Das Geschäft mit der blutigen Baumwolle
von Manuel Daubenberger und Florian Guckelsberger
zenith/NDR vom 05.05.2022
Der Artikel versucht nachzuweisen, ob sich in den Textilien führender westlicher Marken Baumwolle befindet, die in uigurischen Zwangsarbeiterlagern gepflückt und/oder vernäht worden ist. Eine aufwändige Recherche und die Auswertung von Satelliten- und Isotopendaten führen zu einem positiven Ergebnis. Angesichts der restriktiven chinesischen Informationspolitik können westliche Firmen Zwangsarbeit nicht ausschließen.
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Das Geschäft mit der blutigen Baumwolle
Neun Zeitzonen und über 5.000 Kilometer trennen die Innenstädte von Berlin und Hamburg mit ihren Geschäften voller Sport- und Luxusmarken von der chinesischen Region Xinjiang. Und doch sind die Orte miteinander verbunden: Im Nordwesten Chinas wird weltweit gefragte Baumwolle angebaut, geerntet und verarbeitet. Und dieser Recherche zufolge findet sich das daraus gesponnene Garn offenbar in Kleidung deutscher Modemarken: Adidas, Hugo Boss, Puma, Jack Wolfskin und Tom Tailor.
An sich wäre das kein Problem, bestünde nicht der Verdacht, dass die Baumwolle aus Xinjiang durch Zwangsarbeit gewonnen wird. In der chinesischen Region hat die Regierung von Staatspräsident Xi Jinping über Jahre ein industrielles System der Unterdrückung aus Arbeitslagern und Gefängnissen geschaffen. So schuften vor allem Angehörige muslimischer Minderheiten für das chinesische Wirtschaftswunder. Uiguren, Kasachen, Kirgisen und andere, die aus Sicht Pekings die Einheit der Volksrepublik gefährden. In Xinjiang will man sie offenbar umerziehen – und beutet sie dabei auch wirtschaftlich aus.
Wegen dieser Vorwürfe haben die USA seit Januar 2021 den Import von Baumwollprodukten aus Xinjiang unter Strafe gestellt. Deutsche Unternehmen wie Hugo Boss, Adidas und Puma hatten damals versichert, aus der Region keine Baumwolle zu beziehen – oder dies künftig nicht mehr tun zu wollen. Doch wie glaubhaft sind solche Behauptungen angesichts der Tatsache, dass ein Fünftel der weltweit produzierten Baumwolle aus Xinjiang stammt?
Diese Reportage ist das Ergebnis monatelanger Recherche. Eine Reise, Schritt für Schritt entlang eines roten Fadens, der Plantagen in Xinjiang mit Läden in deutschen Innenstädten verknüpft. Sie führt uns in ein Labor im niederrheinischen Jülich und nach Manchester, Istanbul und andere Orte, die nicht genannt werden dürfen. Chemische Analysen, Frachtbriefe, in einem Teppich geschmuggelte Baumwolle und Aufnahmen des Satelliten Sentinel-2 werden eine Rolle spielen.
Wir haben Menschen getroffen, die Opfer von Zwangsarbeit auf den Feldern und in den Fabriken von Xinjiang geworden sind, und einen, der das System von innen kennt. Er sagt, dass er früher selbst verschleppt und gefoltert hat und heute, wie seine Opfer, in Angst vor dem chinesischen Sicherheitsapparat lebt. Und wir sprechen mit einer Person, die seit Jahrzehnten in China arbeitet und überzeugt ist: Wer hier Geschäfte macht, kann nicht ausschließen, dass er von Unterdrückung profitiert.
Die beste Baumwolle muss von Hand geerntet werden – und dafür braucht es viele Hände
In einem Vorort von Istanbul sind die glitzernde Einkaufsstraße Istiklal und die Blaue Moschee weit weg, die Ladenschilder zum Teil auf Arabisch beschriftet. Hier lebt Eyüp Enwer*. Wer verstehen will, wie die Baumwoll-Industrie in Xinjiang funktioniert, muss mit jemandem wie ihm sprechen. Der Uigure wuchs im Süden Xinjiangs auf und hat früher eine kleine Baumwollfarm betrieben. Gleichzeitig war er für den Einkauf eines großen Unternehmens verantwortlich.
Vor einigen Jahren floh Enwer aus China – wann genau, muss ebenso unerwähnt bleiben wie sein echter Name. Untrennbar ist sein altes Leben mit der Baumwolle verbunden, seine Hände verraten es bis heute. Als er während unseres Besuchs zufällig an der Auslage eines türkischen Ladens vorbeikommt, greift er in einen der großen Säcke mit Baumwolle. Seine Hände zerteilen und zupfen die Fasern, legen sie auf dem Handrücken aus, prüfen die Qualität.
Enwer weiß nicht nur, wie man die Güte von Baumwolle bestimmt, sondern auch, wie hart die Arbeit auf dem Feld ist. »Acht bis zehn Stunden zu ernten ist anstrengend. Du kannst nicht sitzen und verbringst den ganzen Tag gebückt. Der Rücken schmerzt und dazu ist es bis zu 30 Grad heiß.« Er beschreibt eine Schinderei, zu der die chinesische Regierung seit Beginn der 2000er-Jahre mehr und mehr junge Uiguren in Xinjiang zwangsverpflichtet habe.
Begründet hätten die Beamten die Maßnahme damals mit der hohen Arbeitslosigkeit unter jungen Männern, sagt Enwer. Der Lohn auf den großen Plantagen im Norden Xinjiangs sei dann aber niedrig gewesen und teilweise gar mit der Verpflegung verrechnet worden. Wer sich weigerte, dem drohte Gefängnis. »2014 bekam ich mit, wie 175 Menschen in Arbeitslager gebracht wurden, weil sie sich um ihre eigenen Felder kümmern wollten statt um die von Fremden«, erinnert sich Enwer. Am Ende seien sie zu Haftstrafen zwischen fünf und 18 Jahren verurteilt worden.
»Für höchste Qualität muss Baumwolle per Hand geerntet werden, das ist der Hauptgrund für die Zwangsarbeit«, meint Enwer. Außerdem seien die Felder mittlerweile so groß, dass es in vielen Anbaugebieten nicht genügend Arbeiter gebe. »Also zwingen die Behörden die Menschen aus anderen Gegenden zum Ernteeinsatz«, ist der ehemalige Baumwollfarmer überzeugt. Eine Entwicklung, die sich seit 2010 noch einmal beschleunigt habe.
Ein Satellit hat die Anbaufläche Xinjiangs untersucht
China gibt sich unbeeindruckt von solchen Berichten. Zwangsarbeit auf Baumwollfeldern könne es schon deshalb nicht geben, weil der größte Teil der Ernte von Maschinen erledigt werde, so die Regierung. Zuletzt meldete das Staatsfernsehen, der Anteil der Maschinisierung der Feldarbeit liege bei über 85 Prozent. Unterlegt wird die Meldung mit Luftaufnahmen von Erntemaschinen, die über die scheinbar endlosen Plantagen des Tarim-Beckens walzen.
Eine detaillierte Auswertung von Satelliten-Daten legt hingegen nahe, dass die Zahlen der chinesischen Regierung geschönt sind. Gemeinsam mit Analysten des Unternehmens Vertical 52 wurde für diese Recherche die gesamte Anbaufläche Xinjiangs untersucht. Eine Fläche vier Mal größer als Deutschland. Grundlage der Analyse waren die Aufnahmen des Satelliten Sentinel-2, der im Auftrag der ESA auch Xinjiang regelmäßig überfliegt.
Im ersten Schritt wurde bestimmt, wo exakt in Xinjiang Baumwolle angebaut wird. Den Schlüssel dazu lieferten visuelle Hinweise während der Aussaat im vergangenen Frühjahr. Die Ergebnisse wurden mit statistischen Daten aus den offiziellen Jahrbüchern der chinesischen Regierung abgeglichen. Es folgte die Analyse der Muster, nach denen die Felder während der Ernte im Herbst ihre Farbe änderten. Ein rascher Wandel von weißer Baumwolle zu brauner Erde ist ein Indiz für die Ernte mit Maschinen. Eine langsame Ausdünnung weist hingegen auf mühsame Ernte von Hand hin.
Das Ergebnis: Laut Satelliten-Analyse wurde 2021 etwas mehr als ein Drittel der Baumwolle in Xinjiang per Hand gepflückt. Deutlich mehr, als die chinesische Regierung behauptet. »Wir haben 2,7 Millionen Hektar untersucht, etwas mehr als 900.000 davon wurden per Hand geerntet«, fasst Marcus Pfeil von Vertical 52 die Auswertung zusammen. »Das entspricht ziemlich genau dem, was die Türkei und Australien zusammen ernten.« Beide Länder gehören zu den zehn weltweit größten Produzenten von Baumwolle.
Besonders hoch ist der Anteil von Handernte dort, wo die meisten Uiguren leben: im Süden von Xinjiang, rund um die Großstadt Kaschgar. Laut Satelliten-Analyse werden dort rund 96 Prozent der Baumwolle per Hand gepflückt. Brisant ist das auch deshalb, weil in diesem Gebiet der Großteil von Chinas langfaseriger Baumwolle wächst, die als besonders hochwertig gilt und deshalb exportiert wird.
Aber landet diese Baumwolle am Ende auch in Produkten deutscher Modemarken? Und falls dem so ist, wie lässt sich das nachweisen?
Baumwolle hat einen Fingerabdruck – in den Isotopen
Antworten auf diese Fragen finden wir in einem unscheinbaren Gebäude im Industriegebiet von Jülich. Zwischen dem Neubau eines expandierenden Pharmariesen und dem Institut für Solarforschung sitzt das Agroisolab. Dessen Leiter Dr. Markus Boner ist Spezialist für die Analyse von Isotopen und weiß: »Die Natur hinterlässt in der Baumwolle eine Signatur, eine Art Fingerabdruck.«
Baumwolle besteht aus chemischen Elementen wie Wasser- und Kohlenstoff. Elemente, die es in verschiedenen Ausführungen gibt, den Isotopen. Deren jeweilige Masse lässt sich bestimmen und so kann das Agroisolab einen isotopischen Fingerabdruck ermitteln, der von Region zu Region unterschiedlich ist. Am Ende können Proben gleicher Herkunft einander zugeordnet werden. Soweit die Theorie.
Unklar ist hingegen, ob dieses Verfahren auch dann funktioniert, wenn nicht Baumwolle frisch vom Feld, sondern in verarbeiteten Textilien getestet wird. Im vergangenen Frühjahr plant das Agroisolab zusammen mit dem WWF und der Hochschule Niederrhein einen Versuch, der diese Frage beantworten soll.
Ziel des Experiments ist es, zu prüfen, wie der massive Einsatz von Chemikalien in der Textilproduktion das Isotopen-Profil beeinflusst. Weil sich Kleidung gut anfühlen und aussehen soll, wird das Naturprodukt aufwendig behandelt, etwa mit Bleiche und Farbstoffen.
Aber um Baumwolle aus Xinjiang erkennen zu können, muss das Agroisolab erst den isotopischen Fingerabdruck dieser Baumwolle bestimmen – doch Proben aus China sind bislang nicht Teil des »Textile Tracker«. Die Suche nach dieser Baumwolle ist eine Herausforderung, die uns in das Wohnzimmer von Rune Steenberg in Berlin Neukölln führt – und zu dessen neuem Teppich.
Steenberg ist Anthropologe und forscht seit Jahren zu Xinjiang. Er hat in der Region gelebt, spricht Uigurisch und Chinesisch. Uns berät er bei dieser Recherche, hilft mit Expertise und Übersetzungen. Heute sind wir bei ihm, weil ein lang erwartetes Paket aus China angekommen ist. »Eine Freundin war in Xinjiang und da habe ich sie gefragt, ob sie Baumwolle beschaffen kann.«
Die Freundin kann. Eingeschlagen in einen handgeknüpften Teppich verbirgt sich eine weiße Plastiktüte mit Baumwolle. Gekauft wurde sie in der Großstadt Kaschgar, also in jener Region, in der laut Satelliten-Analyse fast ausschließlich per Hand geerntet wird – die Wahrscheinlichkeit von Zwangsarbeit also besonders hoch ist.
Später erhalten wir weitere Proben – unter anderem von einer Quelle in Hongkong. Zusammen mit Dokumenten, die belegen, dass diese Baumwolle vom 123. Regiment der Siebten Division der Bingtuan verkauft wurde. Dabei handelt es sich um eine paramilitärische Organisation, die im Namen der chinesischen Regierung für Teile der Verwaltung in Xinjiang verantwortlich ist und als Pfeiler der staatlichen Unterdrückung gilt.
Im Labor des Agroisolab in Jülich wird kurz darauf klar: Alle unsere Proben haben eine ähnliche Isotopen-Signatur, die sich deutlich von der anderer Baumwolle, etwa aus der Türkei, Indien oder selbst anderen Regionen Chinas unterscheidet. Baumwolle aus Xinjiang hat also einen Fingerabdruck, und wir kennen ihn jetzt.
Elf Stunden pro Tag an der Nähmaschine
Wie Zwangsarbeit in Xinjiang vonstattengehen kann, hat Erbaqyt Otarbai am eigenen Leib erlebt. Der ethnische Kasache lebt mit Asylstatus im britischen Manchester. Der 46-jährige Familienvater war über Monate in chinesischen Lagern und Gefängnissen interniert. Er sagt, er sei fixiert, geschlagen und gefoltert worden. Narben an Hand- und Fußgelenken, Kopf und Rücken sind die Zeugen seiner Erzählung. »Einmal haben sie mich in die Dusche genommen und dort mit Stromtasern bearbeitet«, erinnert er sich.
Aufgewachsen in Xinjiang zog Erbaqyt mit seiner Familie später ins nahe Kasachstan. Als er 2017 seinen kranken Vater in Xinjiang besuchen will, nehmen ihm Polizisten bereits an der Grenze den Pass ab, bringen ihn zum Verhör und analysieren sein Handy mithilfe eines Computers. »Warum bist du nach Kasachstan gezogen? Gehst du in die Moschee? Betest du?« Die Polizisten stellen harsche Fragen, lassen ihn am Ende aber gehen.
Kurz darauf wird Erbayqt erneut festgenommen. Dieses Mal wird Verhör schärfer geführt. »In der Polizeistation gab es einen Stuhl aus Eisen, sie nennen ihn Tigerstuhl. In den musste ich mich setzen, dann haben sie meine Arme und Beine eingespannt«, berichtet Erbaqyt. »Sie sagten, es würde Probleme mit meinem Denken geben und sie hätten WhatsApp auf meinem Handy gefunden.« Der Nachrichten-Dienst sei verboten, erklären die Polizisten. Und lassen ihn in ein Gefängnis bringen.
Dort habe er sich eine Zelle mit 22 anderen Gefangenen teilen müssen. Kameras hätten den Raum überwacht, die Toilette sei ein Eimer in der Ecke gewesen. 98 Tage habe er Hand- und Fußfesseln tragen müssen. Später sei er in ein Arbeitslager gebracht worden – und habe in einer angeschlossenen Textilfabrik nähen müssen. »Hätte ich mich geweigert, hätten sie mich zurück in das Gefängnis gebracht«, ist er überzeugt. Elf Stunden pro Tag habe er in den folgenden Wochen an der Nähmaschine sitzen müssen.
Und noch ein Detail erinnert er: Die Aufseher hätten darauf geachtet, dass die Gefangenen nicht sehen, für welche Marken sie Kleidung nähen müssen.
Berichte wie der von Erbaqyt legen nahe, dass es Zwangsarbeit nicht nur auf Baumwollplantagen, sondern auch in Fabriken verbreitet ist. Lange waren das vor allem sogenannte Umerziehungslager. Laut Xinjiang-Experte Steenberg sind viele dieser Lager mittlerweile aufgelöst worden. Gleichzeitig sei aber eine regelrechte Gefängnisindustrie entstanden. »Das sind Gefängnisse und Unternehmen, die mit diesen Gefängnissen zusammenarbeiten um an billige Arbeitskräfte zu kommen«, sagt er.
Steenberg beruft sich auch auf offizielle Dokumente der chinesischen Regierung. Seit 2017 würden immer mehr Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, ein Anstieg um teilweise mehrere hunderte Prozent. »Betroffenen sind wahrscheinlich viele Angehörige ethnischer Minderheiten, die werden dann auch zur Arbeit gezwungen.«
Der Gefängnisdirektor verdient angeblich mit
Wie das System aufgebaut ist, erklärt uns ein Insider. Wir können mit einem ehemaligen Polizisten aus China sprechen, der in Xinjiang gearbeitet hat und später geflohen ist. Der Whistleblower soll hier Wang Leizhang heißen. Er hat über Jahrzehnte Karriere im chinesischen Sicherheitsapparat gemacht und stützt seine Erzählung mit privaten Dokumenten, Fotos und Kopien offizieller Unterlagen.
Wangs Exil ist ein kleines Zimmer irgendwo in Europa. Auf wenigen Quadratmetern stapelt sich sein altes Leben. In einem Schrank aus Furnier hängen Uniformen, die er aus Xinjiang mitgebracht hat. Ein Dutzend Militärstiefel liegen in der Ecke. Auf das Fensterbrett hat Wang ein Fernglas gelegt. Er glaubt, der chinesische Geheimdienst würde ihn jagen. Seine Wohnung verlässt er nur selten. Wang sagt, er trinkt, um zu vergessen – und erinnert sich dann doch.
»Uns wurde gesagt, wer verhaftet werden soll«, sagt Wang. »Dann haben wir die Person vor der Haustür abgefangen, sind auf sie gesprungen und haben sie zu Boden gedrückt.« Wer sich wehrte, sei geschlagen worden. »Wir haben den Verdächtigen die Hose bis zu den Knien heruntergezogen und die Schuhe weggenommen, damit sie nicht fliehen konnten.«
Die eigentliche Tortur beginnt im Verhör. »Wer einschläft, wird geschlagen. Nach drei Tagen ohne Schlaf und Wasser gestehen sie alles,« sagt Wang. Je müder die Festgenommenen, desto einfacher konnten die Polizisten sie austricksen und ihnen Geständnisse entlocken. »Wir konnten einfach irgendetwas behaupten und sie haben es dann bestätigt.«
Auch den Tigerstuhl, vom dem schon Erbaqit berichtet hat, kennt Wang. Eine Vorrichtung aus Eisen, in der Menschen fixiert werden. In eine unnatürliche Position gezwungen, werden die Schmerzen von Stunden zu Stunde größer. Auch Wang hat Menschen so gequält. Wer nicht gesteht, dem drohe noch mehr Gewalt. »Manche schlagen mit Stöcken, andere peitschen Gefangene mit Kabeln, weil sie das Schlagen mit Stöcken zu anstrengend finden.«
Und noch ein Detail aus der Erzählung von Erbaqyt bestätigt Wang: In Arbeitslagern werde Kleidung genäht. »Während meiner Zeit in Xinjiang sind sehr viele Uiguren in Lager gebracht worden«, erinnert sich der ehemalige Polizist. »Sie sollten durch Arbeit umerzogen werden, etwa Nähen.« Zwangsarbeit gebe es aber nicht nur in den Lagern, sondern auch in den Haftanstalten.
»In allen chinesischen Gefängnissen werden Inhaftierte zur Arbeit gezwungen. Die Betreiber können so viel Geld verdienen, also bieten sie Unternehmen die Arbeitskraft der Gefangenen an«, erzählt Wang. »Wenn die Regierung verlangt, dass Inhaftierte fünf Stunden am Tag nähen müssen, schlägt der Direktor des Gefängnisses fünf weitere Stunden obendrauf und kassiert den zusätzlichen Profit«, berichtet Wang.
Die Isotopen-Analyse zeigt: In Kleidung deutscher Hersteller steckt offenbar Baumwolle aus Xinjiang
Zurück nach Jülich. Anfang November 2021 sind sich die Wissenschaftler des »Textile Tracker« sicher: Die Herkunft von Baumwolle kann auch in verarbeiteter Kleidung nachgewiesen werden. Doch bei welcher Kleidung ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass sie Baumwolle aus Xinjiang enthält?
Hinweise liefern Handelsdatenbanken. Für die Marktanalyse von Unternehmen entwickelt, bieten sie Einblick in den Maschinenraum der Globalisierung. Millionen Frachtbriefe, Zoll-Dokumente und Schiffsverbindungen sind hier gegen Gebühr abrufbar. So beginnt eine wochenlange Suche nach Verbindungen zwischen chinesischen Textilherstellern und Unternehmen in Deutschland. Sie dienen als Indiz dafür, bei welchen Kleidungsstücken sich eine Isotopen-Analyse lohnt.
Und wir werden fündig. Eine von Hugo Boss in Deutschland verkaufte Bluse wird laut Frachtbrief von einem chinesischen Textilhersteller produziert, der bereits mit Zwangsarbeit in Verbindung gebracht wurde. Ein von Adidas in Deutschland verkauftes T-Shirt wird von einer vietnamesischen Firma verschickt, die Teil eines chinesischen Unternehmens ist. Ein Hemd, das Jack Wolfskin in seinem deutschen Webshop anbietet, wird von einer indonesischen Firma genäht, die große Mengen Stoff aus China bezieht – und zwar von einem Unternehmen, das ebenfalls schon im Kontext von Zwangsarbeit genannt wurde.
Wir bestellen die T-Shirts, das Hemd und insgesamt 22 weitere Klamotten. Mehrere Pakete Kleidung gehen so an das Agroisolab in Jülich zur weiteren Untersuchung. Wenige Wochen später liegen die Messergebnisse vor: Laut dieser Analyse wurde Baumwolle aus Xinjiang offenbar in Produkten von Adidas, Puma, Hugo Boss, Jack Wolfskin und Tom Tailor nachgewiesen.
Auf Nachfrage des [Mediums] blieben die Hersteller bei ihrer Behauptung, keine Baumwolle aus Xinjiang zu beziehen. Adidas teilte schriftlich mit, man beziehe Baumwolle ausschließlich aus anderen Ländern. Puma erklärte: »Auf Basis aller gesammelten Informationen, die wir eingeholt haben, und Rückverfolgung sowie Kontrollen, die wir etabliert haben, können wir sagen, dass in unseren Produkten keine Baumwolle aus Xinjiang verwendet wird.«
Hugo Boss erklärte, keine Zwangsarbeit in seinen Lieferketten zu tolerieren und wollte sich nicht weiter zu der Frage äußern, ob sie Baumwolle aus Xinjiang in ihren Produkten ausschließen können. Jack Wolfskin äußerte sich nicht konkret zur Frage nach Baumwolle aus Xinjiang, betonte aber, Zwangsarbeit sei inakzeptabel, alle Lieferanten wüssten, dass »verfügbaren Daten und Zertifikate zur Lieferkette zur Verfügung« gestellt werden. Tom Tailor antwortete auf Nachfrage nicht.
»Xinjiang wird zunehmend abgeriegelt«
Klar ist: Nicht die komplette Baumwolle in Xinjiang wird von Menschen in Zwangsarbeit geerntet oder verarbeitet. Doch diese Recherche zeigt, wie integral Zwangsarbeit für das System der Unterdrückung ist, mit der die chinesische Regierung gegen Minderheiten vorgeht. Worauf sich Unternehmen einlassen, die dennoch in Xinjiang produzieren, berichtet einer unserer letzten Gesprächspartner.
Er arbeitet als Auditor für westliche Unternehmen und fürchtet nicht nur um sein eigenes Geschäft, sondern auch um die Sicherheit seiner chinesischen Mitarbeiter – und muss deshalb anonym bleiben. Seit Jahrzehnten prüft er weltweit Zuliefer-Betriebe, auch in Ländern mit besonders schwierigen politischen Verhältnissen. Doch die Lage in Xinjiang sei besonders brisant.
»Seit die Vorwürfe bezüglich der Uiguren lauter geworden sind wurde Xinjiang zunehmend abgeriegelt, die Arbeit schwieriger«, berichtet er. Derart kritisch sei die Lage, dass chinesische Kollegen Angst hätten, ihrer Arbeit nachzugehen. »Wir wissen, dass der Geheimdienst unsere Mitarbeiter in ihren Häusern oder Wohnungen aufsucht. Wer sich über die Arbeitsbedingungen informieren will, kann am Ende selbst im Gefängnis landen.«
Mittlerweile würde die chinesische Regierung verlangen, dass jeder Audit auf Zwangsarbeit separat genehmigt werden müsse – und oftmals würde eine solche Genehmigung nicht erteilt. In den letzten Jahren hätten Prüfer dennoch Indizien für Zwangsarbeit gefunden. Einmal hätten sie entdeckt, dass der Besitzer einer zu prüfenden Textilfabrik das lokale Gefängnis war. In einem anderen Fall hätten sich die den Prüfer vorgestellten Fabrikarbeiter als Laien herausgestellt – offenbar um zu verschleiern, wer dort wirklich näht.
Ob westliche Unternehmen unter diesen Bedingungen ausschließen können, dass in ihren Lieferketten Zwangsarbeit vorkommt? Der Auditor ist skeptisch. »Theoretisch ist das möglich, aber höchst unwahrscheinlich. So eine Behauptung müssten sie beweisen und im Moment kann das niemand. Die chinesische Regierung erlaubt solche Überprüfungen schlicht nicht.«