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Wer das Rentenalter in Südeuropa nicht hinterfragt, schwächt den ganzen Kontinent

von Michael Höfling
Die Welt vom 04.01.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Wer das Rentenalter in Südeuropa nicht hinterfragt, schwächt den ganzen Kontinent

Deutschland zahlt Milliarden für den EU-Wiederaufbaufonds. Mit dem Geld soll in die Zukunft Europas investiert werden. Doch gleichzeitig liegt das Renteneintrittsalter vor allem in Südeuropa unter dem hiesigen. Darüber muss dringend diskutiert werden

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) griff im vergangenen Mai zum großen Pathos, um für ihr Vorhaben zu werben: "Ja, die Auswirkungen der Krise sind so schwer, dass wir jetzt Investitionen in noch nie dagewesenem Ausmaß tätigen müssen. Gerade deswegen müssen wir sie so ausrichten, dass Europas nächste Generation dann auch die Früchte ernten können wird", sagte sie vor dem Europäischen Parlament.

Das wahrlich historische Projekt, von dem von der Leyen sprach, war der Wiederaufbaufonds, ein 750-Milliarden-Euro-Hilfsprogramm zur Bewältigung der Schäden und Folgen aus der Corona-Pandemie, die in der ersten Welle vor allem die europäischen Südländer schwer getroffen hatte - finanziert aus erstmals gemeinsam von der EU aufgenommenen Krediten. Deutschland zahlt gemäß seines Anteils am EU-Haushalt 202,5 Milliarden Euro ein und wird damit wohl mehr als 50 Milliarden Euro mehr zur Finanzierung der EU-Hilfen beisteuern, als es aus dem Paket erhält.

Der Wiederaufbaufonds ist ohnehin umstritten. Kritiker sehen darin den endgültigen Einstieg in eine Transfer- und Schuldenunion, einen Zustand, den die EU-Verträge ausdrücklich ausschließen. Dabei war die Nichtbeistandsklausel schon in der Euro-Krise durch den Rettungsschirm ESM stark aufgeweicht worden. Die Südländer müssen deshalb nun ein Zeichen setzen, dass sie das Geld auch tatsächlich in die nächste Generation von Europäern investieren und nicht für weitere soziale Wohltaten ausgeben. Dazu gehört, dass das Renteneintrittsalter endlich in ganz Europa angeglichen wird.

Die rote Linie zu gemeinsamer Haftung nun noch weiter zu verschieben, mag angesichts der Wucht der für die jüngere Zeit beispiellosen Pandemie als absolute Ausnahme noch vertretbar sein. Dann nämlich, wenn das von der EU aufgenommene Geld, wie von der Kommissionspräsidentin proklamiert, tatsächlich in Investitionen flösse, deren Früchte die "Next Generation EU" - so heißt schließlich das Schuldenprojekt - ernten kann. Digitalisierung, Bildung, Klimawandel: Die Felder, auf denen es im globalen Wettbewerb Rückstände aufzuholen gäbe, sind für Europa ja inzwischen zahlreich vorhanden.

Doch es wird immer klarer, dass die Sonntagsredner aus Brüssel - denen sich auch so manche aus Berlin inhaltlich immer weiter annähern - nicht halten, was sie versprechen. Davon, was Italien oder Spanien als Hauptempfänger der Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds Zukunftsträchtiges mit den Geldern anfangen wollen, hört man bisher eher wenig. Eines der Projekte sieht immerhin vor, dass Italiens Hausbesitzer sich jetzt kostenlos Photovoltaikanlagen aufs Dach bauen lassen können.

An sonstigen Ideen für die Verwendung des Geldes mangelt es freilich nicht, vor allem wenn es ums Soziale geht. Die neue Finanzierungsquelle bietet weiteren Spielraum, um die Haushalte der Mitgliedsländer nach innenpolitischen Prioritäten auszurichten. Das weckt Begehrlichkeiten. Spaniens Arbeitsministerium prüft bereits die Einführung einer Vier-Tage-Woche, und Italiens Außenminister Luigi di Maio kann sich auch allerlei Wohltaten vorstellen, in die die Milliarden aus dem Fonds fließen könnten.

Angesichts der neuerlichen Wucht der Verschuldung - und der zunehmend dringlichen Frage, wer dafür aufkommen soll - gerät aber jetzt auch ein grundsätzliches Thema zurück auf die Agenda, das schon seit Jahren meist abseits des Diskurses schwelt: Es geht um die EU-weiten Unterschiede beim Renteneintrittsalter und der Höhe der Altersbezüge im Verhältnis zu den Löhnen.

In Frankreich beziehen Männer ihr Altersgeld im Schnitt 22,7 Jahre lang, Frauen kommen sogar auf 26,9 Jahre. Auch in Griechenland, Italien und Spanien dauert der Ruhestand ungewöhnlich lange, wie Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen. In all diesen Staaten sind die Männer rund 21 Jahre in Rente, die Frauen bekommen ihre Altersbezüge im Durchschnitt mehr als ein Vierteljahrhundert lang.

Deutschlands Werte liegen dagegen lediglich bei 19,1 bzw. 22,5 Jahren. Wolfgang Steiger vom Wirtschaftsrat der CDU hat recht: Es ist kaum vermittelbar gegenüber Arbeitnehmern in Ländern wie Deutschland oder Schweden, dass sie Länder wie Italien und Spanien unterstützen, aber bei der Rente deutlich schlechter gestellt werden.

Die Scheu der Regierungen in den Südländern, die Rentensysteme endlich an die demografischen Begebenheiten anzupassen, wie es selbst in Deutschland noch nicht in ausreichendem Maß geschieht, wird auch damit begründet, populistische Bewegungen nur so kleinhalten zu können. Doch mit diesem Argument lässt sich die Liste der einzufordernden sozialpolitischen Begehrlichkeiten ins Endlose verlängern.

Wer selbst oder über seine Kinder und Enkel dazu ausersehen ist, in diesem ungeheuren ökonomischen Abenteuer - und davon ist ja der Wiederaufbaufonds nur ein kleiner Teil - zu den Nettozahlern zu gehören und für das große Ganze zu haften, dem muss eine Frage gestattet sein: Wie will man ihn für eine europäische Solidarität gewinnen, die sich knallhart in Euro und Cent bemisst, wenn nicht zuallererst aus den Südländern der Wille zur Anpassung der Rentenbedingungen signalisiert wird - als kleines Zeichen, dass man bereit ist, den Kahn gemeinsam wieder flottzumachen und der "Next Generation EU" wirklich eine Rendite aus dem Fonds in Aussicht zu stellen?

Die Frage ist legitim, sie gehört gestellt und öffentlich diskutiert. Wer sie als europafeindlich diskreditiert, die Debatte darüber abwehrt, weil sie den Falschen in die Hände spiele, der erweist dem Wunsch nach einem solidarischen Europa, das gemeinsam und friedlich versucht, seiner Dauerkrise Herr zu werden, einen Bärendienst. Den Populismus, den man zu bekämpfen vorgibt, macht man damit nur stärker.