Wie viel darf ein Medikament kosten, das über Leben entscheidet?
von Kai Müller
Der Tagesspiegel vom 13.06.2021
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Wie viel darf ein Medikament kosten, das über Leben entscheidet?
Ayah, 16 Monate, leidet an einer Krankheit, die tödlich enden kann.
Eine Gentherapie mit einer einzigen Spritze würde helfen – für zwei Millionen Euro. Wie Gesundheit zu einer Frage des Kapitals wird
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Wenn Mithika Lundt nach Worten sucht, die beschreiben sollen, was in ihr vorgeht, hält die 33-jährige Mutter eine Hand vor ihr dunkles Gesicht. Ein stolzes Gesicht, das sich Tränen verbietet und zur Hälfte hinter der Hand verschwindet. „Broken“, sagt sie. So fühle sie sich. Gebrochen.
Im Januar 2020 brachte sie auf Bornholm ihr zweites Kind zur Welt. Ayah heißt die Tochter, und alles lief nach der Entbindung, wie es sein sollte, vorerst. Ayah, ein gesundes Baby, lernte, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Ayah zog sich voran. Dann krabbelte sie. Ayah aß Gemüsestücke. Da war sie sechs Monate alt.
Als Ayah neun Monate alt wurde, konnte sie plötzlich ihren Kopf nicht mehr heben, wenn sie auf dem Bauch lag. Statt sich auf den Übergang in die Aufrechte vorzubereiten, ging es nicht weiter. „Schlimmer“, sagt die Mutter, „sie verlor Fähigkeiten.“ Die Kraft versagte der Tochter, einen Plastiklöffel zum Mund zu führen. Man musste sie wieder füttern. Was war das bloß für eine Schwäche?
Alarmiert wandten sich Mithika und ihr Mann Frank Lundt an Spezialisten in Kopenhagen. Die fanden heraus, dass Ayah an spinaler Muskelatrophie leidet, kurz SMA, einer seltenen, degenerativen Erbkrankheit, bei der Muskeln nicht mehr richtig aufgebaut werden. Die Eltern lernten, dass sich der Zustand ihres Kindes mit jedem weiteren Tag verschlechtern werde. Medikamente könnten diesen Prozess verlangsamen, aufhalten würden sie ihn nicht – bis auf eines, das jedoch in Dänemark nicht zugelassen sei, es koste 2,4 Millionen Dollar. Man könne es in den USA erhalten. Auf eigene Rechnung.
„Jeden Tag denke ich seither an die Kosten“, sagt Mithika Lundt, „das ist niederschmetternd. Welche normale Familie soll solche Summen aufbringen können?“
Wenn die Lundts auf einer Seite des Elends stehen, dann bewegt sich Holger Reithinger auf der anderen. Dem Überfluss.
Allein im schwierigen Coronajahr hat die Fondsgesellschaft, für die er tätig ist, 700 Millionen Euro von Anlegern eingesammelt, um sie in Biotech-Ideen zu stecken. Forbion mit Sitz im niederländischen Naarden und einem Büro in München zählt zu den fünf größten Investoren in diesem Bereich. Dennoch teilt Reithinger, Biologiestudium, kahler Kopf und lässig um den Hals geschlungener Baumwollschal, mit den Lundts dasselbe Problem: Er braucht große Summen für den Erfolg.
Mit dem 55-jährigen Manager über das Verhältnis von Geld und Gesundheit zu reden, lässt diesen sofort davon sprechen, wie schwer man sich in Deutschland damit tue, Risikokapital in medizinische Innovationen zu stecken. Das sei eine Frage der Mentalität, einerseits, des Umgangs mit Risiken in diesem Land. Aber nicht nur. „Unser Anspruch ist“, sagt er über die Investmentstrategie von Forbion, „nur Produktideen zu unterstützen, deren medizinischer Nutzen wirklich relevant ist. Wenn wir das Leben eines Patienten entscheidend verändern, glauben wir, dass die Gesellschaft dann auch bereit sein müsste, diesen Zugewinn an Lebensqualität zu bezahlen.“
Ist sie das?
Auch deutsche Eltern waren mit dieser Frage konfrontiert. Es ist noch nicht lange her, dass sie vor Gericht um dasselbe Präparat Zolgensma kämpfen mussten, das jetzt Ayah in Dänemark benötigt und das als „teuerstes Medikament der Welt“ durch die Presse ging. Da jene Kinder mit SMA, die es früh bekommen, ein mehr oder weniger beschwerdefreies Leben führen, geht seine Wirkung deutlich über alternative Mittel hinaus. Ganz ohne Risiko ist es allerdings auch nicht.
Das Problem ist, dass Zolgensma nur bis zum zweiten Lebensjahr und einem Körpergewicht von 21 Kilogramm gegeben werden darf. Wachsen Kinder aus diesem Zeitfenster heraus, ist die Chance vertan. Während des Videotelefonats an einem Montagnachmittag im Mai sitzt Ayah auf dem Arm ihrer Mutter und kämpft mit dem Gleichgewicht. Sie wiegt jetzt zehn Kilogramm. Ihr läuft die Zeit davon.
Wenn die Wende des Geschicks nur eine Spritze und umgerechnet 2,2 Millionen Euro weit entfernt ist, zeigt das, wie stark die Genforschung und eine neue Generation von Präparaten die Gesellschaft herausfordern. Denn: Warum ist etwas, das so viel Gutes bewirkt, so teuer und so schwer zu erhalten? Ist es fair, Medikamente wie seltene Bodenschätze zu behandeln? Welchen Preis darf Gesundheit haben?
Zolgensma ist eines der ersten Genpräparate auf dem Markt, die eine Tür in die Zukunft aufgestoßen haben. Die beiden in Deutschland entwickelten mRNA-Impfstoffe von Biontech und Curevac verdanken sich einem vergleichbaren Ansatz. Und wen man auch fragt in der Biotech-Szene, der ist mit Blick auf deren Erfolg derzeit entzückt darüber, dass die Wertschöpfung endlich wieder in dem Land stattfindet, in dem die Grundlagen gelegt wurden. Meistens laufe es nämlich so, sagt ein Insider, dass die Forschungsergebnisse aus deutschen Universitäten „viel zu günstig ans Ausland verkauft“ würden. Unvermeidlich sei das, solange nur der Finanzkreislauf an der Wall Street das nötige Kapital bereitstelle, weiter voranzukommen.
Die Corona-Krise hat Prozesse beschleunigt, die ansonsten quälend zäh voranschreiten, und es gibt nicht wenige, die hoffen, dass sich dadurch ein neuer Biotech-Boom ankündigt. So flossen im vergangenen Jahr über drei Milliarden Euro in deutsche Startup-Firmen.
Doch kaum etwas ist so langwierig und stark reglementiert wie die Herstellung eines Mittels, „das in den Menschen reinkommen soll“, wie es eine Medizinerin ausdrückt. Und bejubelt werden die Ergebnisse meistens auch nicht, weil Gentechnik im Verdacht steht, am Erbmaterial des Menschen rumzupfuschen, ohne dass die Folgen abzuschätzen wären.
In Deutschland mussten die Krankenkassen zur Übernahme der 2,2 Millionen Euro für die SMA-Therapie Zolgensma in Eilverfahren gezwungen werden. Noch immer gibt es vereinzelt juristische Auseinandersetzungen darum. Der Streit hat viel damit zu tun, ab wann jemand als krank gilt. Ein Medikament, das den Verfallsprozess abbremse, sei Therapie genug, argumentieren manche Kassen für billigere Präparate. Da Zolgensma verabreicht werden muss, bevor oder kurz nachdem die ersten Symptome auftreten, meinen andere, dass die jungen Patienten noch zu gesund seien, um so hohe Ausgaben zu rechtfertigen.
Der Konflikt spitzt sich zu, weil die allgemein steigenden Kosten im Gesundheitswesen auch wohlhabendere Gesellschaften mit ihren solidarischen Versicherungssystemen vor eine harte Belastungsprobe stellen. Als alternde Gesellschaft musste Deutschland zuletzt Mehrausgaben von fast 19,3 Milliarden Euro im Gesundheitssektor kompensieren – schon vor der Pandemie. In einer am Montag veröffentlichten Studie warnt die DAK vor einem Defizit von 27 Milliarden Euro bis 2025, was die Handlungsfähigkeit der gesetzlichen Kassen bedrohe.
Arzneien tragen zu dieser Entwicklung durch eine seit 2018 besonders auffällige Kostenexplosion bei. Die Ausgaben haben sich in nur zwei Jahren vervierfacht. Preistreiber sind eine kleine Anzahl teurer Wirkstoffe. Die AOK kritisiert , dass knapp die Hälfte der Kosten auf Arzneien entfallen, die nur 6,5 Prozent der Versorgung abdecken. So haben sich die Jahrestherapiekosten von 91 Barmer-Versicherten auf jeweils über eine halbe Million Euro summiert.
Nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) stieg der durchschnittliche Packungspreis der im Jahr 2017 neu auf den Markt gekommenen Medikamente um 140 Prozent: von 1300 Euro auf 3100 Euro. Im Innovationsreport der größten deutschen Kasse ist auch Zolgensma als erste Gentherapie aufgeführt. Obwohl der medizinische Nutzen von den Wissenschaftlern nicht bezweifelt wird, beklagen sie eine völlig intransparente Preisgestaltung. „Der Markt reguliert sich nicht selbst“, sagt TK-Chef Jens Baas. Denn auf dem hoch komplexen Gebiet von Bio-Technologien gibt es kaum direkte Konkurrenz. „Fortschritt kann nicht die Rechtfertigung sein, Kosten unendlich in die Höhe zu treiben“, sagt er.
Der Schock von Millionensummen für eine einzige Anwendung sortiert die Prioritäten neu.
Plötzlich fällt auch den Kassen auf, wie wenig sie über Folge- und Nebenkosten mancher Krankheiten wissen. Sollten künftig für die Wenigen, die an einer der 8000 „seltenen Krankheiten“ leiden, die Mittel nicht vorhanden sein?
Spinale Muskelatrophie ist eine der seltenen Krankheiten, aber unter ihnen diejenige, die am häufigsten auftritt. Eins von 10.000 Neugeborenen leidet unter dem Gendefekt, der unbehandelt und bei besonders schwerem Verlauf innerhalb von zwei Jahren zum Tod führt, weil auch die Atemmuskulatur angegriffen wird. Bis 2012 konnte SMA des schwer verlaufenden Typ-1 nur palliativ behandelt werden. Man begleitete die Kinder in den Tod, mehr konnte man nicht tun. Mit Spinraza wurde dann ein erstes Präparat verfügbar, das den angeborenen Defekt mit einer Protein-Prothese überbrückt. Mittlerweile gibt es mit Rizdiplam sogar ein weiteres. Allerdings müssen beide regelmäßig im Abstand von Wochen verabreicht werden. Allein im ersten Jahr beläuft sich die Rechnung auf 461.000 bzw. 288.000 Euro.
In Deutschland werden jedes Jahr etwa 80 Kinder mit Spinaler Muskelatrophie geboren, in Dänemark zwei. Auf Bornholm ist Ayah Lundt überhaupt die Einzige mit einer solchen Krankheit, weshalb die Familie mindestens zweimal pro Monat eine Propellermaschine besteigt, um für die obligate Spinraza-Dosis in die Hauptstadt zu reisen.
Sechs Monate liegt der Tag der Diagnose nun zurück. Ein halbes Jahr, in dem Europa mit der zweiten und dritten Corona-Welle zu kämpfen hatte und vom Schicksal eines Babys nicht weiter Notiz genommen wurde, das mit jedem Tag hinter die altersgerechte Entwicklung zurückfiel. Da es am mittelschweren SMA-Typ 2 leidet, ist es nicht unmittelbar vom Tod bedroht. Doch eine Verzögerung der Therapie um jeden Tag wird gravierende Folgen für das weitere Leben des Mädchens haben.
Die Lundts gründeten eine Stiftung, setzten die Website „HelpAyah“ auf und weiteten ihre Kampagne auf Social-Media-Plattformen wie Gofund.me aus. Zuletzt haben amerikanische Prominente wie Kim Kardashian Beiträge überwiesen. So ermutigend es ist, den Berg an Zuwendungen auf mittlerweile 1,8 Millionen Dollar anwachsen zu sehen, wächst auch die Sorge der Eltern, nicht genug zu unternehmen.
Sie sei „erschöpft“, sagt Mithika Lundt am Telefon, das Mobilgerät hat sie vor sich auf den Schreibtisch gestellt und spricht in die Kamera. Am Morgen sei sie um vier Uhr aufgewacht, viel zu früh, um das Schlafdefizit aufzuholen, das ihr nachts entsteht. Bis Mitternacht hat sie auf Instagram um Spenden geworben. Erst mit einem Livestream, anschließend hat sie Mails beantwortet.
Als Bittstellerin dazustehen, strengt sie an. Wenn sie sich nicht immer wieder sagte, dass sie das alles nur für ihre Tochter tue, hätte sie längst aufgegeben. „Aber was soll man machen, wenn man weiß, dass es irgendwo etwas gibt, das dein Kind retten kann?“ Für die noch fehlende Restsumme haben sie die Parole ausgegeben, dass 84.000 Leute jeweils fünf Dollar geben müssten.
Das sind immer noch große Zahlen. Aber nicht für Holger Reithinger.
Risikofonds sind heute die einzige Geldquelle für medizinische Fortschritte, seit die klassische Pharmaindustrie diesen Bereich nicht mehr abdeckt. Traditionsunternehmen wie Boehringer-Ingelheim haben eigene Investmentsparten aufgebaut, um ihr Geld in Biotech-Startups zu stecken. Vergangenen Sommer konnte das Berliner Unternehmen T-Knife, das in der Krebsforschung aktiv ist, auf diese Weise 66 Millionen Euro einsammeln.
Auch Zolgensma verdankt sich der Wette von Anlegern. Seine Geschichte steht exemplarisch für die Verbindung von Risikokapital und Forschung.
Begonnen hat es mit der Not der Eltern von Sophia Gaynor, eines Mädchens, das 2009 in New York mit dem SMA Typ-1 geboren wurde. Sie suchten verzweifelt nach einer Rettung für ihre dem Tod geweihte Tochter. Dabei stießen sie auf die Forschungen des US-Mediziners Brian Kaspar aus Ohio, der sich intensiv mit der Frage beschäftigte, wie das zentrale Nervensystem über die Blut-Hirn-Schranke hinweg mit Wirkstoffen angesteuert werden könnte. Kaspar setzte auf Viren, die er als Träger einzuschleusen hoffte. Gerade erst hatte er eine Studie in „Nature Biotechnology“ veröffentlicht, in der er die Bedeutung dieser Methode für Muskelerkrankungen wie SMA (und ALS) beschrieb.
Die Gaynors gründeten eine Stiftung und trieben Geld ein, um Kaspars Forschungen weiter voranzutreiben. Nach Recherchen des NDR und WDR brachten sie 2,3 Millionen Dollar auf. Als Kaspar 2013 von der US-Arzneimittelbehörde FDA erlaubt wurde, das neuartige Medikament in einer klinischen Studie an Babies zu testen, teilte das federführende Nationswide Children Hospital mit, dass die Stiftung der Gaynors „Hauptfinanzier dieser Forschung“ sei.
Kurz darauf übertrug das Kinderkrankenhaus die Rechte an dem Medikament jedoch an eine Firma namens Avexis, die von Kaspar mit Hilfe von Finanzinvestoren initiiert worden war. Auch das Krankenhaus blieb an dieser Ausgründung beteiligt. Als es seine Aktien 2017 verkaufte, sollen diese 36 Millionen Dollar wert gewesen sein.
Der erweiterte Kreis an Geldgebern war nötig, weil Avexis Patente dazukaufen musste von Laboren in den USA und Frankreich. Je weiter der Wirkstoff gedieh, desto aufwendiger wurde seine Vollendung. Um Ausgaben von insgesamt 580 Millionen Dollar zu bewältigen, die die Bilanzberichte bis 2017 auswiesen, wurden mehr als ein Dutzend Finanziers hinzugewonnen, darunter auch große Anleger wie Blackrock. 2018 verkaufte dieses Konsortium seine Anteile an den Schweizer Pharmakonzern Novartis. 8,7 Milliarden Dollar ließ der sich den Erwerb der Firma kosten. Für einige Anleger, die früh überzeugt gewesen waren von der Idee, hieß das, dass sich ihr Vermögen binnen weniger Jahre um das Dreihundertfache vergrößert hatte.
Es war einer dieser Champagnermomente, bei denen sich selbst Kenner erstmal wunderten, warum ein Unternehmen bereit war, solche Summen für eine relativ kleine Patientengruppe aufzuwenden.
Novartis begründet den hohen Preis für Zolgensma nicht mit seinen Investitionen oder mit der geringen Anzahl an Patienten, sondern mit dem „Wert der Therapie“ für die Gesellschaft. Da durch die einmalige Gabe alle weiteren Maßnahmen ersetzt würden, die ein Leben lang mit kostspieligen Krankenhausaufenthalten verbunden wären, könnten Behandlungskosten von 400.000 bis 1,9 Millionen Euro pro Patient eingespart werden, so die Prognose des Unternehmens.
Dennoch: Einen Lebensretter im Gegenwert einer Luxusyacht anzubieten und zu wissen, dass er für unversicherte Menschen unerreichbar bleibt, ist offenbar selbst Novartis ein bisschen unheimlich. Und hat das Unternehmen veranlasst, eine Art Losverfahren zu initiieren. Über sein Managed-Access-Programm stellt es 100 Dosen pro Jahr kostenlos zur Verfügung. Familien auf allen Kontinenten profitieren davon. Die Lundts nicht.
Die Initiative offenbart das Dilemma des Konzerns. Welchen Trost haben SMA-Familien, wenn sie bei der Vergabe unberücksichtigt bleiben? Ob es nun Mangel an Geld ist oder an Glück, ändert nichts daran, dass Kranke geheilt werden wollen, egal wie, egal wovon. Und dass eigentlich auch niemand sie leiden sehen will, egal woran.
Sie habe nie wirklich Zeit gehabt, den Schock zu verarbeiten, sagt Mithika Lundt, die gestresste Mutter und studierte Betriebswirtin, und atmet durch. Für Trauer war kein Platz. „Stattdessen trägt man sein Leben in die Öffentlichkeit.“ So hätten sie einen Grad an Verausgabung erreicht, in dem sie die Erschöpfung körperlich spüre, denke, „dass wir zu viel von den Menschen verlangen“.
Insbesondere in Dänemark sei es schwierig, die Leute zu Spenden zu bewegen, pflichtet ihr Mann Frank ein paar Tage später bei. Der 40-jährige Ingenieur meint, dass sich die Unterstützung seiner Landsleute auf wenige tausend Spender beschränke mit einer geschätzten Summe von einer halben Million Kronen, was 67.000 Euro entspricht. Obwohl er oft höre, dass seine Tochter die teure Therapie unbedingt bekommen solle, sehen fast alle die Regierung in der Pflicht. Und tun selbst nichts. „Das Gesundheitssystem hat hier eine Mentalität geschaffen“, sagt der Däne, „die den Einzelnen aus seiner Verantwortung entlässt. Dabei gibt es viele, die wissen gar nicht, dass sie selbst Träger des Gendefekts sein könnten.“
Für Sophia Gaynor kam Zolgensma zu spät. Das mittlerweile zwölfjährige Mädchen ist außerstande, sich zu bewegen, es liegt, muss beatmet und rund um die Uhr gepflegt werden. 2015 stellten die Eltern ihre Bemühungen ein, sich öffentlich um Unterstützung zu bemühen. Sie würden fortan „im Hier und Jetzt“ leben, schrieb Sophias Vater in einem letzten Internetbeitrag, das sei schwierig genug.
Als Initiatoren haben die Gaynors am wenigsten von Zolgensmas Erfolg profitiert. Aus Liebe geht kein Profit hervor. Sondern aus Risiko.
Vor dieses Problem sieht sich auch Simone Spuler gestellt, Molekular-Medizinerin in Berlin, die eine „neuartige Therapie“ zur Bekämpfung von Muskelschwund entwickelt. Sie glaubt, eine Methode gefunden zu haben, bei der den Patienten ihr eigenes, von einem Gendefekt bereinigtes Zellmaterial wieder zugeführt wird. Sie haben das Verfahren an Zellkulturen und Tieren getestet. Jetzt muss der nächste Schritt folgen. Dafür braucht auch sie viel Geld. Das Gespräch möchte die Forscherin an der Seite ihrer Kollegin Verena Schöwel-Wolf führen, der Geschäftsführerin des noch zu gründenden Unternehmens. Sie soll den Schritt organisieren, aus Grundlagenforschung ein Produkt zu kreieren. Beide rechnen mit einer Kostenexplosion um das Zwanzigfache.
In ihrem Institut kann man Spuler für gewöhnlich an einem großen Bildschirm sitzen sehen, auf den eine dünn geschnittene Muskelprobe projiziert wird. Sie stammt von einem der mehr als 2500 Patienten mit jeweils einer von 150 unterschiedlichen Muskelkrankheiten, die in der Charité behandelt werden. Von denen verlaufen 40 bis 45 sehr schwer. Aus dieser Gruppe hat sich Spulers Team fünf herausgesucht, um deren genetische Ursache zu verstehen.
Der Muskel sei ein perfektes Organ für eine Gentherapie, erklärt Spuler. Obwohl Organe wie Herz, Bauchspeicheldrüse, Leber, Niere ebenfalls alle möglichen Krankheiten haben können, würden sie im Zweifel operiert und ersetzt. „Aber der Muskel ist von Haaransatz bis Zeh überall. Und wenn man da nicht mit einer generalisierten Gentherapie rangeht, kann man nie etwas behandeln.“
Noch hat sich die Professorin im Prinzip nicht aus ihrer Welt hinausbewegt, in der jeder Cent an Förderanträge gekoppelt ist. Zwei Jahre hat das Ministerium für die Bewilligung des letzten Forschungsantrags gebraucht. Solche Zeitspannen muss man als Forscherin zu überbrücken lernen. „Bis man weiß, dass der Weg ein Ergebnis bringt, und damit meine ich ein Ergebnis für eine eigentlich unheilbare Krankheit, kann man schon mal 20 Jahre seines Lebens verbringen.“
Jetzt habe sie endlich „einen therapeutischen Durchbruch erzielt mit einem Produkt, das in dieser Qualität niemand sonst auf der Welt herstellt. Jetzt muss es auch einen Weg zurück zum Patienten geben. Den müssen wir finden.“
Dass jemand glaubt, er habe einen „Durchbruch“ erzielt auf seinem Gebiet, hört Holger Reithinger oft. Über tausend Projekte bekommt seine Fondsgesellschaft im Jahr angeboten, in ihr Portfolio nimmt sie jährlich fünf bis sechs auf. Seine Aufgabe sei es, sagt Reithinger, Wissenschaftler mit einer genialen Forschungserkenntnis erst mal aus ihrem Elfenbeinturm herauszuholen und ihnen klarzumachen, „was es da draußen alles schon gibt“.
Bei einem interessanten Ansatz wie dem von Spuler und Schöwel-Wolf horcht er allerdings auf. Denn in der Muskelforschung gebe es nicht so viel Innovatives wie etwa im Bereich von Krebstherapien. „Im Biotech-Bereich ist allerdings entscheidend“, erklärt Reithinger seinen Fokus, „wie diese Innovation gehandhabt wird. Denn es ist eine hoch komplexe Materie, und der Markt ist extrem reguliert. Hier werden ja keine Apps entwickelt, die, wenn sie nicht funktionieren, ein Update bekommen. Menschen kommen zu Schaden oder sterben, wenn das Medikament falsch konstruiert wird. Deshalb kommt es wesentlich auf den Wissenschaftler an, der all diese Gefahren bedenken muss.“
„Meine Welt ist das nicht“, sagt Simone Spuler über die ihr bevorstehenden Gespräche mit potenziellen Geldgebern. Sie mache aber gute Erfahrungen, sagt sie. „Es ist nicht plötzlich alles schlecht, weil jetzt das Thema Geld eine Rolle spielt.“
„Wir geben unser Geld, ohne zu wissen, was am Ende rauskommt“, sagt Fondsmanager Reithinger. Viel öfter als eine wissenschaftliche Idee sich als sinnvoll erweise, scheitere sie. Manchmal erst sehr spät. Wie überhaupt die finanzielle Hauptlast erst gegen Ende aufgewandt werden muss.
„Geld ist eine Möglichkeit, die Sache zu beschleunigen, und nur um diese Zeit, die wir einsparen können, geht es“, fügt Schöwel-Wolf hinzu. „Wenn man ständig Anträge stellen muss, wird man nie so schnell sein, als wenn einen tatsächlich jemand unterstützt.“
Reithinger schätzt: Auf hundert Ideen kämen nur drei bis vier, die sich auszahlten. „Das geht finanziell nur, weil der Erfolgsfall alle misslungenen Versuche ausgleicht.“
Wichtig sei, dieselben strategischen Ziele zu entwickeln, sagt Spuler, „weil für uns essenziell ist, die Patente nicht aus der Hand zu geben“.
Dass die Professorin mit ihrer ruhigen, klaren Art doch schon gelernt hat, die eigene Leistung herauszustellen, merkt man daran, wie sie über das Alleinstellungsmerkmal ihrer Arbeit spricht. Sie wisse gar nicht, wo sie da anfangen solle, scherzt sie, „so einzigartig ist es“.
Um diese Einzigartigkeit tobt ein zuletzt eskalierender Streit. Nach Ansicht des wissenschaftlichen Instituts der AOK sind es vor allem die patentgeschützten Arzneien, die der Pharmaindustrie „hohe Gewinne auf Kosten der Beitragszahlenden ermöglichen“. Während immer teurere Medikamente immer weniger Menschen zugutekämen, hätten die umsatzstärksten Pharmahersteller ihre Gewinnmargen weltweit auf durchschnittlich 24,7 Prozent ausgebaut. Reithingers Fonds erwirtschafteten Renditen von etwa 20 Prozent, sagt er.
Da Biotech-Labore zunächst keine Umsätze machen, besteht ihr eigentliches Vermögen aus den Schutzrechten, die sie sich mit jedem Entwicklungsschritt erarbeiten. Sie zu entrechten, würde vor allem die Forschung selbst treffen. Kein Biotech-Unternehmen sei in der Lage, sagt Reithinger, die Wertschöpfungskette von der Erfindung bis zum Markt alleine aufzubauen. Irgendwann brauche es einen Partner, der den internationalen Vertrieb und das Marketing übernehme. „Die Patente bedeuten für einen Pharmakonzern einen Zeitvorsprung und damit erheblichen Wert.“
Das eigentliche Problem liege woanders, glaubt Reithinger. So hätten die Anbieter von Gentherapien gute Argumente, wenn sie ihr Produkt gegen die Kosten aufrechnen, die ohne die Gabe der einen Dosis entstünden. „Wenn ein starker Raucher Behandlungskosten von 100.000 Euro für eine Lungenkrebstherapie bekommen muss, fragt niemand, ob er sie bekommen soll oder nicht. Wenn aber ein Kind mit einer Erbkrankheit auf die Welt gebracht wird und die Kosten in die Höhe schießen, gehen plötzlich die Alarmsirenen an.“
Über so viel Ignoranz kann Frank Lundt sich endlos empören. Er sitzt mit Ayah und seiner Frau im Auto auf dem Weg zum Flughafen und berichtet, seine Krankenkasse behaupte, die Kosten stünden in keinem Verhältnis zum Ertrag.
Mit Ende ihres zweiten Lebensjahres wird Ayah der dänischen Kasse bereits ein Drittel der 2,2 Millionen Euro gekostet haben, die für die Gentherapie verlangt werden. Nach sieben bis acht Jahren wird die Behandlung mit Dauertherapien für die Kasse ein Minusgeschäft. In Dänemark sollen sich die Pflegekosten für einen bewegungsunfähigen Erwachsenen auf jährlich eine Million Euro belaufen, hat Ayahs Vater herausgefunden.
„Aber wäre es nicht für alle besser“, sagt Lundt, „wenn Ayah sich eigenhändig den Hintern abwischen, aufrecht sitzen und einem Job nachgehen könnte, statt eine Belastung zu sein?“ Er glaubt: „Die warten hier nur darauf, dass eine Kopie herauskommt, die das Ganze billiger macht. Dabei ist es unser Steuergeld, das sie verschwenden.“
Anlagestrategen wie Joachim Rautter vom Berliner Peppermint-Fonds sagen, dass sich Volkswirtschaften nicht mehr leisten können, nur die Symptome von Krankheiten zu behandeln. Krankenkassen müssten umdenken. Denn sie würden „zu wenig prophylaktisch handeln“.
Gerade Gentherapien verlangen ihnen ab, vor Auftreten eines manifesten Krankheitsbildes große Summen für dessen Ausbleiben auszugeben. Wenn der Ausbruch von Nervenerkrankungen wie Alzheimer und Parkinson um einige Jahre hinausgezögert werden könnte, würde das der Gesellschaft Zig-Milliarden ersparen. In dieser Woche erst schoss der Aktienkurs des Wirkstoffentwicklers Biogen in die Höhe und zog sämtliche Biotech-Werte an der Börse mit, weil die Zulassungsbehörde FDA dessen Alzheimer-Präparat freigegeben hat.
Da es ökonomisch einfacher ist, finanzielle Belastungen zeitlich zu strecken, weil sie gleichzeitig erwirtschaftet werden können, stellen One-Shot-Therapien eine besondere Herausforderung an das System dar. Eine mögliche Lösung wäre, dass die Kassen die Beträge in Raten abbezahlen können.
Dass Novartis seine Preisbildung an den Kosten dessen orientiert, was der Konzern zu ersetzen verspricht, lässt ihn automatisch an den allgemein steigenden Gesundheitsausgaben partizipieren, statt diese zu senken. Solange das Hauptinteresse der Kassen jedoch sein muss, sich vor Überlastung zu schützen, bremsen sie Innovation.
Aus Geld mehr Geld zu machen, gilt nicht als nobler Zug, wenn es mit dem Leiden von Menschen einhergeht.
Angesprochen auf diesen moralischen Zwiespalt, streicht Reithinger mit einer Hand über seinen großen, kahlen Schädel, und seine unruhigen Augen fixieren einen Punkt weit weg. Er denke darüber oft nach, sagt er dann, die große Brille wie ein Visier tragend. Sicher, er mache Profite. Aber die würden wieder produktiv gemacht, indem sie in Innovationen flössen.
Bei seinen Anlegern beobachte er eine Tendenz: „Diese Leute sagen mir, dass sie sich natürlich einen zweiten Rolls-Royce oder eine weitere Wohnung in Berlin-Mitte kaufen könnten, aber spannender wäre es, wenn das Geld jungen Leuten mit Grips, einer guten Ausbildung und Idee zugutekäme. Wenn sie zwanzig von denen in einer Biotech-Firma einen tollen Job geben können, fühlen sie sich wohler. Das ist außerdem spannend, aufregend. Da bewegt man sich an der vordersten Front dessen, was möglich ist.“
Gier kann Leben retten.
Aber es ist ein langer Weg. Und wer ihn beschreitet, darf nicht auf den Glanz einer Wohltat hoffen.
Längst ist Zolgensma schon nicht mehr das teuerste Medikament der Welt. Es gibt nun eines, für das der Hersteller fast 2,9 Millionen Euro haben will. Es braucht nur diese eine Dosis für eine Krankheit, von der haben Sie noch nie gehört.
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Einschübe:
2,2 Mio. Euro kostet
die Dosis Zolgensma
700 Mio. Euro hat der Biotech-Fonds
Forbion 2020 eingesammelt
3 Mrd. Euro flossen 2020 in deutsche
Biotech-Startups
19,3 Mrd. Euro betrugen die Mehrausgaben
im deutschen Gesundheitswesen 2019
„Wenn wir das Leben des Patienten entscheidend verändern können, glauben wir, dass die Gesellschaft bereit sein müsste, diesen Zugewinn an Lebensqualität zu bezahlen.“
Holger Reithinger, Forbion
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Bildunterschriften:
Wert des Fortschritts. Das Pharmaunternehmen Novartis begründet den hohen Preis für sein Präparat damit, dass durch die einmalige Gabe lebenslange Therapien und kostspielige Krankenhausaufenthalte eingespart werden.
AYAH LUNDT
In Deutschland werden jedes Jahr etwa
80 Kinder mit Spinaler Muskelatrophie
geboren, in Dänemark zwei.
Holger Reithinger, 55, verwaltet mit Forbion die größten Biotech-Fonds
Simone Spuler, 58, forscht in Berlin an einer Gen-Therapie gegen Muskeldefekte