Amazon für Lebenselixiere
von Sophia Bogner und Paul Hertzberg
brand eins vom 31.03.2022
Die Nigerianerin Temie Giwa-Tubosun hat mit Lifebank eine Firma gegründet, die per App und Lieferdienst private Krankenhäuser ohne eigene Blutbank mit Blutkonserven versorgt. Der Artikel erläutert ihren Werdegang, Firmengründung und Vorgehensweise. Geplant ist die Expansion in den Rest von Afrika, Südamerika und die USA, wo ebenfalls kritische Infrastruktur fehlt.
Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.
Amazon für Lebenselixiere
In Nigeria gehen viele Leben verloren. Weil Terroristen morden und das Militär sie nicht aufhält. Weil Straßen kaputt sind und Autos alt. Weil die Kriminalität hoch, weil die Polizei korrupt, weil das Gesundheitssystem schlecht ist. Aber eine der häufigsten Todesursachen ist viel trivialer: Leben gehen verloren, weil Hilfe zu spät kommt. Menschen werden bei Unfällen verletzt, Frauen liegen in den Wehen. Sie brauchen Blut, sie war- ten darauf – aber das Blut kommt nicht. Es steht im Stau, es verdirbt in der Hitze, die Menschen sterben. Nicht Gewalt oder Krieg beenden ihr Leben, sondern Nigerias Infrastruktur. Und genau das will Temie Giwa-Tubosun, 36, die Gründerin von Lifebank, ändern – mit einem Online-Marktplatz für Blut samt Lieferdienst. „Wenn ihr das gelingt“, sagte der Facebook-Chef Mark Zuckerberg einmal, „wird sie nicht nur Lagos verändern, nicht nur Nigeria, sondern Länder überall auf der Welt.“
Es ist acht Uhr morgens in Lagos, und die Frau, die die Welt verändern soll, wird seit zwei Stunden geschminkt. Tubosun thront auf einem Hocker im Zentrum ihres Büros: eine kleine Frau, rund wie eine Nana-Figur. Zwei Mitarbeiterinnen umkreisen sie auf engen Bahnen. Eine macht ihre Haare, die andere das Gesicht. Tubosun schwitzt. Sie ist genervt. Ihr Kostüm zwickt. Die Pumps sind zu klein. Und alles dauert ihr zu lang. Tubosun könnte jetzt Lieferungen von Blut organisieren. Aber das muss warten. Erst einmal wird sie angemalt. Denn sie muss vor die Kamera, ihre große Geschichte erzählen, mal wieder.
2016 hat Tubosun ihre Firma Lifebank gegründet – und seitdem viel Aufmerksamkeit erregt. Das Start-up wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von der Jack Ma Foundation, der Stiftung des Alibaba-Gründers. Tubosun ist ein Shootingstar der afrikanischen Gründerszene. Ihre Firma hat in nur fünf Jahren geschafft, woran viele Regierungen und internationale NGOs seit Jahrzehnten scheitern: Sie hat kritische Infrastruktur neu gedacht – und verbessert.
Neun Uhr morgens, Lagos, das Hauptquartier von Lifebank: Männer in Autos werden langsam richtig wütend, hupen, schreien. Seit einer Stunde ist die Straße für Tubosuns Werbe-Dreh gesperrt. Quer auf der Fahrbahn stehen die Motorräder der Blutkuriere. Daneben die Fahrer: graue Körperpanzer, rote Helme. Drohnen surren am Himmel. Kinder gaffen. Dann rauscht Tubosun auf die Straße. „Action!“, ruft der Regisseur, und ein Mikrofon taucht auf die Chefin herab. „Wir von Lifebank glauben, dass kein Afrikaner sterben sollte, weil wichtige Hilfsgüter nicht verfügbar sind.“ – „Gut“, sagt der Regisseur, „noch einmal.“ – „Das reicht“, ruft Tubosun, „das wird heute noch ein langer Tag.“ Lkw werden gestartet, Motorräder weggeschoben. Der Verkehr schwappt in die Straße wie eine wütende Welle.
Nigeria ist ein chaotisches Land und vor allem ein riesiges. Bis 2100 wird es nach China und Indien die drittgrößte Nation der Welt sein. Schon heute ist es der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, ein Land, in dem mehr als 250 Ethnien mehr als 500 Sprachen sprechen. Nigeria ist vielfältig – und hat viele Probleme. Allen voran: das Gesundheitssystem. Auf 10000 Einwohner kommen nur knapp vier Ärzte. In Deutschland sind es der- zeit 45. Lediglich drei Prozent der Bevölkerung haben eine Krankenversicherung. Mehr als 70 Prozent aller Gesundheitsausgaben werden privat gezahlt. Der Patient blecht selbst, für Zimmer, Pillen, Ärzte – und auch fürs knappe Blut.
Knapp zwei Millionen Einheiten Blut bräuchte Nigeria jedes Jahr. Tatsächlich verabreicht werden gerade einmal 500000. Deshalb kann jede Verletzung tödlich sein und vor allem: jede Geburt. In der EU sterben nur sechs von 100000 Gebärenden an den Folgen einer Schwangerschaft, überwiegend an Blutverlust. In Subsahara-Afrika sind es durchschnittlich 534, in Nigeria 917. Es gibt nur drei Länder auf der Welt, in denen noch mehr Mütter ihr Leben bei der Geburt verlieren: Sierra Leone, Tschad und Südsudan.
Temie Giwa-Tubosun wurde 1985 geboren. Sie wuchs in Ife auf, fünf Autostunden von Lagos entfernt. Dort unterrichtete ihr Vater an der Universität, sein Haus war voller Bücher. Von An- fang an prägten große Geschichten das Leben seiner Töchter. „Meine Schwester wollte eine Brontë-Sister werden“, sagt Tubosun, „und ich Drehbücher schreiben.“ Also schaute sie amerikanische Filme, las amerikanische Bücher. Als ihre Eltern ihr sag- ten, die Familie ziehe in die USA, dachte sie: „Wir gehen nach New York oder nach Kalifornien.“ Es wurde Minnesota. Tubosun war 15 Jahre alt. Sie hatte Nigeria noch nie verlassen. Jetzt saß sie im Norden Amerikas, der anders aussah als in ihren Filmen, wo nirgendwo Palmen wuchsen und es keine Hochhäuser gab, nur leere, lange Straßen und im Winter viel Schnee.
Das Problem ist groß – das Geschäft ebenso
10.30 Uhr, Lagos, Stadtautobahn: Ein Motorradfahrer mit grauem Körperpanzer und rotem Helm drückt die Beine an seine Maschine und gibt Gas. Er weicht Fußgängern aus, Lastkarren, Verkäufern. Er fährt Slalom durchs Chaos. In seinem Anzug mit Panzerplatten sieht er aus wie der Held eines Marvel-Films. An seiner Maschine hängt ein Metallkasten, krankenhausweiß und alarmrot lackiert, auf dem steht: Achtung! Lebensrettende Lieferung. Der Fahrer biegt ab. Er muss sich beeilen. Er heißt Dammy Asemokhai, ist 30 Jahre alt und einer von 50 Männern, die für Lifebank Blut transportieren. Die Firma sorgt dafür, dass es rechtzeitig ankommt, beim richtigen Patienten. Darum fahren Asemokhai und seine Kollegen so schnell, wie sie können – wie lange sie brauchen, entscheidet über Leben und Tod.
Lagos ist die größte Metropolregion südlich der Sahara. Mehr als 20 Millionen Einwohner leben rund um eine dampfende Lagune. Die Straßen dort sind voll und das Gewühl dicht. Jeder Weg kann Stunden dauern, jede Autofahrt einen halben Tag. Alles hier kostet Zeit – oft mehr, als ein Patent, der Blut braucht, hat.
Elf Uhr, Lagos, Lifebank-Hauptquartier: Tubosun trippelt wuchtig durchs Büro, in ihrem Kielwasser Assistenten. Sie nimmt die Treppe in den ersten Stock. Die Wände sind über und über mit Herzen beklebt. Auf jedem ein Name und ein Datum: Okere, 12/16/2018 oder Charity, 07/21/2019. „Das sind die Menschen, die Lifebank gerettet hat“, sagt Tubosun, „die Empfänger des Blutes.“ Sie weiß, wie man Geschichten erzählt. Als Kind wollte sie Drehbücher schreiben, jetzt schreibt sie den Plot für ihr Unternehmen: Ihre Fahrer sind Helden, ihre Firma rettet Leben. Das ist die Zahl, mit der die Chefin Erfolg misst: mehr als 40000 gerettete Leben seit 2016. Bei Lifebank gehört das zu den Kennzahlen. Aber natürlich gibt es auch weltlichere.
„Seit unserer Gründung haben wir unseren Umsatz jedes Jahr verdoppelt“, sagt Tubosun. Wie hoch der genau ist, will sie nicht verraten. Aber 2018 sagte sie einem Reporter: 100.000 US- Dollar. Wenn das mit dem Wachstum stimmt, müsste Lifebank 2021 also 800.000 Dollar gemacht haben. Mittlerweile gibt es die Firma in drei Ländern, in Nigeria, Kenia und Äthiopien. 130 Menschen arbeiten für sie. Aber weniger als ein Drittel da- von sind Fahrer. Denn Blut auszuliefern ist nur die eine Seite von Tubosuns Geschäft.
Findige Fahrer und die richtige Software
Ayo Olufemi ist der Technikvorstand (CTO) der Firma, 32, gerader Rücken, strenger Blick. „Die Fahrer stehen im Vordergrund“, sagt er, „aber dahinter regieren Daten.“ Denn Lifebank liefert nicht nur aus. Die Firma ist ein digitaler Marktplatz, eine Online-Plattform. Mithilfe der App des Unternehmens können Blutbanken ihre Vorräte verwalten und Krankenhäuser Blutkonserven bestellen – wie eine Pizza beim Bringdienst. „Bevor es uns gab“, sagt Tubosun, „kamen Nachfrage und Angebot nicht zueinander.“ Blut blieb liegen, Blut verfiel.
Tubosun wollte schon immer die Welt retten, nur wusste sie lange nicht, wie. Als Teenagerin in Minnesota war ihr Traum, Anwältin zu werden. „Ich war davon besessen“, sagt sie. Aber als sie aufs College ging, änderte sich das. „Ich wollte kein amerikanisches Leben, keine amerikanische Anwältin sein.“ An der Uni fand sie Freunde aus Asien, Afrika, Europa. Sie stellte fest: „Ich will international arbeiten.“ Das war 2006. Kofi Annan war UN-Generalsekretär. „Ein schwarzer Mann, ein Afrikaner“, sagt Tubosun, „ich dachte: Wenn er eine UN-Person sein kann, kann ich das auch.“ Sie studierte Öffentliche Verwaltung und Gesundheitsmanagement. Sie machte ein Praktikum in der Schweiz, bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und eines in Nigeria, bei einer NGO. „Da habe ich gesehen“, sagt Tubosun, „wie schlimm die Dinge hier wirklich waren.“
12.45 Uhr, Lagos, ein Hinterhof, Mittagshitze: Dammy Asemokhai stellt sein Motorrad ab. Rundherum flache Bauten, bröckelnder Putz. Er schultert seine Transportbox und betritt eines der Gebäude. Drinnen gibt es ein Wartezimmer und ein Labor. Ein Dieselgenerator betreibt den Blutkühlschrank. In Lagos gibt es viele solcher Blutbanken. Wie viele genau, weiß keiner, aber es müssen Hunderte sein. Sie sind nicht zentral organisiert. Es sind private Firmen, die nur wenige Liter am Tag verkaufen, häufig ohne Bankkonto, betrieben von nur einer Person, einem Laboranten mit der staatlichen Lizenz zum Blutverkauf.
Der Mann, der diese Blutbank betreibt, heißt Nelson Ekpe, ein gut trainierter Typ, mit Kinnbart und blütenweißem Kittel. 200 Einheiten Blut lassen sich Menschen bei ihm jede Woche abnehmen. 2500 Naira zahlt Ekpe ihnen jeweils – etwas mehr als fünf Euro. Nur fünf Prozent aller Blutkonserven Nigerias stammen aus unbezahlten Spenden. Der Rest kostet Geld. Die Blutbanken bezahlen die Spender, die Krankenhäuser die Blutbanken – am Ende liegen dann alle Kosten bei den Patienten.
Die Kunden mussten erst überzeugt werden
„Ohne Lifebank“, sagt Nelson Ekpe, „gäbe es mein Geschäft nicht.“ Circa 35 Tage lang ist eine Einheit Blut haltbar. Früher kam es vor, dass Ekpe Konserven wegwerfen musste, weil kein Krankenhaus sie rechtzeitig kaufte. Aber seit er die Plattform nutzt, ist kein Beutel mehr liegen geblieben. Und: „Lifebank ist mein Büro“, sagt er. Wie viele andere verwaltete er seine Vorräte zuvor nur auf Papier, jetzt mithilfe einer App. Ekpe geht zum Kühlschrank, nimmt einen Beutel A Rhesus-positiv und legt ihn in Asemokhais Transportbox. Dunkel und dick schwappt das Blut im Plastik. Asemokhai befestigt die Box, steigt auf sein Motorrad, gibt Gas. Ein Krankenhaus in der Nähe hat bestellt. Eine Frau liegt in den Wehen. Sie blutet.
Als Temie Giwa-Tubosun 22 Jahre alt war, saß sie während ihres NGO-Praktikums auf dem Boden einer Hütte und hielt die Hand einer jungen Frau, die mit dem Tod rang. Das Dorf, in dem die Hütte stand, liegt im Bundesstaat Kano im Norden Nigerias. Es mangelt dort an vielem, auch an Ärzten und Blutkonserven. Die Frau auf dem Boden war 19. Sie hieß Aisha und lag in den Wehen. Das Kind wollte nicht kommen, sie blutete stark. „Keiner konnte etwas tun“, sagt Tubosun. Es war heiß, überall Schweiß, Blut. Aisha kämpfte die ganze Nacht. Sie überlebte. Ihr Baby starb. „Ich bin zusammengebrochen“, sagt Tubosun. Drei Tage lang schloss sie sich in ihr Zimmer ein. „Als ich herauskam“, sagt sie, „war ich besessen vom Thema Gesundheit.“
14 Uhr, Lagos, Lifebank-Hauptquartier: „Wer hat die Übersicht?“, fragt CTO Olufemi und schaut in die Runde. Um ihn herum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, jung mit Laptops. Telefone klingeln, Handys vibrieren. Das Verkaufs-Team spricht mit Krankenhäusern, das Callcenter antwortet Kunden. „Momentan haben wir mehr als 600 Kliniken auf unserer Plattform“, sagt Olufemi. „Und es werden immer mehr.“ Mit ihnen verdient die Firma Geld. Für jede gelieferte Blutkonserve berechnet Lifebank eine Gebühr. Wie hoch die ist, will keiner sagen. Der Preis variiere von Kunde zu Kunde. „Wir quersubventionieren“, sagt Tubosun. „Wer mehr hat, zahlt mehr, wer weniger hat, zahlt weniger.“ Noch passiert das meistens bar und pro Lieferung. „Aber wir arbeiten an einem Abo-Modell“, sagt Olufemi. In Zukunft sollen Krankenhäuser ihren Bedarf mit Lifebanks Daten im Voraus berechnen – und dafür pro Monat zahlen. „Wir entwickeln uns weiter“, sagt Tubosun. „Bereits jetzt sind wir etwas anderes, als ich am Anfang geplant hatte.“
Als Tubosun mit 27 nach Nigeria zog, war sie keine Geschäftsfrau und wollte auch keine sein. Sie hatte geheiratet – einen Linguisten aus Lagos – und arbeitete beim Amt. Für das staatliche Büro für Gebäudemanagement beriet sie Krankenhäuser beim Aufbau von Infrastruktur. „Es war die Hölle“, sagt sie heute und lacht. Die Strukturen seien verkrustet gewesen, die Kollegen faul. „Ich habe ein Problem“, sagt Tubosun, „ich arbeite gerne.“ Das ist ihre hervorstechendste Eigenschaft: die Arbeitswut. Also schmiss sie bei der Behörde hin und wechselte zu einer Non-Profit-Organisation.
In Nigerias Filmindustrie, Nollywood genannt, erklärte sie Regisseuren, wie Krankenhäuser funktionieren, und Schauspielerinnen und Schauspielern, wie Ärzte sprechen. Sie machte aus Filmen Gesundheitsaufklärung. Es hätte ein perfekter Job für sie sein müssen, aber er war ihr nicht genug. Also konzentrierte sich sie auf ihre eigene NGO: das One Percent Project. Sie sammelte Blut an Universitäten, überzeugte Studenten zu spenden. „Aber wir hatten nicht genug Impact“, sagt sie. Tubosun wurde damals 30. Sie hatte das Gefühl, jetzt müsste etwas Großes kommen. Und es kam: die Idee für Lifebank. „Nur eine private Firma kann wirklich etwas verändern“, sagt sie. „Nur wenn jemand bereit ist, für etwas zu zahlen, kann man sicher sein, dass man ein echtes Problem löst.“
„Wenn du nur eine Person überzeugst, in dich zu investieren“, sagte Tubosuns Mann zu ihr, „bin ich an Bord.“ Also zog die Gründerin los und überzeugte gleich einen ganzen Hub: den Co-Creation Hub, Lagos wichtigsten Start-up-Brutkasten. 25000 Dollar Startkapital bekam sie für ihre Plattform-Idee. Einzige Auflage: Sie müsse einen IT-Profi anheuern. Also holte Tubosun Ayo Olufemi. Er war ein Freund, jung und motiviert. Er arbeitete als Programmierer für die Telekommunikationsbranche, aber für Lifebank gab er den Job auf. Heute sagt er: „Ich wusste von Anfang an: Damit können wir etwas ver- ändern. Und Millionen verdienen.“
Aber der Reichtum ließ auf sich warten. Die Plattform stand. Die Kunden blieben aus. „Wir hatten einige Krankenhäuser an Bord“, sagt Tubosun, „aber die Blutbanken nicht.“ Die Labors misstrauten der jungen Firma. Sie hielten Lifebank für Konkurrenz. Sechs Wochen brauchte es, bis Tubosun eine der größeren Blutbanken überzeugte – dann folgte der Rest. Im Mai 2016 war es so weit: In Lifebanks Hauptquartier ging die erste Bestellung ein. Und mit ihr kam das zweite, das eigentliche Problem. Tubosun wollte nur vermitteln, nicht liefern. Aber jetzt rief ein Mitarbeiter des Krankenhauses an und fragte: Wo bleibt unser Blut? „Ich war geschockt“, sagt Tubosun. Sie sprang selbst in ihr Auto, holte das Blut und stand im Stau. Sie schwitzte, starrte nervös auf die Transportbox. „Es waren mit die schlimmsten 25 Minuten meines Lebens.“
Eine Lösung aus Afrika für ein globales Problem
15.30 Uhr, Lagos, St. Lukes Krankenhaus: Der Lifebank-Kurier Dammy Asemokhai stapft durch die Tür. 30 Minuten hat er diesmal gebraucht. Eine gute Zeit. Er kennt sich in Lagos aus, er ist hier geboren. Trotzdem navigiert er wie all seine Kollegen per Handy. Lifebanks App zeigt ihm, welche Route er nehmen, wo er Blut abholen und wohin er es liefern muss. Im St. Lukes bringt Asemokhai seine Fracht ins Labor. Er begrüßt den Labor-Chef, übergibt das Blut, unterschreibt. Er muss wieder los.
Der Arzt im Labor heißt Ogutiée Mipuita: ein schmaler Mann mit dem müden Blick eines Menschen, der schon lange im Krankenhaus arbeitet. Seit acht Jahren leitet Mipuita hier das Labor, seit drei Jahren arbeitet er mit Lifebank. „Erst war ich skeptisch“, sagt er. Aber jetzt hat er nur Gutes zu sagen. Die Fahrer seien zuverlässig, die Blutgruppe immer richtig. Seit er mit Lifebank arbeite, sei ihm kein Patient mehr verblutet.
Fast 3000 private Kliniken wie seine gibt es in Lagos. Dazu kommen mehr als 250 öffentliche Gesundheitszentren und 26 staatliche Krankenhäuser. Und alle brauchen Blut. Warum ha- ben sie keine eigenen Blutbanken? So wie in Deutschland oder Großbritannien? „Sie dürfen es nicht“, sagt Tubosun. Nur die großen staatlichen Kliniken lagerten noch selbst Blutkonserven. Früher hätten das auch private Krankenhäuser getan, allerdings dermaßen schlecht, dass der Staat vielen die Lizenzen entzog. Deshalb entstanden so viele unabhängige Blutbanken – und eine Lücke für Lifebank.
2016, nachdem sie die ersten Bestellungen selbst ausgefahren hatte, stellte Tubosun Kuriere ein, kaufte Motorräder. Nach Lagos übernahm Lifebank Nigerias Hauptstadt Abuja, danach folgten Stationen überall im Land. 2020 expandierte die Firma nach Kenia, 2021 nach Äthiopien. Sierra Leone, Togo, Malawi und Liberia sollen folgen. Fast eine Million Dollar haben Wagniskapitalgeber inzwischen in Lifebank investiert. „Aber mir gehört noch immer die Mehrheit“, sagt Tubosun. Als Covid nach Afrika kam, begann sie, auch Sauerstoffzylinder zu liefern. „Airbank“ nennt sie diesen Teil ihres Geschäftes. 2021 machte er schon 20 Prozent ihres Umsatzes aus. Aber Tubosun will mehr: „Stockbank“ soll medizinisches Material für Krankenhäuser liefern, „Coldbank“ ab 2022 Impfstoffe. Lifebank soll werden wie ein Amazon der Zukunft für Krankenhäuser: ein System, das alles liefern kann, noch bevor jemand merkt, dass es fehlt.
16.45 Uhr, Lagos, Lifebank-Hauptquartier: „In meinem Kopf“, sagt Tubosun, „führe ich schon lange das Lifebank der Zukunft.“ Ihr Büro ist schmucklos, nur ein Poster hängt an der Wand. Lifebank Global steht darauf, darunter eine Weltkarte. Nigeria, Kenia und Äthiopien sind bereits eingefärbt. Ganz Afrika und Südamerika, große Teile von Asien, sogar die Hälfte der USA, sind schraffiert. „Da könnte es als Nächstes hingehen“, sagt sie. Auch da gibt es Stau, schlechte Infrastruktur, unterversorgte Krankenhäuser. Es sind große Pläne, die Tubosun da in ihrem Büro entwirft. Und vieles spricht dafür, dass sie aufgehen könnten.
Ihre Firmenidee hat auch persönliche Gründe
Laut der Weltgesundheitsorganisation haben weltweit nur 28 Prozent der einkommensschwachen Länder eine nationale Blutversorgung. Und selbst unter den Industrienationen sind es nur 72 Prozent. Überall könnten Gesundheitssysteme von Lifebank profitieren – nicht nur in Afrika, sondern auch in Ländern wie Indien, wo jedes Jahr Hunderttausende Einheiten Blut wegen mangelnder Infrastruktur verderben. Und auch Tubosuns neue Services – Cold-, Stock- und Airbank – könnten weltweit zum Einsatz kommen. In Florida zum Beispiel fehlte es Krankenhäusern während der Pandemie an Sauerstoff – unter anderem weil es nicht genug Fahrer gab, um ihn auszuliefern. Deswegen traut sich Tubosun zu, die Welt zu verändern. Und: Weil dieser Kampf für sie ein persönlicher ist.
Zwei Jahre bevor sie Lifebank gründete, wurde Tubosun schwanger. Alles verlief zunächst normal. Ein paar Monate lang arbeitete sie weiter in Lagos. Dann flog sie zu ihren Eltern nach Minnesota. „Die Ärzte dort stellten fest“, sagt sie, „dass ich ein- fach alles hatte.“ Sie litt unter Schwangerschaftsdiabetes und -vergiftung. Das Baby lang verkehrt herum, es drohte eine Steißgeburt. Ein Team von Ärztinnen machte einen Notkaiserschnitt, kämpfte, gab ihr Blut. Tubosun und ihr Baby überlebten nur knapp. „In Nigeria“, sagt sie, „wären wir beide gestorben.“
Heute ist ihr Sohn acht Jahre alt. „Er ist schlank und sportlich“, sagt sie und lacht. „Keine Ahnung, woher er das hat.“ Auch für ihn hat sie Lifebank gegründet: ein Unternehmen, in dem junge Afrikanerinnen und Afrikaner ein großes Problem lösen. „Mein Sohn soll lernen, dass wir nicht immer die Jungfrau in Nöten sind“, sagt sie, „sondern auch Ritter in schimmernder Rüstung sein können.“
17.40 Uhr, Lagos, auf der Straße: Es ist dunkel. Asemokhai hockt neben seinem Motorrad, er hat den Helm abgesetzt, er sieht müde aus. Das Licht einer Straßenlaterne schimmert gelb auf seiner Rüstung. Die Luft ist warm und dick vom Blubbern Tausender Motoren. Er hat noch eine letzte Tour vor sich. Es geht nach Lagos Island, raus auf dieses schmale Band Land, das die Lagune umkränzt. Das kann gefährlich werden, jetzt in der Dunkelheit. Zwei Unfälle hatte Asemokhai schon. Einmal wurde er ausgeraubt. Aber er fuhr weiter. „Ich bin Kurierfahrer“, sagt er. Und: „Besser man riskiert sein Leben für Blut als für eine Pizza.“