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Auf der Suche nach der Roten Perle

von Max Rauner
ZEIT Wissen vom 17.08.2021

Reportage über die weltweit führenden niederländischen Gewächshäuser, die durch technologischen Fortschritt die Qualität ihrer Tomaten enorm verbessert haben. Artikel beleuchtet die Versuche, auch andere Pflanzen auf diese Art zu züchten, um die Nahrungsmittelproduktion zu revolutionieren, und stellt die Frage, wie viel industrialisierte Entfremdung Ernährung verträgt.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Auf der Suche nach der Roten Perle

Was schlecht war, muss nicht schlecht bleiben. Das sagte mir unlängst die Frau, bei der ich Gemüse einkaufe, Martina Strothmann. Wir unterhielten uns über Tomaten, genauer: über Tomaten aus niederländischen Gewächshäusern, noch genauer: über die Rote Perle.
Seit 30 Jahren verkauft Martina Strothmann Gemüse auf Hamburger Wochenmärkten. In dieser Zeit ist mit den Tomaten etwas passiert. Sie wurden kleiner und reifer, sie schmeckten besser, sie änderten ihren Geburtsort. Erst kamen sie aus Südspanien, dann von den Kanaren, und seit ein paar Jahren hat Martina Strothmann Cherrytomaten im Angebot, die sich zu acht, neunt, zehnt an Rispen reihen. Auf den Schildern steht: »Rote Perle, NL«. NL für Niederlande.
Selbst im Dezember schmeckt die Rote Perle tomatig. »Eine Zeit lang war es verpönt, holländische Tomaten zu handeln«, sagte Martina Strothmann. »Das hat sich um 180 Grad gedreht.« Ich wusste in diesem Moment noch nicht, dass mich die Suche nach der Roten Perle zum zweitteuersten Gewürz der Welt führen würde, außerdem zu Avocados, Papayas und anderen exotischen Früchten, allesamt aus niederländischen Gewächshäusern, und weiter zu der großen Frage, ob die Welt von diesem kleinen, vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Land lernen kann, wie man sieben Milliarden Menschen mit gesunden Lebensmitteln versorgt.
An diesem Samstag am Gemüsestand von Martina Strothmann wusste ich nur, dass auch ich einmal eine toxische Beziehung zu Hollandtomaten hatte. Die sind groß und schmecken nach nichts, diese Erinnerung hatte sich in meiner Kindheit festgesetzt. »Die Kunden mussten erst über ihren Schatten springen«, sagte Martina Strothmann. »Sie mussten lernen, dass nur, weil irgendetwas schlecht war, es nicht schlecht bleiben muss.«
Heute habe ich zur Roten Perle ein Vertrauensverhältnis. Und damit bin ich nicht allein. Die Rote Perle ist überall. Bei Rewe. Bei Edeka. Bei Aldi. Beim Gemüsehändler um die Ecke. Die Niederlande sind kleiner als Niedersachsen. Irgendjemand in diesem Land scheint Deutschland das ganze Jahr über mit Roten Perlen zu versorgen, und natürlich mit all diesen anderen Cocktail-, Kirsch-, Cherry- und Honigtomaten. Wie riesig müssen diese Gewächshäuser sein?
Wer steckt dahinter? Wie viel Energie wird dafür verbraucht, wie viel Wasser verwendet, welche Pestizide werden gespritzt, wer arbeitet dort? Das Einkaufen von Lebensmitteln ist kompliziert geworden, weil dabei so viel mitschwingt. Klimawandel, Ausbeutung, Insektensterben, Gentechnik, Massentierhaltung. Auch Veganer kann es treffen. Kaum wird eine Frucht populär, hangeln sich unerschrockene Journalisten die Lieferkette entlang und verderben einem den Appetit. Ananas? Dumpinglöhne in Costa Rica. Avocado? Wassernotstand in Mexiko. Chia-Samen? Pestizidalarm. Gestern Superfood, heute superunmoralisch. Ich war unsicher, ob ich meine Tomaten wirklich näher kennenlernen wollte.
Im Markenregister des Deutschen Patentamts ist »Rote Perle« von der Firma Harvest House registriert. Die Adresse steht bei Martina Strothmann auf den Tomatenkartons: Honderdland 415, Maasdijk. Ein Dorf mit 4000 Einwohnern in der Provinz Südholland, nicht weit von der Nordsee entfernt. Westland heißt die Gegend, sie ist berühmt für ihre Treibhauskultur. Wenn man nachts darüberfliegt, leuchtet das Land. Ich schrieb dem Unternehmen eine Mail.
Die Deutschen lieben Tomaten. 28 Kilo frische und verarbeitete Tomaten verzehren wir durchschnittlich im Jahr. Platz zwei: Möhren, neun Kilo Durchschnittsverzehr. Dann folgen Zwiebeln mit acht Kilo und Gurken mit sieben. Wenn Gemüse Beine hätte und um die Wette rennen würde, könnte die Tomate nach dem Zieleinlauf zurück zum Start und wieder ins Ziel laufen und wäre trotzdem noch Erste. Ganz hinten im Gemüserennen kommt Rosenkohl.
Über die niederländische Gartenbaukunst gibt es die schöne Geschichte von der Tulpenmanie: Anfang des 17. Jahrhunderts waren einige Tulpensorten derart begehrt, dass man mit wenigen Blumenzwiebeln ganze Häuser kaufen konnte. So eine Geschichte gibt es auch über Tomaten, nur umgekehrt: In den Neunzigerjahren waren Hollandtomaten so unbeliebt, dass die Händler darauf sitzen blieben. Schuld war deren bester Kunde.
Deutschland. Die Niederlande sind nach Mexiko der zweitgrößte Tomatenexporteur der Welt, und die Deutschen kaufen fast die Hälfte ihrer Tomatenproduktion. Damals hatte die Hollandtomate hierzulande ein Imageproblem. [Anderes Medium] bezeichnete sie 1994 als »Wasser im vierten Aggregatzustand«. Sie bekam den Spitznamen »Wasserbombe«. Im Wortschatz der Niederländer ist das deutsche Wort »Wasserbombe« heute so geläufig wie »Blitzkrieg«. Die Fachzeitschrift groenten & fruit nennt die Wasserbomben-Ära »eine der dunkelsten Epochen des niederländischen Gewächshausgartenbaus«. Es ist ein Tomatentrauma.
Mark Versluis holt mich vom Hauptbahnhof Den Haag mit einem tomatenroten Mazda 6 ab. Er hat seit dem Gemüsebau-Studium mit Tomaten zu tun, fast 25 Jahre lang. Erst bei einem Gemüse-Auktionator, heute bei Harvest House als ketenmanager, das ist eine Art Wertschöpfungsketten-Manager. Er muss herausfinden, wie man auf dem Weg von der Tomatensaat bis zum Tomatensalat möglichst viel Geld verdient.
Nach zwanzig Minuten erreichen wir Maasdijk, das Dorf am Maasdeich. Es geht im Zickzack vorbei an Einfamilienhäusern, und schon stehen wir auf dem Hof der Firma Lans. 47 Gärtner sind unter dem Dach von Harvest House organisiert, zusammen bewirtschaften sie in den Niederlanden rund 1000 Hektar, das ist fünfmal der Berliner Tiergarten. Jeweils zur Hälfte wachsen dort Paprika und Tomaten, ein paar Hektar Gurken kommen auch noch hinzu. Harvest House ist die größte Erzeugergemeinschaft für Gemüse in den Niederlanden, und der Betrieb der Gebrüder van der Lans ist einer von ihnen. 80 Hektar Gewächshausfläche, 30 Millionen Kilo Tomaten im Jahr, 50 Millionen Euro Umsatz. Außer Lans bauen noch drei weitere Tomatengärtner die Rote Perle an.
»Es wird gleich sehr warm«, sagt Mark Versluis. Der Treibhauseffekt. Wir ziehen Schutzkleidung über und sehen aus wie Corona-Tester. Die Montur dient dem Schutz des Gemüses, denn auch die Tomaten haben ihre Pandemie. Was beim Menschen Sars-CoV-2 ist, ist bei der Roten Perle ToBRF, das Tomato Brown Rugose Fruit Virus, auch Jordan-Virus genannt, weil es vor sieben Jahren in Israel und dann in Jordanien aufgetreten ist. Die EU führte 2019 strenge Quarantäneregeln und Meldepflichten ein, aber das Virus hat es trotzdem nach Europa geschafft, auch zu den Lans-Brüdern, die in zwei Gewächshäusern alle Pflanzen vernichten mussten. Jetzt, so hoffen sie, bleibt die Pandemie dank der Hygienemaßnahmen erst mal draußen.
Eine letzte Schiebetür geht auf, und da ist sie. Tomate neben Tomate, Rispe über Rispe, Pflanze neben Pflanze, Rote Perle bis zum Horizont. An der Stirnseite der Halle sausen Angestellte mit Tretrollern hin und her. Auf Google Maps kann man sehen, dass dieses Gewächshaus nicht viel kleiner ist als das gesamte Dorf. Er habe hier 347.481 Stängel gepflanzt, sagt der Gewächshausmanager Willem Dijkshoorn, die werfen jede Woche 70.000 bis 100.000 Kilo Tomaten ab. Im Schneckentempo kommt ein Roboterzug mit stapelweise Kartons vorbeigefahren. Es sind die Kartons, die auch bei Martina Strothmann auf dem Markt stehen.
Allerdings stellt sich heraus, dass »Rote Perle« nur die Namenshülle ist. Die Sorte hinter dem Namen hieß lange Zeit Timotion, aber vor zwei Jahren hat Harvest House das Saatgut gewechselt. Nun steckt die Annico dahinter, die weniger schnell weich wird. Für meinen Geschmack ist das etwas undurchsichtig, aber ich würde auch lieber Rote Perle heißen als Annico.
Es gibt keine Erde. Die Tomatenstängel wurzeln in Steinwolle, von weißer Folie umhüllt. Schläuche pumpen eine Nährlösung zu den Wurzeln. An senkrechten Drähten ranken die Pflanzen empor. Jede wird im Laufe eines Jahres 14 Meter lang. So hoch will niemand klettern, um die Rispen zu pflücken. Daher werden die Drähte einmal pro Woche abgesenkt und zur Seite versetzt, sodass die Stängel auf Kniehöhe horizontal verlaufen und dann noch vier Meter senkrecht. Die reifen Tomaten sind dadurch bequem erreichbar. Am oberen Ende blüht die Pflanze, da müssen nur die Hummeln hin, für die Bestäubung. In der Halle sind Hunderte Kartons verteilt, in jedem wohnt ein Hummelvolk.
Außerdem hängen Kärtchen an den Stängeln, daraus schlüpft Eretmocerus eremicus, eine Schlupfwespe, die Schädlinge frisst. Gespritzt wird nur im Notfall, wenn es doch mal eine Krankheit ins Haus geschafft hat. Zwischen den Reihen schieben Arbeiterinnen ihre Erntewagen entlang. Diese fahren auf Schienen, die zugleich Heizungsrohre sind. Die Energie kommt aus einem Blockheizkraftwerk, das auch Strom für die Lampen erzeugt und außerdem noch ein bisschen CO2; ins Haus pumpt, das mögen die Pflanzen. Zwei Drittel der Glashäuser von Harvest House sind beleuchtet und produzieren rund ums Jahr. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, und man könnte meinen, dass auch die Musik den Pflanzen dient, aber das ist ein Irrtum. Die Belegschaft darf freitags die Musik für die kommende Woche auswählen. Der Mix folgt osteuropäischem Musikgeschmack. Polen, Russland, Rumänien.
Was ist das Geheimnis der Roten Perle? »Die Leute, die hier arbeiten«, sagt Willem Dijkshoorn und grinst. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Unter den Glasdächern im Westland steckt jahrzehntelange Erfahrung. Niederländische Firmen bauen die besten Gewächshäuser der Welt und beherrschen den Weltmarkt, schreibt die Autorin Annemieke Hendriks in ihrem Buch "Tomaten", für das sie sieben Jahre lang recherchiert hat. Sie liefern schlüsselfertige Gewächshäuser in die Ukraine und nach Kanada, nach Russland, Deutschland, Polen und sogar Nordkorea. Niemand holt aus begrenztem Platz so viele Tomaten raus wie sie:
500.000 Kilo pro Hektar im Jahr, das sind 50 Kilo pro Quadratmeter. Spanien und Marokko schaffen nur neun Kilo pro Quadratmeter (die Statistik umfasst Gewächshaus- und Freilandtomaten).
Die Vor- und Nachteile? Eine niederländisch-australische Forschungsgruppe hat vier Anbaumethoden für Tomaten im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verglichen: Hightech-Gewächshäuser in den Niederlanden sowie Folien-Gewächshäuser in Spanien, jeweils für ökologischen und konventionellen Anbau. Das Hightech-Gewächshaus für Nicht-Bio-Tomaten schnitt am besten ab. Es kommt ebenso wie der Ökolandbau mit biologischer Schädlingsbekämpfung aus, vergeudet aber kaum Wasser und Nährstoffe. Ökotomaten dagegen müssen in Erde wachsen, was den Boden auszehrt. Das Weltwirtschaftsforum preist die Präzisionslandwirtschaft der niederländischen Tomatengärtner als Vorbild. Auch Greenpeace lobt Gewächshäuser, weil sie den Einsatz von Pestiziden verringern. Es gibt eigentlich nur ein Problem: den Energieverbrauch für Heizung und Licht. Etwa acht Prozent des Erdgasverbrauchs und zwei bis drei Prozent des Stromverbrauchs im Land gehen auf das Konto der Glashäuser. Was sagt Weltretterdeutschland dazu? Gestern Wasserbombe, heute Klimabombe?
Mark Versluis hat einen Zettel voller Zahlen mitgebracht. Ein Fünftel der Energie in den Häusern von Harvest House stamme bereits aus nachhaltigen Quellen, rechnet er vor, aus Geothermie und Biomasse. »Wir möchten innerhalb von 20 Jahren vom Gas weg«, sagt er. »Aber die Regierung sollte das stärker fördern.«
Die Hoffnung der Gärtner ruht auf Frank Kempkes. Er hat sein Revier eine Fahrradstunde östlich von Maasdijk in den Gewächshäusern der Universität Wageningen, einer der führenden Forschungsinstitutionen in den Agrarwissenschaften, Standort Bleiswijk. Frank Kempkes forscht am Gewächshaus der Zukunft. Zur Eröffnung im vergangenen Jahr war der amerikanische Landwirtschaftsminister zu Besuch.
Kempkes’ Greenhouse 2030 ist ein Gewächshaus wie eine Intensivstation, mit Sensoren bestückt, von Computern überwacht. Wenn es außen kalt wird, zieht die Automatik einen isolierenden Stoff unter das Glasdach. Geheizt wird mit einer elektrisch betriebenen Wärmepumpe, ähnlich wie in Nullenergiehäusern, betrieben mit Ökostrom. Nur an sehr kalten Tagen muss Kempkes noch etwas Erdgas verfeuern. Ganz wichtig: das Licht. »Ein Prozent mehr Licht gibt ein Prozent mehr Ernteertrag«, sagt Kempkes. Die Glasscheiben sind so beschichtet, dass sie Tageslicht mit hoher Effizienz ins Innere streuen. In den dunklen Monaten vertreten LED-Lampen die Sonne.
Frank Kempkes öffnet eine Tür, und da wachsen seine Patientinnen in Metallkästen auf Kopfhöhe. Erdbeeren. Zum Ernten werden die Kästen verschoben, sodass sich eine Lücke für die Pflücker auftut. Kein Bücken mehr, keine Kreuzschmerzen, nur mehr Arbeit. Verglichen mit herkömmlichen Gewächshäusern wachsen hier 25 Prozent mehr Pflanzen pro Quadratmeter. Bis 2040 sollen alle niederländischen Gewächshäuser klimaneutral sein, so wünscht es die Regierung.
Die Erdgasförderung steht massiv in der Kritik, seit sie in der Region Groningen Erdbeben verursacht. Das Ziel ist ähnlich ambitioniert wie Deutschlands Vorhaben, den Straßenverkehr auf Elektroantriebe umzustellen. Die Gemüselobby hat dem Plan noch nicht zugestimmt. Sie fordert Steuererleichterungen für Strom. Glashäuser für die Welt, das ist Kempkes’ Vorschlag für nachhaltigen Gemüsebau. Nicht als Technik-Kolonialismus, sondern mit dem Wissen der Einheimischen. Im Gewächshaus nebenan hat der chinesische Internetgigant Tencent (WeChat) einen Wettbewerb finanziert, in dem künstliche Intelligenz (KI) gegen Gärtnerprofis antritt. Die Gärtner dürfen ihr Treibhaus-Abteil betreten, die KI-Teams müssen es fernsteuern.
2019 ging es um die Gurke. Die beste Ernte erzielten die Gärtner. Im Jahr 2020 Cherrytomaten. Es siegte das KI-Team Automatoes der Technischen Universität Delft. In diesem Jahr ist Salat dran, und zum ersten Mal ist eine vollautomatische KI mit am Start.
Könnte man mit Gewächshäusern eigentlich auch auf dem Mars Gemüse anbauen? Frank Kempkes muss kurz überlegen. Er sagt: »Die klimatologischen Bedingungen wären eine Herausforderung.« Wenn man mit Rückenwind durch dieses Land radelt, stellt sich der Eindruck ein, dass die Niederlande schon in der Zukunft angekommen sind. Der Zug auf Stelzen. Die Fahrradschnellwege. Biodiverse Polder mit geschützten Vogelarten. Sonnendurchflutete Gewächshäuser, Entwässerungsgräben, Schafe, Blumen. Auf der Autobahn fahren sie Kolonne mit Tempolimit 100. Es ist eng, aber es fließt, und jeder hat seinen Platz.
Doch nach der Zukunft kommt noch mehr Zukunft, das wissen auch die Gärtner. Der Tomatenmarkt ist in Bewegung. Andere Länder werden besser, auch Deutschland, nicht zuletzt dank niederländischer Gewächshaustechnik. Importe aus Nicht-EU-Ländern drücken die Preise. Und viel mehr als 28 Kilo Tomaten und Ketchup pro Jahr bekommen die Deutschen nicht in sich rein. Wie geht es jetzt weiter?
Es gibt jemanden, der einen Vorschlag hat und von dem sie sagen, er sei ein bisschen verrückt. Weil er glaubt, man könne in Gewächshäusern so gut wie alles anbauen. Filip van Noort heißt er, ein Forscher an der Universität Wageningen. Für den Vormittag nach seiner zweiten Corona-Impfung lädt er mich in sein Glashaus ein. Es steht gleich neben dem Greenhouse 2030 von Frank Kempkes in Bleiswijk.
Er habe schon als Kind Pflanzen geliebt, erzählt van Noort, seine Mutter war Blumenkünstlerin, der Vater arbeitete im Wissenschaftsverlag Elsevier. »Mein Zimmer war ein Dschungel«, sagt er. Aus der Obsession wurde sein Beruf. Heute ist er selbst eine Kreuzung aus Wissenschaftler und Gärtner. Tagelang kann er sich in Erfahrungsberichte und Anbauprotokolle vertiefen, er studiert Wetterparameter und die Bodenbeschaffenheit in den Heimatländern seiner Zöglinge. Mit 70 bis 80 Pflanzen habe er bis heute gearbeitet, Gemüse, Schnittblumen, Orchideen. »Ich möchte etwas Nützliches für andere tun«, sagt er. »Das haben mir meine Eltern beigebracht. Und das predigen sie bei uns in der Kirche.«
Es ist die Arbeitsmoral der Calvinisten. Vor fast zehn Jahren hat Filip van Noort eine Liste gemacht. Pflanzen, deren Anbau sich lohnen könnte. Safran, Platz eins, hat er gleich wieder gestrichen. Zu arbeitsintensiv. Aber Platz zwei, Vanille, das war interessant. Vanille ist eine Orchidee, und mit Orchideen kennt er sich aus. Nach zwei Jahren erntete er die ersten Schoten, und nachdem die Universität einen Kurzfilm darüber auf YouTube gestellt hatte, war Filip van Noort ein Influencer. Er sagt: »Die gesamte Gewürzwelt war hier und hat sich die Pflanzen angeschaut.«
Auch Avocados, Mangos und Papayas standen auf seiner Liste, Kaffee und Kakao, Passionsfrüchte, Ingwer, Kurkuma. »Viele Leute können nicht glauben, dass man diese Pflanzen im Gewächshaus anbauen kann«, sagt van Noort, »aber wenn man es nicht ausprobiert, wird man es nie wissen.« Die meisten dieser Exoten wachsen heute in seinen Hallen. Er führt mir vor, wie man Vanilleblüten bestäubt: erst mit einem Metallstift eine kleine Barriere entfernen, dann die männlichen und weiblichen Organe für ein, zwei Sekunden aufeinanderdrücken. Es sieht einfach aus, aber die Vanilleblüte mag das nur an wenigen Stunden ihres Lebens, unbedingt vormittags, sonst gibt es keine Schote. Am Ostermontag musste Filip van Noort mit Kolleginnen mal vor dem Mittagessen 2000 Vanilleblüten bestäuben, das fällt selbst einem Calvinisten schwer.
Zum Abschied zeigt er mir auf seinem Smartphone noch ein Foto von drei Frauen, das auf keinen Fall veröffentlicht werden darf. Die niederländische Königin ist darauf zu sehen, die Präsidentin von Singapur sowie seine Chefin Louise Fresco, die Präsidentin der Universität. Sie stehen vor seinen Pflanzen, und die Königin hält sich eine getrocknete Schote unter die Nase und schnuppert. Es sieht aus, als habe sie einen Schnurrbart wie Salvador Dalí.
Bis die »Nedervanille« exportreif ist, wird noch Zeit vergehen. Er versuche jetzt, eine selbstbestäubende Vanillepflanze zu züchten, sagt Filip van Noort. »Vielleicht wird es nie funktionieren, aber ich muss es einfach ausprobieren.« Eine andere Frucht von seiner Liste hat es dagegen geschafft: Die niederländischen Papayas wachsen 250 Meter von der Grenze zu Deutschland entfernt in einem Dorf namens Wellerlooi. Hier hat Roy Steegh eine Indoor-Armee aus Papaya-Bäumen angepflanzt. Es ist der Tag, an dem die Fußball-Europameisterschaft beginnt. Er habe selber mal ziemlich gut Fußball gespielt, erzählt Steegh, aber dann hat er doch lieber die Gewächshäuser seines Vaters übernommen.
Die Familie macht seit Jahrzehnten in Tomaten. Die Wasserbomben-Krise hat er als Kind erlebt, elf, zwölf Jahre alt, die Eltern bangten um ihren Betrieb. Roy Steegh sitzt deshalb regelmäßig mit benachbarten Gemüsebauern zusammen, und dann reden sie über die Zukunft. »Früher etwas Neues machen«, sagt Steegh, das ist das Ziel. Deshalb kontaktierte die Gruppe eines Tages auch den Treibhaus-Missionar von der Universität Wageningen, Filip van Noort. Sie besuchten ihn in Bleiswijk und begannen zu experimentieren.
Die Mangos wuchsen nicht gut. Zu klein. Auch mit den Avocados verloren sie die Geduld. Aber die Papayas, die waren genügsam. Ein ganzes Tomaten-Gewächshaus haben Roy Steegh und seine Partner daraufhin leer geräumt und 12.000 Papaya-Setzlinge gepflanzt. Bottich neben Bottich. Schon nach acht Monaten konnten sie die ersten Früchte ernten. Sie sind jetzt im zweiten Jahr. »Pestizide brauchen wir null«, sagt Steegh. Im nächsten Jahr wollen sie Bilanz ziehen. Die Papayas werden nach Deutschland exportiert und sind bei Kaufland erhältlich. Sie verkaufen sich auch gut, aber die Deutschen müssen noch auf den Geschmack kommen. Im Obst- und Gemüserennen läuft die Papaya in der Rosenkohl-Liga.
In meinem Reisegepäck befindet sich noch ein Buch: Hamburgers in Paradise . »Die Tragödie unserer Zeit«, schreibt die Autorin, »besteht darin, dass die meisten Menschen in den reichen und aufstrebenden Ländern kaum noch wissen, wie ihr tägliches Essen auf den Teller kommt.« Das Buch hat Louise Fresco geschrieben, die Präsidentin der Universität Wageningen.
Ihr möchte ich noch eine Frage stellen. Früher leitete sie die Forschungs- und dann die Landwirtschaftsabteilung der Welternährungsorganisation FAO, sie arbeitete am Weltklimareport mit und berät Regierungen, Unternehmen und Organisationen. Ihren TED-Vortrag auf You-Tube haben mehr als eine Million Menschen gesehen. Wenn jemand sich auskennt, dann wohl sie.
Wegen Corona verabreden wir uns zum Video-Call, und ich erzähle Louise Fresco von meiner Reise durch die Gewächshäuser. Schön, dass die Rote Perle so wenig gespritzt wird und ich Papayas nun aus Wellerlooi kaufen kann. Aber: Wie viel Technologie und Optimierung, wie viel Entfremdung verträgt unser Essen?
»Wir fahren auch nicht mehr mit Pferdekutschen durch die Gegend«, sagt Louise Fresco. »Trotzdem fühlt sich niemand entfremdet, weil auf der Autobahn keine Fuhrwerke zu sehen sind. Die Industrialisierung ist in der Landwirtschaft spät angekommen, und wir müssen uns noch daran gewöhnen, zumal Essen so etwas Persönliches und Intimes ist.« Kann Bio die Welt ernähren? Sollen wir Pestizide verbieten? Alte Sorten anbauen? Sie sagt: »Wir müssen die Polarisierung hinter uns lassen und das Beste aus allen Welten suchen. Dazu gehört auch die Methode des Gene-Editing, vor allem Crispr, um Pflanzengene viel gezielter und schneller zu verändern als mit dem Schrotschuss-Ansatz der konventionellen Züchtung.« Crispr. Die Gentechnik-Bombe. Die Deutschen hassen genveränderte Pflanzen (GVO), sage ich.
»Gene-Editing ist nicht dasselbe wie GVO«, sagt Fresco. »Beim Gene-Editing werden einzelne Gene verändert, etwas, das in der Natur ständig passiert.« Die Polarisierung überwinden. Das Beste aus allen Welten. Vielleicht kann man auch so sagen: Was schlecht war, muss nicht schlecht bleiben.