Meter hoch gestapelt, so hoch, dass am Tunnel­eingang die Wachleute brüllend versucht hatten, den Laster aufzuhalten. Die Gifte beginnen den Männern in den Augen zu brennen. Bereits jetzt fällt ihnen das Atmen schwer. Es gibt Zeiten in diesem Tunnel, da droht der Erstickungstod.
»Ihr Idioten!«, ruft ihnen da aus dem Staub eine Stimme zu.

Der Ingenieur. Groß, aufrechte Haltung, eingehüllt in einen alten, abgetragenen Uniformmantel. Ahmed Schekib Atay steigt aus seinem Landcruiser, den er neben dem gestrandeten Lkw zum Halten gebracht hat. »Beeilt euch! Es ist gefährlich hier! Bald wird die Luft so schlecht sein, dass ihr euch nicht mehr gegenseitig sehen könnt!« Ahmed Schekib Atay, den alle nur den Ingenieur nennen, arbeitet seit zwölf Jahren in Afghanistans einzigem Straßentunnel, dem Salang-­Tunnel, der den Süden des Landes mit dem Norden verbindet. Er ist der Chef einer Gruppe von 34 Tunnelarbeitern, dem kläglichen Rest von einst 300 Mann. Die anderen sind vom Berg geflohen, als im Sommer die Regierung stürzte und die Taliban die Macht übernahmen.
Der Ingenieur und die drei Dutzend Arbeiter kehrten als Einzige auf den Berg zurück. Sie erhalten keine Löhne, nur wenig zu essen, die Taliban-Regierung hat kein Geld. Sie sind trotzdem wieder auf ihren alten Posten. »Mir ist es egal, wer an der Regierung ist«, sagt Schekib. »Meine Aufgabe ist es, diesem Tunnel zu dienen.«
Es gibt wenige Bauwerke auf der Welt, die so eng mit dem Schicksal eines Landes verknüpft sind wie der Salang-­Tunnel und Afghanistan. Er ist die einzige Möglichkeit, den mächtigen Hindukusch auf der Straße auch im Winter zu überqueren. Die Hälfte des gesamten Warenverkehrs des Landes fließt durch ihn. Schließt der Tunnel, steigen in Kabul nach wenigen Tagen die Brotpreise, weil das Mehl aus Usbekistan eingeführt werden muss. Der Sa­lang ist Afghanistans Lebensader. Ein Tunnel, gebaut in der Hoffnung, das Land zu entwickeln, in den Kriegen zerstört, aber immer wieder knapp vor dem Einsturz bewahrt, ein Symbol der Korruptionswirtschaft, Einkommensquelle für viele. Weil nach der Machtübernahme durch die Taliban der Staatsapparat in großen Teilen nicht mehr funktioniert, das Land ins ­Chaos abzugleiten droht, versucht der Ingenieur Ahmed Schekib auf 3400 Meter Höhe mit seinen Männern die Ordnung aufrechtzuhalten, die Ordnung des Tunnels.
Während der Fahrer des Lkw sich weiter hektisch bemüht, den Bremszylinder abzudichten, ist in der Ferne ein rhythmisches Hämmern zu hören, gedämpft erst, dann immer lauter. Eine Art Trommeln, das näher kommt, das Geräusch von schweren Ketten, die gegen die Piste schlagen, Drehung für Drehung, die Schneeketten Hunderter anderer Lastwagen. Für einige Tage war der Verkehr für größere Lkw wegen zu viel Schnee gesperrt. Jetzt ist die Passage wieder freigegeben. Ein gewaltiger Konvoi von Schwerlasttransportern nähert sich dem Tunnelportal von Norden. Fieberhaft schrauben die Lkw-Fahrer gegen die Zeit an. Sie wissen: Der Tunnel hat keine funktionierende Ventilation. Im vergangenen Jahr, als sie ebenfalls im Berg eine Panne hatten, so erzählen sie beim Schrauben und Hämmern, mussten sie den Wagen zurücklassen und um ihr Leben rennen, zur nächsten Öffnung in der Tunnelwand, um nicht zu kollabieren.
Die technischen Details: eine einzige Röhre, nicht lang, 4,4 Kilometer, die jedoch meist nur im Schritttempo befahren werden kann, ein Nadelöhr, durch das sich der ganze Nord-Süd-Fernverkehr des Landes quält, 7,2 Meter breit, 7 Meter hoch. Gebaut zwischen 1958 und 1964 von russischen Ingenieuren, als Afghanistan ein Königreich war und sich allmählich dem Ausland öffnete. Auf 3400 Metern unterquert der Tunnel den 4100 Meter hohen Hauptkamm des Hindukusch. Er galt lange als Ingenieurswunder und war einmal der höchste Straßentunnel der Welt.
Aus dem Eingang, einem großen Trichter aus Beton, bläst Tag und Nacht unablässig eine schwarze Rauchfahne, wie aus dem Inneren eines aktiven Vulkans. Es gibt keine Rettungsröhre und oft, wenn das Licht ausfällt, keine Beleuchtung. Der Tunnel gilt als einsturzgefährdet. Kriege und Korruption haben ihm bis auf die Substanz zugesetzt. Beton und Fels haben Risse bekommen. Jeden Winter verschütten dazu Lawinen die Passstraße und reißen an den 21 Überdachungen, die die Hochgebirgsstraße stellenweise schützen sollen. Mehrere dieser Galerien, in den Fels gesprengt, mit Beton überdacht, oft noch baufälliger als der Tunnel selbst, sind in den vergangenen Jahren kollabiert und nur notdürftig repariert worden. Dieser Winter ist der erste Winter unter der Taliban-Herrschaft, der erste Winter nach Rückzug der internationalen Gemeinschaft. Dem Land, warnen die UN, stehe die schlimmste humanitäre Katastrophe seit Jahrzehnten bevor. Nie zuvor in der jüngeren Geschichte drohte Afghanistan eine so gewaltige Hungersnot.
Die Bremsschläuche des Lastwagens sind provisorisch geflickt, langsam fährt er wieder an.

Der Ingenieur. Er nimmt erneut seinen Platz am Nordportal ein, von dem aus er üblicherweise den Verkehr beobachtet. Eine Stunde lang hat er am havarierten Lkw geholfen, den Verkehr zu ordnen. Er öffnet das Fenster seines Zimmers, aus dem er auf den Tunneleingang sehen kann, und stützt sich auf die Fensterbank. So wie er es seit zwölf Jahren tut. Zur Schonung seiner Ellenbogen hat er sie mit einem blauen Tuch ausgelegt. »Ist der Lkw draußen?«, fragt er in sein Funkgerät. In der Nacht zuvor hat es auf dem Sa­lang 40 Zentimeter Neuschnee gegeben, der erste schwere Schneefall dieses Winters. Der Ingenieur wartet auf die Antwort des Gruppenleiters, der auf der Südseite des Tunnels stationiert ist. Die 108 Kilometer, die die Sa­lang-­Über­que­rung insgesamt umfasst, sind in acht Streckenposten unterteilt. Ingenieur Schekib überwacht davon sechs Kilometer, zu denen auch der Tunnel gehört. Er und seine Männer sind in einem kleinen Bergdorf aus Unterkünften, Garagen und einem Kraftwerk direkt neben dem Tunneleingang untergebracht. »Er ist bei uns«, krächzt es zurück. Der Lkw hat es aus dem Tunnel geschafft. Fahrer und Mechaniker werden ihn auf der anderen Seite reparieren.
Der Ingenieur hat sich seit dem Sturz der alten Regierung einen Vollbart wachsen lassen. Der 38-Jährige trägt Wollmütze und eine Sonnenbrille gegen die Höhensonne. Die Aussicht vom Fenster seiner Unterkunft erinnert an ein Schweizer Alpen-Idyll. Er sieht auf weiße Berghänge, meterhohe Schneefahnen, die über die Kämme der Viertausender wehen. An anderen Orten der Welt hätte man in der Lage ein Ski-Resort gebaut, hier aber: eine Ansammlung von zerfallenden Steinhäusern und Fahrzeugschuppen. Viele Dächer sind eingebrochen. »Tunnelposten Nord«, so heißt das Dorf aus Ruinen, das von der Straße aus wie ein aufgegebener sowjetischer Gulag wirkt, der Arbeitsplatz von 34 Männern.
Bevor Nikita Chruschtschow, Staatschef der UdSSR, in den Fünfzigerjahren nach einem Besuch in Kabul seine Techniker anwies, einen Tunnel durch den Hindukusch zu schlagen, war Afghanistan ein im Winter von der Natur geteiltes Land. Selbst sommers gelangten Waren nur über Eselspfade in die Hauptstadt Kabul. Doch das Geschenk der Russen war kein uneigennütziges. Kaum anderthalb Jahrzehnte später, ab Ende der Siebziger, rollten die Panzer­bataillone der Sow­jet­union durch den Tunnel. Das Hochgebirge wurde zum Schlachtfeld, immer wieder griffen Aufständische russische Versorgungskonvois an. Am 2. November 1982 blockierten sich zwei Militärkonvois, aus gegenläufiger Richtung kommend, nachdem sie im Tunnel zusammengestoßen waren. Die näheren Umstände sind bis heute ungeklärt. Durch Feuer und Motorenabgase sollen damals Hunderte, andere behaupten: Tausende Menschen ums Leben gekommen sein.
Als das kommunistische Regime 1992 entmachtet, die Russen vertrieben waren und Afghanistan zerfiel, bemächtigte sich ein Warlord der Tunnelportale. Er sprengte sie, um den Norden besser verteidigen zu können, zunächst gegen andere Warlords, dann gegen die Taliban. Zehn Jahre lang konnte der Tunnel nur zu Fuß durchquert werden, drei Stunden dauerte eine Passage. Träger boten ihre Dienste für ein bis zwei Dollar pro Gepäckstück an. Auf Bildern aus dieser Zeit ist der Tunnel kaum noch erkennen. Er begann mehr und mehr einer Erdspalte zu ähneln, die nur gebückt zu betreten war, gefüllt mit Trümmern. Symbol des Niedergangs eines Staates.

Die Kettenkinder. Sie heißen Dschalal, Dschalalhuddin, Ali Ahmad, Sumay. Sie sagen, sie seien nicht jünger als 18, tatsächlich aber sind sie nicht älter als zwölf. Zitternd vor Kälte stehen sie im Wächterhäuschen am nördlichen Tunnelportal. Die Aufseher des Ingenieurs dulden sie dort manchmal. Sie wärmen sich an einer Heizspirale. Dürre Jungs in abgewetzter Winterkleidung. Nach Einbruch der Dunkelheit herrschen Ende Dezember minus 20 Grad. Die Kinder helfen den Lkw-Fahrern beim Anlegen der Schneeketten. Sie geben an, älter zu sein, damit die Lkw-Fahrer ihnen, so dürr sie augenscheinlich sind, die Arbeit mit den schweren Ketten zutrauen.
»Der Tag war für umsonst«, klagt im Wärterhäuschen Dschalal, dreckiger Mantel, dreckige Gummistiefel. Das Häuschen, in dem man das dumpfe Dröhnen des Tunnels hört, ist aus Aluminium, es zieht überall, doch ist es der einzige beheizte Ort. Noch liege zu wenig Schnee, klagen Dschalal und die anderen. Die Fahrer würden wegen der großen afghanischen Wirtschaftskrise auf jeden Cent achten und die Ketten selbst anlegen. »Wenn es kälter wird«, sagt der Junge, »wollen sie nicht mehr aussteigen. Dann ist das Geschäft besser.« So ernährt der Sa­lang-­Tun­nel die Dörfer an seinen Hängen. Hunderte Kinder verdingen sich jeden Winter als Kettenkinder. »Raus, Gesindel!«, schimpft ein alter Tunnelwächter, als er die Tür öffnet und die Kinder sieht.

Die Tunnelarbeiter. »Lasst die Lkw nicht ohne Ketten durch!«, ruft der Ingenieur am nächsten Morgen vom Fensterbrett seinen Männern zu. Die Wettermeldungen für die nächsten Tage machen ihn immer nervöser. Ein Sturm zieht auf. Die Lastwagen, die sich rasselnd den Berg emporquälen, 180 enge Serpentinen hinauf und wieder hinab, sind wahre Wunderwerke des Mangels, jahrzehntealt, überladen, Schrott im Grunde, zusammengehalten oft nur von Improvisation und Todesmut. Viele tragen die Namen westdeutscher Speditionen, die vor 40 Jahren die Autobahnen zwischen Neumünster und Radolfzell bevölkert haben. Schon ohne Schnee schaffen sie es kaum über den Berg. Mit Schnee, es reichen oft nur wenige Zentimeter, ist die Hindukusch-Passage schnell blockiert.
Das Team, das dem Ingenieur für seine fast unmögliche Mission zur Verfügung steht: Saboor, 30, ein stämmiger Mann, fährt die Planiermaschine, einsetzbar auch als Schneepflug. Als vor einigen Jahren ein Bautrupp der Amerikaner hier war, hat er sich mit ihrem Planiermaschinen-Fahrer ein Duell geliefert, bei dem sie sich spaßeshalber gegenseitig mit ihren Frontschaufeln von der Straße schieben mussten. Saboor gewann, der Amerikaner erlitt Platzwunden.
Die ungleichen Brüder Mahfoos, 49, und Murid, 37. Mahfoos, grauer Bart, selbstbewusst, eine Stimme wie Gewittergrollen. Murid, verschlossener, hager, hohle Wangen, dankbar über jedes Lob, misstrauischer Blick. Der Ältere fährt den Erdlaster, dem im Winter ein Schneepflug vorgespannt wird, der Jüngere bewegt den Sprinkler, einen alten Lkw, den er mehrmals täglich durch den Tunnel fährt, um den Staub der Fahrbahn mit Wasser zu besprühen. Seit Langem gibt es dort keinen Asphalt mehr, die Ketten raspeln ihn ab; Ammoniumnitrat, ein Salz, das sich aus den Abgasen bildet, zersetzt ihn wie Säure.
Keine einzige Frau arbeitet am Sa­lang. »Gott hat den Mann für die Arbeit erschaffen«, sagt der Ingenieur. »Die Arbeit hier oben ist so schwer, dass mir selbst die Männer davonlaufen. Wie sollen es dann erst die Frauen schaffen?«
Es gibt zwei Möglichkeiten, von den Männern des Tunnels zu erzählen. Da ist die Heldensaga: »Ich habe mein Leben dem Tunnel geopfert«, sagt Mahfoos, der ältere der Brüder. »Ich habe meine Jahre vergeudet.« 17 Jahre lang arbeitet er mittlerweile hier. Zehn Tage und Nächte auf dem Berg, drei Tage im Tal bei seiner Familie. Die meisten Tunnelwärter litten unter der Höhenkrankheit – Schwindel, ständiges Kopfweh, Schlafprobleme. Der Grund ist die dünne Luft auf 3400 Meter Höhe, der geringe Sauerstoffgehalt. »Der Tunnel ist unser Grab«, sagt der Jüngere. Ihr Vater verletzte sich bei den Bauarbeiten in den Sechzigern schwer, ein Onkel starb im Tunnel den Erstickungstod. Die Hütte der Brüder steht direkt am Rand der Straße, die sie ernährt und zu verschlingen droht. Ihr Leben verbringen sie in einer Kammer aus Stein, innen ausgeschlagen mit grünem Stoff, ausgeblichenes Blumenmuster, schmale Betten aus Metallrahmen, ein Bollerofen, ein Fernseher, in dem ausländische Programme laufen, mit Frauen, die tanzen, die singen, auf die in der Kammer alle Augen gerichtet sind, ein letzter Rest privater Sehnsucht.

Der Schnee. Alle Gedanken drehen sich auf dem Sa­lang um ihn. Sie reden in der Steinkammer fortwährend darüber. Sie fürchten ihn. Nahezu jeder wurde schon einmal unter einer Lawine begraben. Jedes Jahr kommen auf dem Sa­lang an die hundert Menschen ums Leben, die meisten durch Lawinen und Stürme, die die Fahrzeuge von der Straße schleudern. Die Russen hatten in den Fünfzigerjahren die Galerien in den Berg gebaut, doch auf den Strecken dazwischen nicht an Lawinenschutz gedacht. »Ein Geräusch wie das Zischen von tausend Schlangen«, erzählt Maroof. Das letzte Mal ist er vor sechs Jahren verschüttet worden. »Es war dann ganz still und völlig dunkel«, erzählt er über die Stunden, die er in seinem Wagen begraben war. »Unser Funk funktionierte nicht. Die Luft wurde immer dünner.« Als sie befreit wurden, er kann sich nicht erinnern, wie lange es genau gedauert hat, seien sie in Tränen ausgebrochen, ein zweites Leben, sagt er.
Das ist die Heldengeschichte. Eine andere Geschichte können die Trucker erzählen, die den Tunnel passieren, die Händler können sie erzählen, die in ihren Containerbuden Getränke und Snacks anbieten, auch viele ehemalige Mitarbeiter im zuständigen Ministerium in Kabul. Die Geschichte von Korruption und Veruntreuung. Ein Großteil der über drei Millionen Euro, die die Regierung bisher jährlich für die Wartung des Tunnels zur Verfügung gestellt habe, sei gestohlen worden. Die Sa­lang-­Ver­wal­tung galt unter dem alten Re­gime als eine der korruptesten Behörden Afghanistans. Von dem Geld kam nur wenig bei den einfachen Arbeitern an. Die Direktoren sollen sich bereichert haben, Häuser in Russland und Dubai besitzen. Bis zu 3000 Dollar täglich sollen sie von Lastwagenfahrern an Schmiergeld kassiert haben. Das beklagte vor Jahren ein amtierender Minister, Provinzpolitiker hielten die Hand auf. Aber sie alle deckten sich gegenseitig. »Der Tunnel war eine Milchkuh«, sagt ein ehemaliger Ministeriumsberater.

Der Händler. Der angekündigte Schneesturm setzt gegen Abend ein, erste Böen streichen über die Straße. Im Ladeneingang von Mohammed Khan, 28, bilden sich Verwehungen. Khan liegt auf seiner Pritsche hinter der Glasfront des Frachtcontainers, den er zu einem kleinen Geschäft umgebaut hat. »Ich habe heute fast gar nichts verkauft«, sagt er und schaut auf die nahezu leere Straße. 16 Händler haben sich vor dem Nordportal niedergelassen, wo die Straße auf einer breiten Rampe verläuft. Die Amerikaner hatten sie vor 15 Jahren mit Trümmern aus dem Tunnel aufgeschüttet. Eigentlich hatte dort eine Moschee gebaut werden sollen, doch ein Provinzpolitiker bestach Beamte im Ministerium, es heißt, sogar den Minister selbst, der Politiker ließ sich das neu entstandene Land überschreiben und verpachtete es an Geschäftsleute.
Den Container hat Khan so mit Waren gefüllt, fast den gesamten Boden und die Wände, dass ihm selbst darin nur ein winziger Raum zum Leben bleibt. Eine Pritsche, ein Ofen, ein Hocker, mehr nicht. Fast bewegungslos verharrt er tagsüber dort und wartet auf Kundschaft. Nachts liegt er auf der Pritsche, eingebettet in Snacktüten, Energydrinks und Keksen. Kunden klopfen an seine Scheiben, um ihn zu wecken. Wie alle Händler hier oben kennt Khan keine Öffnungszeiten, wie alle ringt er um jeden einzelnen Cent.
Zweimal schon hat er versucht, der Armut in Afghanistan zu entfliehen. Zweimal ließ er sich in den Iran schmuggeln. Beim ersten Mal dauerte es 16 Tage, bis er deportiert wurde. Beim zweiten Mal wurde er bereits an der Grenze verhaftet. Sein Bruder hat es ebenfalls versucht, er schaffte es bis in die Türkei, wurde dann aber auch abgeschoben. Beide betreiben jetzt den Laden am Tunnel, um ihre Schulden für die Schlepper abzuzahlen, beide gefangen in ihrem Land.
Seit der Machtübernahme durch die Taliban ist Khans Verdienst um die Hälfte eingebrochen. Immer weniger Afghanen können es sich leisten zu reisen. Viele Autos sind stillgelegt, weil es im Land an Benzin fehlt. Nur zweimal öffnet sich an diesem Abend die Ladentür. Ein Geschäftsmann aus Kabul, der die nächtliche Fahrt wegen dringender Termine wagt. »Ein Scheißland«, sagt er. »Fuck dieses Land!« Früher hat er mit Überwachungskameras für das US-Militär gehandelt, sein Visa-Verfahren läuft. »In zwei Monaten bin ich in Virginia«, sagt er und verschwindet mit einer Handvoll Energydrinks wieder hinaus in die stürmische Nacht. Zum zweiten Mal öffnet sich die Tür, einer der Tunnelwächter, Khan schnellt von seinem Hocker auf. Er steht stramm, pariert wortkarg den Small Talk des Wächters und setzt sich erst, als der wieder draußen ist. Die Hierarchie am Tunnel ist eindeutig. Ob die Händler die Wärter bestechen müssen, um hier ihre Läden betreiben zu können? Khan weicht einer Antwort aus.

Der Ingenieur. Er nimmt am nächsten Morgen wieder seinen Platz am Fensterbrett ein und inspiziert den Verkehr. Maroof und Saboor haben bereits die Straße vom Schnee geräumt. Der Sturm wurde nicht so schlimm wie befürchtet, gegen Morgen ließ er nach. Der Ingenieur funkt die sechs Beobachtungsposten seines Abschnitts an, das macht er jeden Morgen, fragt ab, ob die Strecke frei ist, aber bloß drei antworten ihm heute. »Fast jeden Tag verlieren wir Mitarbeiter«, klagt er. In den vier Monaten seit dem Sturz der Regierung hätten sie nur zwei Monatsgehälter bekommen, zudem sei ihr Gehalt vom neuen Taliban-Ministerium auf die Hälfte zusammengekürzt worden. Vergangene Woche hat ihn der letzte Elektriker verlassen, seitdem muss er, der Ingenieur, auch in den Tunnel, um Glühbirnen auszuwechseln. »Das ist nicht meine Aufgabe«, beschwert er sich. Er kann sich darüber in Rage reden. »Ich muss das nicht machen!«
Er beschließt, die Strecke selbst in Augenschein zu nehmen, steigt dafür in seinen Landcruiser, auch der nur noch ein Wrack, das Zündschloss haben die Taliban aufgebrochen, als sie im August 2021 bei Einnahme der Tunnelbasis den Wagen als Beute nahmen. Die Windschutzscheibe ist von Rissen überzogen. Vor zwei Jahren hat den Ingenieur bei einer Inspektionsfahrt ein Wagen frontal gerammt, beim Aufprall schlug sein Kopf gegen die Scheibe. Zwei Rippen brach er sich dabei, er spürt die Folgen noch heute. »Bitte helfen Sie mir!«, ruft ihm ein Mann zu, der mit seinem Toyota Corolla einen Kilometer talabwärts mit leerem Tank und plattem Reifen liegen geblieben ist. Seit vielen Stunden sitze er bereits in seinem Wagen und sei mittlerweile völlig ausgekühlt. Der Ingenieur hält nur kurz, sagt, er werde prüfen, ob seine Leute Benzin vorrätig hätten, glaubt aber, sie hätten nur Diesel, fährt mitleidslos weiter.
Die Strecke des Ingenieurs beginnt im Tunnel und endet im Norden einige Hundert Meter tiefer im Tal. Die Piste ist gesäumt von den Hinterlassenschaften vergangener Katastrophen, den Wracks abgestürzter Lastwagen und Pkw; tief unten hängen in den Felsen ihre Reste. 15 Menschen sterben pro Monat auf dem Sa­lang, schätzt der Ingenieur, die Straße ein Schlachthaus.

Die Taliban. Als der Ingenieur wieder in den Hof seines Stützpunkts fährt, sieht er, dass ihn dort eine Gruppe Taliban-Kämpfer in Uniform erwartet, in ihrer Mitte ein Mann in Zivil. »Wie geht es dir, Kamerad?«, fragt der und breitet seine Arme aus. Der erste Auftritt von Ingenieur Safiullah Sekandari. Er trägt Vollbart, wie alle jetzt, traditionelle weite Kleidung, darüber einen Wintermantel. Er sei vom neuen Direktor der Sa­lang-­Ver­wal­tung entsandt, dem Oberhaupt über die 108 Kilometer der Hindukusch-Überquerung. Ein islamischer Schriftgelehrter. »Er ist klug«, sagt er über den neuen Taliban-Direktor. »Er hat für alles einen Plan. Ein genialer Mann.« Die Funktion des neuen Ingenieurs bleibt zunächst unklar. Seine Bewaffneten vertreiben sich die Zeit mit gelegentlichen Schießübungen. Die nächsten zwei Tage wird er bei der Tunnelmannschaft verbringen.
»Was ist mit den Rissen im Tunnel?«, fragt er am Abend den Ingenieur. »Sind die Risse wieder dicht?« Die beiden Ingenieure sitzen sich in Sesseln gegenüber, im Salon, den sich Schekib vor Jahren hat einrichten lassen, der einzige Luxus hier oben. Teegläser stehen vor ihnen.
Die Risse. Sie sind bei den Explosionen entstanden, mit denen der Erzfeind der Taliban, Ahmed Schah Massud, den Tunnel hatte unpassierbar machen wollen. In den Neunzigerjahren wurden die Portale gleich zweimal gesprengt. »Nein«, sagt der Ingenieur Schekib, »es fließt immer noch Wasser aus ihnen.« Im Süden wie im Norden, einige Hundert Meter tief, sind Tunnelwände wie Decke nur notdürftig geflickt. Eine türkische Firma, von den Amerikanern nach dem Sturz der Taliban beauftragt, hat offenbar das falsche Material verwendet. Jetzt drückt im Frühjahr überall das Wasser herein.
Nur Wochen vor dem Zerfall des Regimes im August 2021 hat eine australische Planungsfirma als Abschluss einer dreijährigen Studie empfohlen, einen neuen Tunnel zu bauen, weiter unten im Tal, zwölf Kilometer lang. Die Kosten schätzen sie auf 16 Mil­liar­den Euro. Der alte Tunnel sei so beschädigt, dass es sinnlos sei, ihn zu reparieren. Doch Summen wie diese sind im neuen Afghanistan, geführt von einer Taliban-Regierung, die von der Welt nicht anerkannt wird, ein Traum, der in weite Ferne gerückt ist. Weil die Taliban nicht einmal das Geld haben, um den Tunnelwächtern vernünftiges Essen zu liefern, gibt es fast jeden Tag das gleiche Gericht. Reis mit Bohnen und ein wenig zähes Fleisch. Es fehlt Geld für Diesel und Ersatzteile. Ingenieur Schekib redet ungern darüber. Er kennt den Tunnel wie kein anderer. Allen Stolz zieht er aus seiner Arbeit, aber am drohenden Einsturz des Tunnels kann er nichts ändern.

Der Junkie. Den ganzen Tag über war auf der Rampe vor dem Tunnel das Geschrei des gestrandeten Toyota-Fahrers zu hören. Es ist der Gleiche, der am Morgen den Ingenieur um Hilfe angefleht hatte. Ein Anstreicher aus Kundus. Sandalen an den nackten Füßen. Orange Hennafarbe an den Sohlen, die nach dem Glauben der Dörfer im Tal vor Kälte schützen soll. Noch nie ist der Anstreicher in den Bergen gewesen. Stundenlang hat er sich nicht getraut, aus dem Wagen zu steigen, aus Angst, sich Erfrierungen zuzuziehen. »Helft mir!«, schrie er aus dem geöffneten Fenster. »Ich erfriere!«
Doch niemand half ihm, weil er jeden beschimpfte, der näher kam. Es blieb unklar, warum er so unvorbereitet den Sa­lang überqueren wollte, mal erzählte er die eine Geschichte, mal die andere. Sein Blick war unstet, seine Sprache vernuschelt. »Ein Junkie«, sagt der Mechaniker abschätzig über ihn, der Einzige, der direkt am Tunnel eine kleine Werkstätte betreibt. Mit dem Anbau von Drogen haben die Taliban ihren Krieg gegen die Amerikaner finanziert, doch jetzt drohen diese Drogen ihr eigenes Land zu zerstören. Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, an denen das Elend der Abhängigen so entsetzlich ist wie in Afghanistan. Man sieht sie in Kabul und Kandahar, in Kundus und Masar-i-Scharif. Fast jedes Dorf in Afghanistan leidet unter einer steigenden Zahl von Abhängigen. Dann hat sich der Mechaniker des Tobenden doch erbarmt und seinen Reifen geflickt. Der Mann hatte immer noch kein Benzin, die nächste Tankstelle ist fern unten im Tal, so beschloss er, mit dem Wagen den vereisten Berg herunterzurutschen. Es wurde wieder still am Sa­lang.

Der Mechaniker. Er heißt Sajed Dschamil Kabiri. Wer am Tunnel liegen bleibt, ist auf ihn angewiesen. »Ich verabscheue die Arbeit im Tunnel«, klagt der 31-Jährige. »Ich hasse es, da drin oft nicht richtig atmen zu können.« Tagsüber steht er im ölverkrusteten Overall am Straßenrand und harrt der Pannen. Neben dem Verrückten hatte er heute nur zwei andere kleinere Reparaturen. Eine verklemmte Gangschaltung und eine defekte Bremse. 500 Afghani hat er heute verdient, umgerechnet fünf Euro. Jetzt, nach Feier­abend, sitzt er in sauberen Jeans und Pulli im hinteren Teil seines Containers, wo er auf sechs Quadratmetern lebt. Eine Duschwanne ist sein Bad, ein kleiner Gasherd seine Küche, ein Fernseher, unter dem Konserven mit verschimmelten Essensresten stehen, sein Wohnzimmer.
Acht Jahre, erzählt er, ist er nun schon auf dem Berg. Auch er versuchte immer wieder, ihn zu verlassen. Das letzte Mal vor vier Jahren, als er sich für einige Monate in den Iran schmuggeln ließ, wo er sich als Mechaniker verdingte, aber dann wieder abgeschoben wurde. »Mein Vater hat mich verheiratet«, sagt er. Mit der Frau, die die Familie für ihn ausgesucht hat, hat er nun zwei Kinder, die unten im Tal leben, aber er liebe die Frau nicht. Die Ausrichtung der Hochzeit und das viele Brautgeld haben ihm Schulden eingebracht, die er noch immer abbezahlen muss. Er ist als Mechaniker nur deshalb konkurrenzlos, weil es die anderen in der Höhe nicht lange aushalten, sagt er.
Er hat für sich in einer TV-Sendung einen Trick entdeckt. Jede Nacht, bevor er sich auf seine Matte legt, stellt er einen Topf voll Wasser auf die Heizspirale. Der Wasserdampf reichere die Luft in seinem Container dann allmählich mit Sauerstoff an, glaubt er. »Es funktioniert. Wenn ich das vergesse«, sagt er, »kann ich nicht schlafen.«
Nie in den vergangenen zwei Jahrzehnten war das Reisen in Afghanistan so sicher, wie es unter der neuen Taliban-Herrschaft ist. Zum ersten Mal gibt es keine Kämpfe mehr, keine Sprengsätze, mit denen die Taliban die Straßen vermint hatten. Überall im Land haben sich die Taliban darangemacht, die Spuren des Krieges zu beseitigen. Die meisten Militärstützpunkte, die bisher die wichtigsten Straßen säumten, sind geschleift. Viele der Explosionskrater, die die Bomben der Taliban gerissen hatten, haben sie eingeebnet. Die Trucker, die am Sa­lang durchkommen, berichten, dass sie keine Bestechungsgelder mehr zahlen müssten. Unter der alten Regierung hatten sie das an den Checkpoints alle paar Kilometer tun müssen. Jetzt gibt es keine Checkpoints mehr. Aber genauso wie sie die Sicherheit preisen, klagen sie über die wirtschaftliche Not. Die meisten der Fahrer sind mittlerweile arbeitslos, ein Großteil von Afghanistans Lastwagenflotte ist stillgelegt. Es gibt keine Aufträge mehr.

Der Wettermann. Ihn sieht und hört man nicht. Farsad Faramehr, 26, ist im Erdgeschoss des Gebäudes untergebracht, in dem der Ingenieur eine Etage höher in seinem Sofa-Salon logiert. Sie begegnen sich selten. Er ist der letzte Mitarbeiter der Wetterstation. Bis zum Sturz der Regierung waren sie zu viert. Die Station galt als extrem wichtiges Frühwarnsystem, nachdem zehn Jahre zuvor mehr als 200 Menschen bei einem Lawinenunglück getötet worden waren. »Ich möchte es gleich vorweg sagen«, erklärt Faramehr, »ich habe nicht viel Ahnung vom Wetter.« Acht Monate zuvor hatte er sich beim Luftfahrtministerium um einen IT-Job beworben, er ist ein studierter IT-Mann, doch dann schickten sie ihn hierher, auf den Sa­lang, die exponierteste Wetterstation Afghanistans, die wichtigste auch, bisher.
Seine Instrumente stehen auf dem verschneiten Flachdach, die meisten nur noch halb funktionsfähig. Ein Niederschlagsmesser, ein Maximum-Minimum-Thermometer. Ein Psychrometer zur Bestimmung der Luftfeuchtigkeit, die Glaskugel eines Heliografen, der die Sonnenscheindauer misst, ein Windmesser. Das ist der Radius seines Lebens. Mehrmals am Tag verlässt er sein Zimmer, steigt die wackelige Metalltreppe hoch, nimmt die Daten ab und kehrt wieder in sein Zimmer zurück. Das hat ein einziges Fenster, durch das er den ganzen Tag auf eine weiße Bergwand sieht. »Das Leben hier«, sagt er, »ist ein sehr einsames.« Den Kontakt mit den Tunnelarbeitern vermeidet er. Sie seien zu ungebildet.
Was er über das Wetter weiß, hat er von den Meteorologen gelernt, die die ersten Monate mit ihm hier oben arbeiteten. Doch dann kamen die Taliban, und die Wissenschaftler nutzten die Chance, ins Ausland zu fliehen. »Sie haben den Amerikanern am Flughafen in Kabul gesagt, die Taliban verurteilten Wettervorhersage als Wahrsagerei.« Was Unsinn sei. Aber jetzt lebten sie in den USA und er in einer kalten Kammer am Sa­lang. »Ich bin so müde«, sagt er. »Es ist nicht das Schlimmste, dass ich mein Gehalt nicht bekomme. Das Schlimmste ist, dass ich für vier arbeite.« Alle vier Stunden sollten die Instrumente abgelesen werden, auch nachts, doch gibt es dafür nur ihn.
Früher haben sie die Daten ins Ministerium nach Kabul geschickt, das sie dann in die Türkei weiterreichte, wo sie ein Institut zu einer Wettervorhersage verarbeitete. Das geschehe jetzt nicht mehr. Und in Kabul sei niemand mehr, der in der Lage sei, die Daten zu verstehen. Überhaupt hat er den Kontakt zur Zentrale fast ganz verloren. So liefern sie ihm kein Feuerholz mehr und auch kein Essen. Die Tunnelarbeiter geben ihm abends etwas ab, aber oft ist auch für sie zu wenig da. Häufig geht er hungrig zu Bett. Zweimal schon, sagt er, habe er seine Kündigung eingereicht, zweimal habe ihm die Zentrale eine Ablösung versprochen. Sie kam nie. Und seinen Posten einfach so verlassen will er nicht. Er will nicht verantworten, dass später in der Historie des afghanischen Wetters eine Lücke klafft.
Er ist eigentlich Dichter, es heißt, sogar der bekannteste der Provinz Salang. Aber auch da ist er vom Pech verfolgt. Als die Taliban den Sa­lang einnahmen, Faramehr wie alle geflohen war, stahlen sie seinen Laptop, auf dem er das Manuskript seines ersten Buches gespeichert hatte. Fünf Jahre habe er daran geschrieben, sagt er. Sein Lebenswerk. Nur die Gedichte, die er bis dahin auf Face­book veröffentlicht hatte, sind ihm geblieben, aber seine besten habe er nie auf Fac­ebook gestellt. Er arbeitet im Nichts, für fast gar nichts, mit überhaupt nichts. Das ist die aktuelle Stimmungslage des Farsad Faramehr.
Der von den Taliban entsandte Ingenieur ist am nächsten Morgen grußlos entschwunden. »Ich weiß nicht, wozu er hier war«, rätselt Schekib, der Ingenieur. »Ich habe keine Angst vor denen. Die Taliban brauchen uns. Sie brauchen unsere Erfahrung.« Die Nacht hat circa 40 Zentimeter Schnee gebracht, vor allem auf der anderen Seite des Tunnels, auf den Südhängen des Sa­lang. Der Ingenieur bekommt Meldungen von einem Dutzend stecken gebliebener Lkw. Er befiehlt alle Männer an die Straße, um Kontrolle über den Verkehr zu behalten. Am Portal sind die Wächter zudem angewiesen, jeden zwanzigsten Wagen anzuhalten und dessen Fahrer zu befragen, wie die Lage im Tunnel ist, ob die Strecke blockiert ist, wie stark der Wind auf der anderen Seite weht.
Ein Konvoi von Taliban-Kämpfern hält im Schneetreiben am Tunnelportal. Pinkelpause. Aus Kabul kommend, eskortieren sie zwei weiße UN-Geländewagen. Schwarz Uniformierte steigen aus den Fahrzeugen, Mitglieder der »Istischhad-Armee«, der Selbstmordattentäter-Einheit der Taliban. Die Hakkani-Fraktion der Taliban soll in den letzten Jahren bis zu 4000 Selbstmordattentäter in speziellen Lagern ausgebildet haben, sie spielten eine bedeutende Rolle im Krieg. Sie gelten als Elitekämpfer. Sie kaufen bei den Händlern Energydrinks, schlittern fröhlich über den Schnee, behängt mit modernen US-Waffen, lachen, bewerfen sich gegenseitig mit Schneebällen, rasen dann der UN-Delegation hinterher. Kurz nach der Selbstmordtruppe stoppt an derselben Stelle ein Wagen mit jungen Frauen. Eine vornehmere Familie. Auch sie suchen einen Ort, um sich zu erleichtern, es gibt am Tunnel kein öffentliches Klo, sie schlittern den Pfad entlang, den eben auch die Taliban gingen, kichernd, auf Stöckelschuhen.

Die Kettenkinder. Sie sind plötzlich wieder da. Zwei Dutzend von ihnen. Sie reisen mit den Lkw über den Berg, je nach Schneefall. Als sie heute Morgen in ihren Dörfern weit unten im Tal über den Gipfeln die grauen Schneewolken sahen, haben sie sich von Fahrern hierhin mitnehmen lassen. Kettenkinder haben auf dem Sa­lang immer freie Fahrt. Dschalal und Dschalalhuddin sind wieder unter ihnen. Zarte Kindergesichter, Dschalal mit blauen Augen, Dschalalhuddin mit Sommersprossen.
»Brauchen Sie Hilfe?!«, ruft Dschalal und läuft auf die ersten Lkw zu, Dschalalhuddin hinterdrein. Ein Mehltransporter, unterwegs von der usbekischen Grenze nach Kabul. »Das ist ein Kind!«, stöhnt der Beifahrer, der aus dem Fenster auf Dschalal hinuntersieht. »Mit einem Kind werden wir Zeit verlieren!« Aber Dschalal nimmt dem Fahrer die Kette ab, greift in seine Hände, als der die Kette auf dem Boden ausbreiten will, nimmt sie ihm ganz ab, zieht sie über den Lkw-Reifen. Schließlich lässt ihn der Fahrer machen, beeindruckt von der Entschiedenheit des Kleinen. Dschalal kriecht in den Radkasten, zwängt sich zwischen die Doppelreifen, verschwindet dort fast ganz, zieht die Kette von allen Seiten stramm. Dschalalhuddin, der etwas jünger ist, bewundert Dschalal. Er ist ein Verkaufstalent, voller Zorn, Witz und größter Zähigkeit.
Die nächsten Stunden arbeiten sich die Jungs an der Lkw-Kolonne entlang; zwischendurch wärmen sie sich die Hände nur kurz an den Auspuffrohren. Die Konkurrenz ist groß. Am zweiten Truck, der Kohle nach Kabul fährt, drängt ein älterer Mann Dschalal von der Kette ab. »Ich kann es besser als dieses Kind!«, ruft er zum Fahrerhaus hinauf. »Du Arschloch!«, flucht Dschalal. Eine Weile ringen sie um die Kette. Am Ende dürfen sie sich die Einnahmen teilen. An vielen Lastern finden sich andere Kinder, die an den Ketten zerren. Pro Wagen verdienen sie zwischen einem und zwei Euro. Jeder Laster bedeutet eine halbe Stunde harte Arbeit. Die Preise, klagen die Kinder, hätten sich seit den Taliban halbiert. Seit Generationen schicken die Familien im Tal ihre Kinder auf den Sa­lang, vermutlich seit es den Tunnel gibt. Früher zogen sie die Ketten mit bloßen Händen auf, die Fäuste blau gefroren. Die Kinder von heute tragen dünne Handschuhe – der Fortschritt in Afghanistan.
Fast alle Kettenkinder gehen in ihren Dörfern im Tal zur Schule. Doch im Winter sind diese geschlossen, vier Monate lang sind Ferien, die Gebäude lassen sich nicht heizen. Die Tunnelwächter tolerieren sie. »Der Verkehr würde ohne die Kinder stocken«, sagt der Ingenieur. »Viele Fahrer können mit den Ketten nicht um­gehen.« Der Preis, den die Kinder zahlen, ist hoch. Früh bekommen sie Schulter- und Rückenprobleme. Zwei Freunde von Dschalal und Dschalalhuddin sind letzten Winter ums Leben gekommen – von Lastwagen überrollt. Sie waren elf und vierzehn Jahre alt.
Am Ende eines langen Tages haben Dschalal und Dschalalhuddin 48 Ketten aufgezogen, zwölf Trucks. Es ist wieder dunkel geworden, die Temperaturen sind auf minus 20 Grad gesunken. Die beiden springen auf die Heckstange eines anfahrenden Lastwagens, grinsen sich an und verschwinden im Staub des Tunnels Richtung Süden.
Nach Einbruch der Dunkelheit steht der Ingenieur in seinem Zimmer noch lange nachdenklich am Fenster. Er weiß noch nicht, dass es seine letzten Tage auf dem Sa­lang sind. Das von den Taliban geführte Ministerium in Kabul hat seine Kündigung beschlossen. Fast sein gesamtes Team wird entlassen werden. Einige seien zu alt, zu wenig leistungsfähig, andere zu korrupt, heißt es vordergründig. Vermutlich trauen die Taliban der alten Mannschaft einfach nicht.
»Morgen wird ein anstrengender Tag«, sagt der Ingenieur. »Wir werden viele Unfälle haben.« Denn bis dahin wird die Straße zu Eis gefrieren, das weiß der Ingenieur, der kennt das Wetter hier schon so lange. Er geht unruhig ins Bett. So wie er es oft in den letzten 13 Jahren getan hat, das Funkgerät angeschaltet neben sich – falls abermals ein Lkw liegen bleibt. Der Himmel draußen ist sternenklar.