Der große Satz
von Björn Finke, Cerstin Gammelin, Claus Hulverscheidt, Alexander Mühlauer, Jan Schmidbauer, Jürgen Schmieder und Martin Wittmann
Süddeutsche Zeitung vom 03.07.2021
Die geplante Einführung einer globalen Mindeststeuer von 15 % für international tätige Unternehmen soll die Gewinnverschiebung in Niedriglohnländer durch eine einheitliche Untergrenze unterbinden. Der Artikel schildert die Geschichte der Idee, die politischen Allianzen, die zu ihrer Realisierung notwendig waren, mögliche Folgen für verschiedene Wirtschaftsstandorte und Kritik.
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Der große Satz
In ein paar Jahren wird einem, wenn man nach dem Sommer 2021 in Venedig gefragt wird, womöglich nicht als Erstes das zwischenzeitliche Ende der Pandemie oder die Rückkehr der Kreuzfahrtschiffe einfallen, sondern der Beginn einer Revolution. Es ist keine blutige oder scheppernde Revolution, und die Kämpfer, die sie durchsetzen, sind nicht unbedingt die wildesten und schillerndsten. Und doch könnte da im biederen Kreis etwas Bombastisches passieren. Köpfe werden nicht rollen, eher Umzugslaster und Rubel, Euro und Dollar sowieso, denn darum geht es hier: das Geld der Welt.
Es sind die Finanzminister der zwanzig führenden Industrie- und Schwellenländer, der G 20, die mutmaßlich bei ihrem Treffen am kommenden Wochenende eine Reform beschließen werden, die aufregender ist, als der nüchterne Name „globale Mindeststeuer“ vermuten lässt. In dem Titel stecken bereits die drei groben Merkmale dieser finanziellen Neuordnung: In 130 Ländern auf allen Kontinenten soll es künftig für Konzerngewinne einen Steuersatz geben, den jedes große, international tätige Unternehmen mindestens zahlen muss. 15 Prozent.
Das Prinzip klingt erst mal einfach, und die Auswirkungen sind auf den ersten Blick eher abstrakt. Wie kompliziert das Prinzip aber tatsächlich ist, und wie konkret die Auswirkungen sind – um das herauszufinden, muss man an den Orten und bei den Menschen nachfragen, die entscheidend sind für diesen Schritt: in Washington, wo die neue US-Finanzministerin ausgerechnet einen der blassesten deutschen Politiker glänzen lässt; in Brüssel, wo es nie einfach mal einfach ist; und in Walldorf in Baden-Württemberg, wo die Menschen den Softwarekonzern SAP brauchen, selbst wenn sie gar keinen Computer haben.
Für jeden dieser Orte hat die Revolution eine andere Bedeutung. Für Dublin heißt sie: ein wenig Angst zu bekommen.
Von Schlupf- und Haushaltslöchern
Dublin ist für Touristen eine schöne Stadt, für Konzerne ist sie eine überaus attraktive. Jeder zehnte der weltweit 60 000 Facebook-Mitarbeiter ist in der irischen Europazentrale beschäftigt. Google hat hier 8000 Mitarbeiter. Auch Apple, Twitter und Linkedin steuern ihr Europa-Geschäft von Dublin aus. Hinzu kommen Standorte von Amazon, Paypal, Etsy und Airbnb.
Der Grund: Auf der irischen Insel müssen Unternehmen nur 12,5 Prozent an Steuern zahlen, viele multinationale Firmen unterm Strich sogar noch deutlich weniger. „Die 12,5 Prozent sind hier ein Glaubensgrundsatz“, sagt Gary Murphy, Professor der School of Law and Government an der Dublin City University. Er sitzt im Home- Office, also im Wohnzimmer und spricht in die Kamera. Man könnte auch sagen: Die 12,5 Prozent haben Irland gerettet. Murphy, 52, kann sich nämlich an eine Zeit erinnern, als seine Heimat als Armenhaus Europas galt. Anfang der 1980er-Jahre, der Steuersatz für Unternehmen lag damals bei 50 Prozent, lebte Murphy noch in seiner Heimatstadt Cork im Süden Irlands. Eine düstere Zeit, sagt er heute, schrecklich viele Arbeitslose. Fabriken mussten dort schließen, erst die von Dunlop, dann die von Ford. Dann wurden die Steuern gesenkt, und es kamen neue Firmen, solche, die keine Fabriken mehr brauchten.
In der irischen Politik gibt es daher einen parteiübergreifenden Konsens, dass an den 12,5 Prozent nicht gerüttelt werde. Sogar linke Oppositionsparteien wie Labour oder Sinn Féin seien da ganz auf Regierungslinie, sagt Murphy. Niemand will Wählerstimmen riskieren. Und schon gar keine Jobs. [Anderes Medium] hat ausgerechnet, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze bei internationalen Unternehmen in Irland, das keine fünf Millionen Einwohner zählt, innerhalb des vergangenen Jahrzehnts fast verdoppelt hat – auf 257 000.
Etliche dieser Unternehmen nun haben einen globalen Jahresumsatz von mehr als 750 Millionen US-Dollar. Somit zählen sie zu den weltweit Tausenden Konzernen (die OECD spricht von 8000, andere Institutionen eher von etwa 2300), die künftig mindestens 15 Prozent Steuern in jedem Land entrichten sollen, in dem sie eine Fabrik, eine Niederlassung oder ein Vertriebszentrum betreiben. Die Konzerne müssen künftig nachweisen, wie viel sie in einzelnen Ländern tatsächlich verdienen und welchen Anteil des Gewinns sie dort ans Finanzamt überwiesen haben. Liegt der Steuersatz unter dem neuen Mindestwert von 15 Prozent, muss der Konzern die Differenz im Heimatland nachversteuern. Oft sind das die USA: Schlupflöcher schließen, um Haushaltslöcher zu schließen.
Der irische Finanzminister Paschal Donohoe müsste sich also überlegen, ob er von Apple weiterhin nur die sagenhaften 12,5 Prozent verlangt und den Rest der Steuererlöse der Kollegin Janet Yellen in Washington überlässt; oder ob es nicht schlauer wäre, die gesamten 15 Prozent gleich selber einzusacken. Motto: Muss das Unternehmen ja eh zahlen.
Die Wirtschaft ihrerseits könnte sich bei der Gelegenheit neue Standorte suchen. Früher waren für die Unternehmen, wenn sie sondierten, wo sie etwa ihre Europazentrale ansiedeln sollten, Fragen der Steuerlast alles entscheidend. Künftig zählt: alles andere. Irland etwa könnte weiter damit punkten, dass potenzielle Mitarbeiter englische Muttersprachler sind, und Dublin – im Gegensatz etwa zu London – auf EU-Territorium liegt. Frankfurt beispielsweise hätte keinen Steuernachteil mehr und könnte auf die Lage mitten in Europa, die exzellente Verkehrsanbindung und die guten Universitäten verweisen. Pisa könnte den schiefen Turm anführen, Pilsen sein Bier, Venedig seine gute Anbindung für Kreuzfahrtschiffe.
Wohin sie auch zögen: Wenn die Konzerne Dublin verließen, würde sich die Stadt radikal ändern. Sie würde wieder billiger. Aber es würden eben auch viele Arbeitsplätze verschwinden. Wirtschaftsprofessor Murphy sagt: „Viele Menschen sind nervös, manche haben Angst.“
Die irische Regierung hat schon mal vorsichtshalber ausgerechnet, was dem Fiskus an Steuereinnahmen entgehen würden, sollte der Steuersatz für Unternehmen tatsächlich auf 15 Prozent steigen. Das Finanzministerium in Dublin geht bis 2025 von einem Verlust von zwei Milliarden Euro pro Jahr aus – ein Minus von gut 20 Prozent.
Bei der Vorstufe der G-20-Entscheidung, bei der 139 Länder bis Donnerstag über die Mindeststeuer berieten, zählte Irland (wie übrigens auch die beiden EU-Länder Estland und Ungarn) dann auch zu den lediglich neun Abweichlern, die vorerst nicht bei der Reform mitmachen wollen.
Die 700-Milliarden-Verschiebung
International tätige Großunternehmen verschieben also Gewinne in Niedrigsteuerländer, um sie den Finanzämtern ihrer Heimat zu verwehren. Eine Studie der Universitäten Berkeley und Kopenhagen beziffert das weltweite Gesamtvolumen auf mehr als 700 Milliarden Dollar (Stand 2017). Allein Deutschland musste demnach auf umgerechnet fast 20 Milliarden Dollar an Unternehmensteuereinnahmen verzichten.
In den USA ist das Problem (und damit, wie sich zeigen wird, auch der Wille zur Lösung) am größten: Dort zahlten im vergangenen Jahr 55 der 500 umsatzstärksten Unternehmen – vom Sportartikelhersteller Nike bis zum Logistikriesen Fedex – keinen einzigen Cent an die Regierung in Washington, obwohl sie zusammen viele Milliarden Dollar an Gewinnen erzielten.
Das alles ist bisher: völlig legal. Natürlich gibt es Regelungen. Aber das Konzept dahinter ist nicht unbedingt auf dem neuesten Stand. Es ist 100 Jahre alt.
Zwar gab es auch seinerzeit schon Unternehmen, die Tochterfirmen im Ausland hatten. Diese wurden aber nicht gegründet, um Steuern zu sparen, sondern um neue Märkte zu erobern. Und über die Jahrzehnte änderte sich radikal, was Konzerne anbieten. Damals lieferten die Firmen Stahlträger, Glühbirnen oder Webstühle, Dinge also, die man anfassen, sehen – und besteuern – konnte. Heute betreiben die größten Unternehmen der Welt Internetsuchmaschinen und soziale Netzwerke, sie sind wabernde, staatenlose Gebilde (ohne Fabriken), die für einzelne Regierungen, geschweige denn lokale Finanzämter, längst nicht mehr zu fassen sind. So sind es dann auch vor allem die Tech-Giganten aus den USA, die sich dem Fiskus ihrer Heimat entziehen und in Länder mit niedrigeren Steuersätzen abwanderten. Die freuen sich.
Wer als Erster unten ist
Wie vorteilhaft es sein kann, wenn sich ausländische Großkonzerne im eigenen Land niederlassen, hat nicht nur Irland erkannt. So haben sich die Staaten über die Jahre ein Wettbieten wie im Auktionshaus geliefert, nur dass die Zahlen immer kleiner wurden. Gewonnen hatte, wer die niedrigsten Unternehmensteuersätze vorschlug. Das hat zur Folge, dass Großkonzerne heute, relativ gesehen, oft weniger zur Finanzierung des Allgemeinwohls beitragen als der Metzger um die Ecke. Noch 1985 lag der durchschnittliche Firmensteuersatz im Industrieländer-Klub OECD bei fast 45 Prozent. Heute ist er mit etwa 21 Prozent nicht einmal mehr halb so hoch. Zwischen 2000 und 2018 nahmen weltweit 76 Länder ihre Sätze teils deutlich zurück, manche gleich mehrfach. Auch Deutschland war unter den aggressiven Steuersenkern.
„Die einzigen Nutznießer dieses Wettlaufs nach unten“, so hat der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz jüngst gesagt, „waren die reichsten multinationalen Konzerne.“
Denen reichte das offizielle Angebot der Länder, so gut es auch sein mochte, freilich nicht. Sie haben sich zusätzlich eine Trickkiste zusammengebastelt. Lange Zeit war es etwa üblich, dass US-Unternehmen die europäischen Rechte an ihrem Markennamen auf eine Tochter übertrugen, die beispielsweise in Irland oder auf Malta sitzt. Verkaufte die Deutschland-Filiale nun Turnschuhe oder Kaffee to go, überwies sie für die Nutzung des Firmennamens Lizenzgebühren an die Schwesterfirma in Dublin – oft zufällig genau in der Höhe der Gewinne, die sie in der Bundesrepublik erzielt hatte. Statt knapp 30 Prozent wurden auf diese Erträge damit nur noch 12,5 Prozent an Körperschaftsteuer fällig – in Wahrheit oft sogar nur vier, fünf oder acht, wenn man alle zusätzlichen Bonbons einrechnet, mit denen die irische Regierung ausländische Konzerne beschenkt.
Wer zuletzt lacht
Angesichts solcher Praktiken sollte man meinen, dass die Weltgemeinschaft schon seit Langem an einer Lösung des Problems arbeitet. Doch das Gegenteil war der Fall: Als Abgesandte der Regierung von US-Präsident Barack Obama bei der OECD schon einmal laut über eine globale Mindeststeuer sinnierten, wurden sie von Kollegen der Partnerstaaten, insbesondere den britischen, mit Häme überschüttet. „Die haben uns einfach ausgelacht“, erinnerte sich Danielle Rolfes, damals Steuerjuristin im US-Finanzministerium, später.
Nun ist Obamas damaliger Vize, Joe Biden, US-Präsident. Und der macht Ernst. Weil er es braucht: das Geld der Welt.
Die OECD, die die Reformarbeiten koordiniert hat, rechnet bei einem Steuersatz von 15 Prozent mit jährlichen Mehreinahmen der teilnehmenden Staaten von insgesamt weit mehr als 100 Milliarden Dollar. Andere Untersuchungen, etwa jene der Wissenschaftler Javier Garcia-Bernardo und Petr Janský, prognostizieren gar zusätzliche Erlöse von deutlich über 200 Milliarden. China käme demnach auf 32 Milliarden, Deutschland auf knapp 20 Milliarden Dollar mehr. Und die USA könnten in diesem Szenario mit einem Plus von fast 84 Milliarden Dollar rechnen.
Biden ist, anders als sein Amtsvorgänger Donald Trump, einer globalen Mindeststeuer gegenüber nicht nur ideologisch aufgeschlossen, er muss auch irgendwie seine geplanten Wirtschafts- und Sozialreformen bezahlen: die Sanierung von Straßen, Brücken und Schienenwegen, die Einführung eines Kindergelds und einer Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Alles zusammen soll in den kommenden acht Jahren bis zu vier Billionen Dollar kosten. Biden will deshalb nicht nur den Körperschaftsteuersatz in seinem Land von 21 auf 28 Prozent anheben, sondern auch die schon bestehende US-Mindeststeuer für Auslandsgewinne amerikanischer Firmen von heute 10,5 auf 21 Prozent verdoppeln.
Das alles wird, wenn überhaupt, in Washington politisch nur zu vermitteln sein, wenn Biden darauf verweisen kann, dass auch in wichtigen anderen Ländern eine Mindeststeuer eingeführt wird – und US-Firmen nicht befürchten müssen, gegenüber ausländischen Konkurrenten ins Hintertreffen zu geraten. Also schiebt der Präsident die globale Mindeststeuer an. Eine Zeitenwende.
Dabei ist die Idee nicht neu. Aber sie brauchte schon auch fleißige Politiker, die immer wieder an sie erinnerten und für sie warben. Einer der fleißigsten kommt aus Deutschland.
„We know, Olaf, that’s your baby“
Olaf Scholz ist im März 2018 ins Bundesfinanzministerium eingezogen, kurz darauf legen ihm seine Mitarbeiter ein Dossier zur internationalen Steuerpolitik vor. Einer der zentralen Punkte: die globale Mindeststeuer, eine Idee aus den 50er-Jahren, für die sich schon Wolfgang Schäuble erwärmte und die wegen der Blockade der USA, Großbritanniens und einiger anderer seit Jahren nicht vom Fleck kommt. Deutschland, so erklären die Beamten ihrem neuen Minister, habe die Chance, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und damit bei vielen Ländern der Welt zu punkten. Scholz gefällt die Idee – und geht mit ihr auf Tour.
Ein Jahr später, das Treffen der G-20-Finanzminister in der japanischen Hafenstadt Fukuoka. Als die Beratungen vorbei sind, steht Scholz in Shirt und Freizeithose in der Bar des Tagungshotels und sagt den deutschen Journalisten, er sei sehr zufrieden. Man habe, auch in vertraulichen Runden, die Idee vorangebracht. Die Welt verspüre doch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, das müsse ja nun auch der Letzte gemerkt haben. Der deutsche Vizekanzler lächelt herausfordernd: Das hättet ihr mir wohl nicht zugetraut?
Im Februar 2020, wieder G 20, diesmal in Riad. Der deutsche Finanzminister warnt vor weiteren Verzögerungen. „Alle haben verstanden, dass es schlecht wäre, die Dinge noch einmal ins nächste oder übernächste Jahr zu vertagen“, sagt er. Was sich als beinahe hellseherisch erweist angesichts der Rekordgewinne, die Amazon, Google und Co. in den folgenden Pandemiemonaten einfahren sollten.
Anfang Juni 2021 dann der Höhepunkt. Scholz ist in London, die führenden Staaten der westlichen Welt, die G 7 diesmal, beraten in der britischen Hauptstadt. Der deutsche Finanzminister trifft auch seine neue US-Kollegin Janet Yellen, die so neu nicht ist, denn sie hatte schon als US-Notenbankchefin regelmäßig an den Treffen der G 7 und der G 20 teilgenommen. „We know Olaf, that’s your baby“, lächelt Yellen ihrem Gegenüber zu, als sie über die Mindeststeuer sprechen, sie lädt ihn ein nach Washington.
Die große Bühne, die große Idee, die große Wertschätzung – Scholz scheint am Ziel zu sein. Aber was bedeutet die globale Mindeststeuer für ihn und seine Partei wirklich? Würden sich persönliche Glücksmomente bei Umfragen in Stimmenzuwachs auszahlen, dann hätte die SPD an diesem 4. Juni jedenfalls die Führung in der Wählergunst übernehmen müssen. Aber am Ende bleibt bei den Deutschen nicht Scholzens Erfolg einer Unternehmensteuer von mindestens 15 Prozent hängen. Was hängen bleibt, sind 17 Prozent – es sind die mickrigen Zustimmungswerte für die SPD, die kurz darauf von den Umfrageinstituten gemessen werden. Scholz könnte als tragische Figur in die Geschichte dieser Revolution eingehen. Alles erreicht. Nichts gewonnen.
Luxusprobleme
Die ganze Revolution wäre nur eine halbe, wenn sie nicht noch mit einer zweiten Waffe durchgesetzt würde. Für gut 100 der betroffenen Unternehmen bleibt es nicht bei der 15-Prozent-Mindeststeuer, es kommt noch eine Neuregelung hinzu. Die Konzerne sollen künftig außer an ihren Firmensitzen auch in jenen Ländern Steuern zahlen, in denen sie zwar Einnahmen generieren, aber gar keine Betriebsstätten unterhalten. Das betrifft zum Beispiel Facebook, das seine Dienste auch in anderen Ländern anbieten kann, ohne dort Mitarbeiter beschäftigen zu müssen.
Statt dass also etwa die Gewinne aus Geschäften in Deutschland weitgehend ins Steuerparadies Luxemburg verschoben würden, könnte Olaf Scholz künftig einen Teil der Steuererlöse für den Bundeshaushalt einplanen. Voraussetzung: Das Unternehmen macht weltweit mehr als 20 Milliarden Dollar Umsatz und behält von jedem erlösten Dollar mindestens zehn Cent als Gewinn ein. Ein Teil der Steuerlöse aus Erträgen oberhalb dieser Marke soll künftig anteilig auf sämtliche Länder verteilt werden, in denen der Konzern Geschäfte macht.
Auf wen zielen diese Bedingungen nun ab? Schon mal nicht auf die üblichen Verdächtigen: Autohersteller können von zehn Prozent Umsatzrendite meist nur träumen. Die Marke mühelos knacken neben den US-Tech-Konzernen eher große Pharmaunternehmen oder die Spitzenvertreter der Luxusgüterindustrie wie LVMH Moët Hennessy-Louis Vuitton. Um zu verhindern, dass sich ausgerechnet Amazon aus der Regelung herausmogelt, sollen Firmen auch dann einbezogen werden, wenn sie nur in Teilbereichen die Zehn-Prozent-Schwelle übertreffen. Bei Amazon ist das das Cloud-Geschäft, die Datenspeicherung also, wo von jedem Dollar Umsatz etwa 30 Cent in der Firmenkasse verbleiben.
In Deutschland sind nach einer Aufstellung der internationalen Anwaltssozietät Clifford Chance mutmaßlich erst einmal drei Firmen von der Regelung betroffen: der Chemieriese BASF, der Konsumgüterhersteller Henkel – und der Softwarehersteller SAP. Der sitzt in Baden-Württemberg. Und dort ist zu sehen, was die vielen Steuern, von denen hier die Rede ist, eigentlich bedeuten. Nicht für die Politik, die Konzerne, die Staaten – sondern für die Menschen.
Über und unter Nachbarn
Walldorf, eine Kleinstadt in der Nähe von Heidelberg. Etwas mehr als 15 000 Menschen wohnen hier. Dafür ist allerdings viel geboten: Fünf Schulen gibt es, zwölf Kindertagesstätten, zwei Autobahnanschlüsse, ein Erlebnisbad, ein Stadion, eine Kartbahn, einen Ikea. Und den vielleicht wertvollsten aller Dax-Konzerne.
Dass die Software-Firma SAP ihren Hauptsitz in Walldorf hat, ist vor allem dem Zufall geschuldet. 1977, als in den meisten Haushalten noch kein einziger Computer stand, wandte sich ein Mann namens Dietmar Hopp an die Stadtverwaltung auf der Suche nach einem Grundstück für seine kleine Softwarefirma. Heute steht im Walldorfer Süden, wo früher Spargel wuchs, ein gigantischer Campus, auf dem mehr als 10 000 Menschen arbeiten – und wo viel Geld verdient wird. Im Rekordjahr 2019 nahm die Stadt Walldorf mehr als 246 Millionen Euro Gewerbesteuer ein, im Corona-Jahr 2020 waren es immerhin noch 160 Millionen Euro. Welcher Anteil von SAP stammt, unterliegt dem Steuergeheimnis. Aber wenn man Otto Steinmann fragt, ob es der größte Anteil ist, wird nicht mit dem Kopf geschüttelt.
Steinmann arbeitet seit fast 40 Jahren in der Stadtverwaltung und ist gerade ein besonders gefragter Mann: Seit die Position des Bürgermeisters unbesetzt ist, führt er als Stellvertreter die Geschäfte. Er ist stolz auf seine Stadt und darauf, was hier entstanden ist. Auf die Krawatte mit dem eingestickten Walldorf-Wappen hat er auch an diesem Juni-Tag nicht verzichtet.
Bei brütender Hitze fährt man mit Steinmann durch seinen Heimatort, auf den Spuren der Gewerbesteuer. Durch Kreisel und verkehrsberuhigte Zonen geht es vorbei an Einfamilienhäusern und Geschäften. Dass Geld hier keine Mangelware ist, zeigt sich in Walldorf eher an den Details. Zum Beispiel daran, dass man auf einer Fahrt durch den Ort kein einziges Schlagloch umfahren muss. Stoßdämpfer haben hier ein gutes Leben.
Und Familien erst: Ein Kita-Platz kostet 15 Euro im Monat, eine Ganztagsbetreuung gibt es für 110 Euro. Allein für die Pädagogen, die in den Walldorfer Schulen und Kitas arbeiten, gibt die Stadt nach eigenen Angaben zehn Millionen Euro im Jahr aus, die Hälfte der gesamten Personalkosten.
Das gefällt natürlich auch den SAP-Angestellten, die in Walldorf so ziemlich alles vorfinden, was man braucht – und das auch noch günstig. SAP zahlt Steuern. Viel Steuern. Die Stadt schafft von diesem Geld Bedingungen, die einem Konzern gefallen. „Ich denke, dass die SAP weiß, was sie an Walldorf hat, und wir wissen, was wir an der SAP haben.“
SAP und Walldorf, das ist für Steinmann ein „symbiotisches Verhältnis“, wie er sagt. Man könnte aber auch sagen: Walldorf ist ganz schön abhängig von dieser Software-Firma. Kein Wunder also, dass sie auch im Walldorfer Rathaus verfolgen, wie gerade auf internationaler Bühne versucht wird, das Steuersystem zu reformieren. Auch wenn man in Walldorf noch nicht weiß, was daraus am Ende folgt. „Ob und welche Auswirkungen die Reform für Walldorf haben könnte, ist noch unklar“, sagt Steinmann. Auch beim SAP-Konzern wagen sie noch keine genauen Prognosen. „Im Detail sind viele Fragen weiterhin offen“, teilt der Konzern mit. „Infolgedessen ist derzeit keine abschließende Quantifizierung der Auswirkungen möglich.“
Ein Szenario ist: Wenn Konzerne ihre Steuern künftig stärker dort abführen, wo sie ihr Geld verdienen, könnte das für SAP, die ihre Software auf der ganzen Welt verkaufen, bedeuten, dass weniger vom großen Steuerkuchen in Walldorf verbleibt. Ob das wirklich passiert?
Wenn ja, würden das auch die Nachbarorte spüren. Behalten darf die Stadt nur etwa 20 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen, der Rest geht an den Kreis, der das Geld wiederum an alle Kommunen verteilt. Das deutsche Kommunalrecht hat durchaus einen Sinn für Gerechtigkeit. Gleichwohl ist der Anteil, der in Walldorf bleibt, immer noch beträchtlich für eine so kleine Stadt. Allein 250 Millionen Euro an eigenen Rücklagen hat Walldorf aufgebaut. Geprotzt wird freilich nicht. Was sollen denn die Nachbarn denken?
Walldorf und Wiesloch trennen gerade mal ein paar Kilometer. Die beiden Nachbarstädte teilen sich sogar den Bahnhof. Und doch reist man in eine andere Welt, wenn man nach Wiesloch fährt, zumindest was die Finanzen angeht. Wiesloch hatte früher auch mal einen verlässlichen Geldgeber: die Heidelberger Druckmaschinen AG, die ihre bis ins Detail perfektionierten Geräte in die Welt lieferte und Gewerbesteuer in Millionenhöhe zahlte. Als die Maschinen nicht mehr so gefragt waren, ging es für die Heidelberger Druck zeitweise um die Existenz. Aber auch die Stadt Wiesloch hat ein Problem, seit die Firma weniger Gewerbesteuer zahlt: Die Löcher im Haushalt wurden größer und größer. Im Jahr 2011 mussten sie alles auf den Kopf stellen, jede Ausgabe prüfen. Am Ende mussten sie sogar die Springbrunnen im Schillerpark abstellen.
Wiesloch steuert derzeit auf eine Verschuldung von 100 Millionen Euro zu. Für die Springbrunnen im Schillerpark wenigstens haben sich vor drei Jahren private Spender gefunden. Jetzt sprudeln sie wieder.
Gut? Oder gut gemeint?
Walldorf ist reich, Wiesloch nicht, und den Unterschied machen die Steuern eines großen Unternehmens aus. In Baden-Württemberg mag diese Logik zu einem First-World-Problem führen, im Rest der Welt aber ist es eine Frage von existentieller Bedeutung.
Wird die Revolution die Welt retten?
„Es ist noch kein Durchbruch, aber ein großer Fortschritt.“ Das sagt Sven Giegold über die globale Mindeststeuer, wie sie jetzt geplant ist. Er ist Europaabgeordneter der Grünen und gilt als einer der profiliertesten Streiter für mehr Steuergerechtigkeit. Der 51-Jährige war nicht nur Mitgründer von Attac in Deutschland, sondern auch der Entwicklungsorganisation Netzwerk Steuergerechtigkeit (Tax Justice Network, kurz TJN).
„Ich bin Joe Biden sehr dankbar“, sagt Giegold in seinem Eckbüro in der Brüsseler Dependance des Europaparlaments, dessen Tür bewacht wird von, warum auch nicht, zwei riesigen grünen Stoff-Eisbären. „Der Mindeststeuersatz kann helfen, den Unterbietungswettbewerb bei den Konzernsteuern endlich zu beenden.“ Doch dafür müsse er hoch genug angesetzt werden: „Es ist enttäuschend, dass Bundesfinanzminister Scholz Biden nicht bei seinem Plan unterstützt hat, einen Mindestsatz von 21 anstatt nun 15 Prozent anzustreben.“ Außerdem blieben Lücken: So sollen die Regeln nur für die größten Konzerne der Welt gelten – „allen anderen Unternehmen können Regierungen weiterhin Geschenke in Form von Niedrigststeuersätzen machen“, sagt Giegold bei einem Fruchtsalat.
Weitaus schärfer wird das Projekt von Giegolds Ex-Mitstreitern beim TJN kritisiert. „Den Entwicklungsländern nützt es nichts, wenn Amazon in den USA mehr Steuern zahlt“, sagt TJN-Direktor Markus Meinzer. Zudem habe man mit der OECD den Bock zum Gärtner gemacht – und das in gleich doppelter Hinsicht: „Die OECD wurde von den früheren Kolonialmächten gegründet und sorgt seither mit dafür, dass die ehemaligen Kolonien weiter von ihren einstigen Besatzern ausgebeutet werden“, sagt Meinzer. Darüber hinaus seien die OECD-Mitglieder, allen voran Großbritannien, selbst die wichtigsten Betreiber von Steueroasen. „Deshalb ist es kein Wunder, dass man bis heute in allen Steuervorschlägen der OECD die Fingerabdrücke der Steueroasen findet.“
Und tatsächlich: Die Auflistung der Profiteure zeigt, dass es fast ausschließlich die großen Industrie- und Schwellenländer Europas, Amerikas und Asiens sind, die sich mit der Reform die Kassen füllen würden. Das überrascht kaum, schließlich werden 80 Prozent aller internationalen Firmengewinne von Unternehmen aus gerade einmal zehn großen Industrieländern erzielt. Das erste afrikanische Land, das auf der Liste auftaucht, ist auf Platz 20 Südafrika, Nigeria folgt auf Rang 40. Die möglichen Mehreinnahmen fallen allerdings mit 1,5 Milliarden beziehungsweise knapp 400 Millionen Dollar sehr viel bescheidener aus.
Was sagt Giegold nun über die Kritik des TJN, der von ihm einst mitgegründeten Organisation? „So eine Gruppe muss Druck machen, das ist ihre Aufgabe. Doch die Mindeststeuer hilft Entwicklungsländern, selbst wenn der Satz höher sein könnte.“ Die Regelung ziehe eine Untergrenze beim Steuerwettbewerb ein; arme Regierungen könnten die Steuersätze auf 15 Prozent erhöhen, ohne befürchten zu müssen, dass internationale Konzerne abwanderten, sagt Giegold und löffelt seine Schüssel leer.
It’s complicated
Wie könnte es nun weitergehen? Sicher ist: So einfach kann die Idee gar nicht sein, dass es in Brüssel nicht doch noch kompliziert wird. Einfacher macht die Angelegenheit nicht, dass hier wirklich alles mit allem zusammenhängt.
Gibt es beim G-20-Treffen wie erwartet eine Einigung, müssen die Regierungen diese erst noch in nationales Steuerrecht gießen. Eine Verhandlungsgruppe bei der OECD kann ja keine Steuergesetze verabschieden, die Organisation ist keine Weltregierung. In der EU – und damit in Deutschland – soll die Umsetzung nach dem Willen der Kommission einheitlich geschehen: über zwei Richtlinien, also EU-Gesetze. Dies kündigte die Kommission im Mai in einem Strategiepapier an. Ziel sei die „stimmige Umsetzung in allen EU-Mitgliedstaaten“, inklusive jenen, die nicht an den Verhandlungen bei der OECD teilnähmen – hier darf sich Zypern angesprochen fühlen.
Steuersätze sind aber in der EU immer noch Kompetenz der Staaten: Eine Richtlinie, die eine Mindesthöhe vorgibt, müsste daher von allen 27 Regierungen unterstützt werden. Zyperns Finanzminister Constantinos Petrides kündigte bereits Widerstand gegen eine Richtlinie zur Mindeststeuer an. Bei einer Video-Anhörung im Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments ist Petrides vor einem hübschen abstrakten Gemälde zu sehen, daneben die zypriotische Flagge. Er las die Antwort offenbar ab, schaute auf den Schreibtisch statt in die Kamera. Eine EU-Richtlinie für die globale Mindeststeuer würde „de facto das souveräne und in den Europäischen Verträgen vorgesehene Recht der Mitgliedstaaten brechen, ihre Steuerpolitik zu setzen“, ratterte er herunter.
Aber die Idee hat bereits zu viele Staaten erfasst, als dass man sich noch gegen sie wehren könnte. So werden selbst jene Länder, die vom aktuellen Modell profitieren, dem Druck der übermächtigen Mehrheit wohl irgendwann nachgeben müssen. Im internationalen Miteinander gibt es genug Abhängigkeiten, mit denen man nicht leichtfertig spielt – am Ende wird die Isolation teurer als die Kooperation, auch wenn die erst mal schmerzhaft ist.
So relativierte Petrides dann auch alsbald seine Äußerung in einem Fernsehinterview und betonte, Zypern wolle selbstverständlich kein Veto gegen eine globale Mindeststeuer einlegen.
Und dann wäre da noch die Digitalabgabe. Die US-Regierung verlangt nämlich als Gegenleistung für eine OECD-Einigung, dass andere Staaten ihre Sondersteuern für Digitalkonzerne wieder abschaffen oder die Einführung stoppen. Es ist eine umstrittene Bedingung. TJN-Direktor Meinzer glaubt gar, dass manchen schwächeren Staaten dadurch Mindereinnahmen drohten. Der Effekt könnte fatal sein: In Nigeria etwa machen die Unternehmensteuern nahezu die Hälfte der gesamten Steuereinnahmen aus, in Mexiko ist es immerhin mehr als ein Fünftel. Die EU-Kommission will Mitte Juli trotzdem einen Gesetzesvorschlag für eine Digitalabgabe präsentieren. Das hängt, als wäre es nicht kompliziert genug, mit dem Corona-Hilfstopf zusammen: Für den nimmt die Behörde erstmals in ganz großem Stil Schulden auf, und um die leichter zurückzahlen zu können, braucht die EU neue Einnahmequellen – etwa eine Abgabe auf die Geschäfte von Onlinefirmen.
Die Behörde betont, sie wolle die geplante Abgabe so entwerfen, dass sie sich mit der OECD-Einigung verträgt. Außerdem müssen ohnehin erst alle 27 EU-Staaten dem Vorschlag zustimmen, damit er Gesetz wird. Das ist kein Selbstläufer: Die Kommission versuchte schon vor drei Jahren, eine Digitalsteuer einzuführen. Das scheiterte aber bald am Widerstand von Mitgliedstaaten wie: Irland.
„Frag mich alles“
Bleibt die letzte große Frage: Was bedeutet die Mindeststeuer für die Konzerne?
Wer nun etwa bei Google in Mountain View, Kalifornien, vorbeifährt und nach panischen Mitarbeitern Ausschau hält, hat schon mal Pech. Das liegt zum einen daran, dass hier im legendären Wohlfühlcampus wegen der Pandemie ohnehin kaum Menschen sind. Fitnesscenter und Cafés sind geschlossen, das Beachvolleyball-Feld ist leer, und der Google-Mitarbeiter am Eingang, unter einem roten Sonnenschirm und vor einem Schild, auf dem „Frag mich alles“ steht, hat keine Antworten auf einschlägige Fragen. Zum anderen verstecken die, die es besser wissen müssen, ihre ganz eigenen Antworten hinter offiziellen, politisch korrekten Mitteilungen: „Wir unterstützen die Bemühungen, die internationalen Steuergesetze zu aktualisieren. Wir hoffen, dass die Länder weiterhin gemeinsam daran arbeiten, bald ein ausgewogenes und dauerhaftes Abkommen zu finalisieren“, teilt Jose Castaneda mit, der Sprecher von Alphabet, zu dem Google gehört. Amazon nennt die Vereinbarung „einen willkommenen Schritt nach vorne“. Nick Clegg, bei Facebook zuständig fürs Weltgeschehen, verschickt E-Mails mit ähnlich klingenden Worten: Der Konzern begrüße diesen wichtigen Fortschritt.
Wahrscheinlich ist es für ein „Frag mich alles“ einfach noch zu früh. Noch weiß man weder in Washington noch in Dublin ganz genau, was die Revolution genau bedeuten wird, und wahrscheinlich weiß man es auch bei den Konzernen noch nicht. Wahrscheinlich aber sind sie beruhigt, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Wahrscheinlich werden sie dann doch unruhig werden, wenn es ernst wird. Und wahrscheinlich werden sie dann nicht in Panik ausbrechen, sondern mit Preiserhöhungen für ihre Produkte drohen – und auf diese Weise versuchen, was bei Revolutionen noch nie geschadet hat, den vielleicht mächtigsten aller Verbündeten auf ihre Seite zu ziehen: das Volk.