Wenn man nichts hat, gibt einem das die Freiheit, furchtlos zu sein
von Lisa Nienhaus
Zeit Magazin vom 25.02.2021
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Wenn man nichts hat, gibt einem das die Freiheit, furchtlos zu sein
Wie Katalin Karikós sturer Glaube an die Kraft eines Moleküls die modernen Corona-Impfstoffe möglich machte
Die Ungarin Katalin Karikó wurde in ihrem Job belächelt, behindert und mehrfach entlassen. Doch ihre Forschung machte die ersten in Europa und den USA zugelassenen Corona-Impfstoffe möglich. Eine Geschichte vom unbedingten Glauben an eine Idee
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Man würde nicht vermuten, dass eine 66-jährige Forscherin, die sich der Heilung von Krankheiten verschrieben hat, viel für einen Film über sich prügelnde Männer übrighat. Doch bittet man Katalin Karikó, ihren erstaunlichen Lebensweg zu erklären, fragt sie: »Haben Sie Fight Club gesehen?«
David Finchers Psychothriller kam 1999 in die Kinos. Er handelt von Männern, die, gelangweilt von einem mittelerfolgreichen Leben, beginnen, einander zu verdreschen, um sich lebendig zu fühlen. Und es gibt darin diese eine Szene, in der ein Mann, gespielt von Brad Pitt, einem anderen ein ätzendes Laugenpulver über die Hand schüttet. Brad Pitt hält den Arm des anderen fest, und als der Mann schreit und sich windet, sagt Pitt: »Nur wenn wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun.«
Mit diesem Satz erklärt Karikó, warum sie glücklich und erfolgreich sein konnte ohne klassische Karriere, Titel und Macht, ja sogar obwohl sie Posten verlor. »Wenn man eine Position hat, dann denkt man: Oh nein, vielleicht werde ich das verlieren!«, sagt sie. »Wenn man aber nichts hat, gibt einem das die Freiheit, furchtlos zu sein.« Viele glaubten, eine Führungsposition mache sie mächtig, weil sie Leute einstellen und feuern könnten. »Aber keine richtige Position zu haben kann einen auch sehr mächtig machen.«
Das ist, in Kurzform, die Lebensgeschichte der Forscherin, Pionierin, Abenteurerin Katalin Karikó.
Immer wieder hatte sie wenig zu verlieren. Als sie auszog, um als Tochter eines Metzgers vom Land in der Stadt Biologie zu studieren. Als sie 1985 ihre Heimat Ungarn in Richtung Vereinigte Staaten verließ. Und auch, als sie von der eigenen Universität degradiert wurde. Katalin Karikó wurde in ihrem Job behindert, an den Rand gedrängt, belächelt – meist für ihre feste Überzeugung, dass ein kleines, ziemlich instabiles Molekül irgendwann einmal Menschenleben würde retten können. So ist ihre Geschichte eine vom unbedingten Glauben an eine Idee. Vom Durchhalten. Vom unwahrscheinlichen Sieg des Starrsinns. Es ist aber auch die Geschichte einer großen Liebe.
»Haben Sie das gesehen?«, ruft sie und springt auf. »Da drüben!« Auf dem Bildschirm, 6260 Kilometer von ihr entfernt, sieht man sie nach draußen deuten. Sie dreht die Kamera Richtung Fenster. Etwas Schmales, Dunkles huscht über eine tiefe Schneedecke. Ein Fuchs. »Schon zum dritten Mal, während wir sprechen!« Karikó lächelt. »Die ganze Zeit läuft er hin und her.« Katalin Karikó lebt in einem Vorort von Philadelphia. Zurzeit arbeitet sie im Homeoffice, was in ihren Augen nicht ganz so gut ist, wie im Labor zu sein, aber doch ziemlich gut, denn: Katalin Karikó liebt die Natur.
Sie wurde 1955 in Ungarn geboren, in einem Ort namens Kisújszállás. Die vierköpfige Familie wohnte in einem Lehmhaus mit nur einem beheizten Raum, in dem gegessen und geschlafen wurde. Es gab keinen Kühlschrank, kein fließendes Wasser, aber eine ungepflasterte Straße vor der Tür, die sich bei Regen in ein Matschparadies verwandelte. Die Kinder spielten und beobachteten. »Blumen, Bäume, Katzen, Vögel«, zählt Karikó auf. »Die Natur war überall um mich herum.«
Karikós Vater spielte Geige und konnte zweistellige Zahlen im Kopf multiplizieren. Doch er war nur sechs Jahre zur Schule gegangen, die Mutter acht. Ihren Kindern wünschten die beiden mehr Möglichkeiten. Karikó und ihre Schwester gingen aufs Gymnasium. Ihr Vater arbeitete in einer Metzgerei, manchmal beobachtete Karikó ihn dabei, wie er Schweine zerlegte. Sie fand das keineswegs abstoßend. Der Natur auf den Grund gehen, sie zerteilen, um sie zu begreifen – das war für sie nur der nächste logische Schritt ihrer Faszination.
Mit 14 nahm sie an einem landesweiten Biologie-Wettbewerb teil. Sie wurde Dritte. Als sie begann, Biologie zu studieren, begriff der Vater nicht ganz, was sie da werden wollte: eine Forscherin? »Lehrerin, das würde ich verstehen«, sagte er. »Aber etwas herausfinden? Im Labor? Was machst du denn, wenn du nichts findest?«
Heute, fast 50 Jahre später, ist klar: Karikó hat etwas gefunden, ziemlich viel sogar. Aktuell versucht sie von ihrem Schreibtisch in Philadelphia aus die Anfragen aus aller Welt zu bewältigen, die ihr E-Mail-Postfach fluten. Denn das, was einmal mit der Liebe zur Natur begann, hat nach vielen Jahren im Labor zu etwas geführt, das die ganze Welt gerade dringend benötigt: zu einem Impfstoff gegen Corona. Es ist Karikós Forschung, die die ersten in Europa und den USA zugelassenen Vakzinen der Hersteller Moderna und BioNTech gegen Covid-19 erst möglich gemacht hat.
Derrick Rossi, einer der Mitgründer der amerikanischen Biotech-Firma Moderna, hält die Entdeckung für eine Revolution. Anfang Februar sitzt er in seinem Arbeitszimmer, sein lila Hemd konkurriert mit seiner sechseckigen Hornbrille um die Aufmerksamkeit der Zuschauer, die sich online zugeschaltet haben. Er hält gerade eine Laudatio auf Karikó und ihren Kollegen Drew Weissman, die an diesem Tag den Lewis S. Rosenstiel Award bekommen. Eine Auszeichnung mit Vorhersagekraft: Von 93 Preisträgern haben bislang 36 später auch den Nobelpreis in Medizin oder Chemie erhalten. Rossi findet, auch Karikó und Weissman hätten den Nobelpreis verdient. »Ein neues Therapiemodell ist begründet worden und eine neue Industrie«, sagt Rossi. »Die grundlegende Entdeckung, die Karikó und Weissman gemacht haben, ist einer der ersten Schlüsselmomente in dieser Geschichte.« Rossi schließt mit den Worten: »Ich würde euch, Kati und Drew, gerne im Namen der Menschheit danken.«
Wer aus diesen pathetischen Höhen wieder hinabsteigt in Karikós Arbeitszimmer, der findet eine bodenständige Frau in einem angenehm ungestylten Zimmer vor: eine Schrankwand, ein Holzregal mit Büchern und einer Standuhr, ein paar Bilderrahmen. Katalin Karikós Welt ist ihre Familie, der Garten, das Labor. Stellt man ihr eine Frage zu ihrer Forschung, sprudelt sie los: RNA, DNA, mRNA, Sequenzieren, Synthetisieren, Transkribieren. Während man selbst immer weniger versteht, wird sie immer lebhafter. »Das ist Magie«, ruft sie, » oh my god! «
In den Siebzigerjahren arbeitet sie gerade im ungarischen Szeged an ihrer Doktorarbeit, als sie zum ersten Mal in Kontakt mit dem Stoff kommt, der ihr Leben bestimmen wird: RNA, Ribonukleinsäure. Es ist die Disco-Ära. Abends geht sie aus, tanzt, lernt ihren späteren Mann kennen. Tagsüber sitzt sie im Labor und versucht, RNA herzustellen. Später wird sie die Zeit als die glücklichste ihres Lebens bezeichnen. Und das liegt nicht nur am Tanzen, sondern auch an der RNA.
RNA hat viele Funktionen im Körper. Eine wesentliche ist es, genetische Informationen aus der DNA im Zellkern in die Zelle zu übertragen und sie so dazu zu bringen, Proteine herzustellen. Die RNA ist hier also als Bote unterwegs, der Nachrichten der DNA überbringt. Sie wird deshalb messenger-RNA (mRNA) genannt – und ist der Stoff, der in den Präparaten von BioNTech und Moderna steckt. Sie enthalten keine Virus-Bestandteile wie viele herkömmliche Impfstoffe, sondern bringen die Zellen dazu, Virusproteine herzustellen. Das Immunsystem bekämpft diese Proteine und trainiert so, das Virus zu besiegen.
Als Karikó ihre Doktorarbeit schreibt, ist mRNA schon bekannt, doch man kann sie noch nicht im Labor herstellen. Karikó experimentiert mit weniger komplizierten RNA-Formen, versucht, sie künstlich herzustellen, und prüft, ob sie antivirale Effekte haben. Das klingt für den Laien schon nah dran an dem, was ihr später zum großen Durchbruch verhelfen wird – als gäbe es eine einfache, schnurgerade Linie von der Idee zum Ziel und als wäre diese Forscherin einfach immer dieser Linie gefolgt. Doch die Realität der biochemischen Forschung ist sehr viel komplizierter.
Mitte der Achtzigerjahre verliert Karikó beruflich alles, was sie sich bis dahin aufgebaut hat. Die ungarische Pharmafirma, die ihr Labor finanziert hat, stoppt die Zahlungen. Karikó muss sich nach etwas Neuem umschauen, aber die Stellen, die in Ungarn für sie infrage kämen, langweilen sie. Routinejobs. »Ich dachte: Ich kann besser sein als das«, sagt sie heute. Sie schreibt Bewerbungen: nach London, Madrid, Montpellier – dann sogar nach Philadelphia. In Ungarn ist es damals möglich, als Forscher ins kapitalistische Ausland zu gehen – die Behörden glauben, dass die Wissenschaftler schon heimkehren werden, wenn sie Angehörige in Ungarn zurücklassen.
So führt der erste Rückschlag sie mit ihrem Mann und der damals zweieinhalbjährigen Tochter in eine andere Welt: nach Philadelphia. Als Karikó im Sommer 1985 dort ankommt, schickt sie einen Brief an die Mutter in Ungarn: Alles hat geklappt. Mehr Kommunikation ist nicht möglich. Ihre Eltern haben kein Telefon. Sie selbst und ihr Mann haben nur das, was sie aus Ungarn mitnehmen konnten: etwas Gepäck und den goldbraunen Teddy ihrer Tochter Zsuzsanna. In den Teddy hat Karikó alles Geld eingenäht, das sie besitzt: 900 britische Pfund, die sie auf dem ungarischen Schwarzmarkt für ihren alten Lada bekommen hat. In Ungarn ist der Besitz größerer Mengen Devisen damals verboten, deshalb schmuggelt sie das Geld im Teddy in die USA. Für die 900 Pfund gibt es rund 1000 Dollar. Das Startkapital für ihr neues Leben.
Der Anfang ist hart. Die Familie lebt in einem Apartmentblock, Karikós Mann spricht kein Englisch, mit ihrem Gehalt kommen sie nicht weit. Morgens fährt Karikós Mann erst seine Frau 45 Minuten zur Arbeit, dann die Tochter in den Kindergarten. Er, der in Ungarn Ingenieur war, verrichtet nun kleinere Arbeiten für andere: putzen, Rasen mähen, Autos reparieren. »Wenn du zu Hause bleibst, musst du keinen großen Antrieb entwickeln«, sagt Karikó über diese Zeit. »Wenn es Probleme gibt, hast du immer jemanden, der dir hilft. In Amerika hatten wir niemanden.«
Doch es gibt immer noch das Labor, die Wissenschaft. Und da passiert etwas Unerwartetes. Mitte der Achtzigerjahre wird ein Gerät mit dem Namen Thermocycler verfügbar. Es kostet damals rund 7000 Dollar, eine blaue Kiste, die einer Registrierkasse ähnelt und nun in Karikós Labor steht. Der Thermocycler kann DNA sehr schnell vermehren. Und daraus macht man wiederum RNA. Was früher ewig dauerte, ist auf einmal ganz einfach.
Und dann findet ein Wissenschaftler auch noch eine Möglichkeit, die mRNA ganz leicht in eine Zelle zu bringen, was zuvor ein komplizierter Vorgang war. »Schon nach einer halben Stunde sah man das Protein, das entstanden war«, erzählt Karikó. »Das war sensationell!« Karikó versenkt sich in ihre Arbeit, Stunden verbringt sie zwischen Reagenzgläsern und Thermocycler und über Forschungsarbeiten, auch am Wochenende.
Zu Hause berichtet sie begeistert von ihren Entdeckungen. In den Ferien nimmt sie ihre Tochter Zsuzsanna, in Amerika schnell Susan genannt, mit ins Labor. Und wenn Susans Freunde da sind, unterrichtet Karikó auch die: Erst bringt sie ihnen irgendetwas über die Welt um sie herum bei, dann fragt sie sie ab. »Was waren meine Freunde stolz, wenn sie die Fragen richtig beantworten konnten!«, sagt Susan. Sie selbst ist als Kind auch mal genervt von ihrer gescheiten Mutter, die von ihr stets ein A+ in Biologie verlangt, die beste Note. Und die immer, wenn die Tochter Hausaufgaben hat, ob Mathe oder Physik, sagt: »Oh ja, das weiß ich, das kann ich dir erklären.« Es gibt nur ein Fach, in dem die Mutter keine Erwartungen hat: Sport. Susan hält es für keinen Zufall, dass sie selbst genau darauf ihren Ehrgeiz richtet: Sie ist heute zweifache Olympiasiegerin im Ruder-Achter. Die Liebe ihrer Mutter für Naturwissenschaften mag sie nicht geerbt haben. Die Hartnäckigkeit schon.
Für Karikó läuft es in Amerika zehn Jahre lang gut, sie wechselt an die University of Pennsylvania, eine Eliteuniversität. Sie hat Mittel, sie forscht, sie lehrt. Doch dann ist ihr Forschungsbereich plötzlich nicht mehr angesagt. Die meisten Molekularbiologen beschäftigen sich in den Neunzigerjahren mit DNA statt mit RNA. Es läuft das Humangenomprojekt, die menschliche DNA soll vollständig entschlüsselt werden. Karikó schwimmt gegen den Strom. Sie ist sicher: mRNA ist die Zukunft. Mit ihr kann man irgendwann alles Mögliche heilen: Knochenbrüche, Folgen eines Schlaganfalls, Verbrennungen. »Für mich war es so logisch, aber alle anderen waren skeptisch«, sagt sie. Was auch mit dem Wesen der mRNA zu tun hat. Die ist recht instabil, baut sich schnell ab. Viele Forscher denken damals, so ein Stoff werde nie als Medizin taugen.
Dazu kommt ein Konflikt mit einer Kollegin, der in einen Machtkampf ausartet. »Wenn die Leute mich fragen, ob ich je einen Macho-Mann erlebt habe, dann sage ich: Mich haben mehr Männer unterstützt als Frauen«, sagt Karikó. Der Streit und die Tatsache, dass sie viele nicht von ihrer Forschungsidee überzeugen kann, führen 1995 zu Karikós Degradierung. Sie war Research Assistant Professor, nun ist sie bloß noch Senior Research Investigator, ein Titel, der eigens für sie kreiert wurde. Der Weg zum eigenen Lehrstuhl ist verbaut. Eine Demütigung.
Doch Karikó sucht ihr Glück nicht anderswo, wie andere in ihrer Lage das getan hätten. Sie bleibt, besorgt sich ihre Forschungsgelder fortan selbst – und macht weiter. Immer wieder lernt sie in den folgenden Jahren andere Forscher kennen, die ihre Begeisterung für mRNA teilen. Diese Kollegen kommen auch aus anderen Fachrichtungen, aus der Neurochirurgie zum Beispiel. Und aus der Immunologie, wie Drew Weissman. Er ist ein zurückhaltender Mann, der mit monotoner, fast roboterhafter Stimme spricht. Wenn er einen Witz macht, muss man genau hinhören, denn er verzieht keine Miene. Er ist das Gegenstück zur lebhaften, manchmal auch etwas ruppigen Katalin Karikó.
1997 ist Weissman neu an der Universität. Er bekommt sein Labor am anderen Ende von Karikós Flur. Die beiden begegnen sich am Kopierer, und der Dialog, an den beide sich noch heute erinnern, geht ungefähr so:
»Ich kann RNA machen«, prahlt Karikó.
»Ich will einen Impfstoff gegen HIV machen«, prahlt Weissman. »DNA funktioniert nicht, kann ich von dir RNA bekommen?«
»Kein Problem!«
Fortan hat Karikó einen Weggefährten, der ihr dabei hilft, ihre Idee zu verwirklichen. Doch gleichzeitig verliert sie an der Universität weiter an Boden. Drew Weissman sagt über Karikó: »Kati kann sehr einschüchternd sein. Ich glaube, viele haben Angst vor ihr. Aber in Wirklichkeit ist sie ein Mensch, der sich ungemein um andere sorgt.«
Wieso nur hat sie so lange durchgehalten? Wieso hat sie nicht das Forschungsgebiet gewechselt? Oder hingeschmissen? Weil sie ein Kind hatte, das zur Schule ging, später an der University of Pennsylvania studierte – und das ist nicht billig. Das ist der eine Teil der Wahrheit. Der zweite Teil ist, dass sie fest an ihre Idee glaubte. Störrisch kann man das nennen. Oder visionär. Der dritte Teil der Wahrheit ist ihr Fight Club- Motto: »Nur wenn wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun.« Genau das erlebt Karikó nun gezwungenermaßen. Jetzt, da sie degradiert ist, redet ihr niemand mehr rein. Sie ist frei.
Ausgerechnet in dieser eigentlich traumatischen Zeit macht sie ihre wesentliche Entdeckung. Denn im Labor erlebt sie auch beglückende Momente. Sie ist nicht abgelenkt durchs Lehren oder damit, ein Team anzuleiten. Über ihre Zusammenarbeit mit Drew Weissman sagt sie: »Da war kein Schweiß, wirklich nicht. Wir waren Enthusiasten!« Alle Energie steckt sie in ihre Experimente. Das Ziel ist es, die mRNA so zu verändern, dass sie dem Körper bei der Bekämpfung oder Verhütung von Krankheiten helfen kann. Karikó glaubt daran, dass die Experimente sie irgendwann zum Ziel führen. »Ich wusste doch, ich bin nicht blöd«, sagt sie.
Doch dann: wieder ein Rückschlag. Drew Weissman verwendet ihre künstliche mRNA – und stellt fest: Sie aktiviert die körpereigene Abwehr. Das klingt zunächst wie eine gute Nachricht, schließlich soll ein Impfstoff ja das Immunsystem anregen. Aber es ist in Wirklichkeit ein Problem. Das Immunsystem von Mäusen reagiert auf die künstliche mRNA mit tödlichen Entzündungen. Weissman und Karikó suchen nach einer Methode, um das zu verhindern. Nach vielen vergeblichen Versuchen findet Karikó einen Weg: Sie verändert kleine Teile der mRNA, die Nukleoside. Und siehe da: Auf einmal wird die mRNA nicht mehr vom Immunsystem attackiert. Und nicht nur das: Es wird auch zehnmal mehr Protein gebildet. »Das war unser Durchbruch. Ein Traum wurde wahr«, sagt Karikó.
Karikós und Weissmans Aufsatz dazu erscheint 2005. Das entsprechende Patent beantragt die Universität 2006. Es ist dieses Patent, für das Moderna und BioNTech später die Lizenz übernehmen werden. Und auf das sie sich stützen, als sie 2020 ihren Corona-Impfstoff entwickeln.
Man braucht diese Technologie nicht zwangsweise, um einen mRNA-Impfstoff herzustellen. Die Tübinger Firma CureVac etwa befindet sich inzwischen im Zulassungsverfahren für einen Covid-Impfstoff ohne Karikós Technik. CureVac-Gründer Ingmar Hoerr ist auch ein mRNA-Forscher der ersten Stunde, er macht es nur ein wenig anders. Allerdings geht es mit Karikós Technik offenbar besonders gut und schnell. Karikós und Weissmans Entdeckung ist ein Grund, warum ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie schon ein Impfstoff gefunden ist, auf dem die Hoffnungen unzähliger Menschen auf der ganzen Welt ruhen.
Ingmar Hoerr glaubt, dass Karikós und Weissmans Patent irgendwann nicht mehr wesentlich für die Herstellung von Impfstoffen sein werde. Aber Hoerr sagt noch etwas, nämlich, dass das Patent sehr wohl wichtig bleiben werde, und zwar für die Behandlung weiterer Krankheiten. Vielleicht kann man eines Tages mit mRNA ganz verschiedene Erkrankungen behandeln oder sogar dagegen impfen – HIV, Zika, Krebs. Was vor wenigen Jahren noch verrückt geklungen hätte, wirkt heute wie ein erreichbares Ziel.
Wer nun denkt, Katalin Karikó und Drew Weissman müss- ten heute mit den Lizenzgebühren Hunderte Millionen verdienen, der irrt. Das hat damit zu tun, dass nicht sie das Patent halten, sondern die Universität. So ist das üblich. Weissman und Karikó hatten nach ihrem Durchbruch schnell vor, die Ergebnisse zu den Patienten zu bringen. Also gründeten sie parallel zu ihren Uni-Jobs eine Biotech- Firma, die ihre Entdeckung in Produkte verwandeln sollte. Doch die Universität vergab die Lizenz an jemand anderen – und der vergab sie später an BioNTech und Moderna. So sind es die Universität und der Hauptlizenznehmer, die jetzt das meiste Geld verdienen. Karikó und Weissman ha- ben nur einen kleinen Teil bekommen. Ihre eigene Firma gibt es nicht mehr. Drew Weissman beklagt sich darüber nicht. Vielleicht hätten sie damals auch einfach nur schlecht verhandelt, sagt er, oder nicht genug Geld geboten. Er will die Universität dafür nicht öffentlich kritisieren. Eines aber habe sie definitiv falsch gemacht: »Dass sie Kati keine ordentliche Professur gegeben haben, das war ein Fehler.«
Das dürfte mittlerweile allen klar sein. Doch 2013 war das noch anders. Damals wird Karikó gebeten, ihr Labor zu räumen. Sie zieht zunächst in Weissmans Labor, aber dann, nach mehr als zwei Jahrzehnten, beschließt sie, die University of Pennsylvania hinter sich zu lassen. Sie geht in Rente, auch wenn die Universität sie offiziell immer noch als Dozentin führt. »An meinem letzten Tag habe ich das Labor verlassen, die Tür hinter mir geschlossen und den ganzen Weg bis zum Parkplatz geweint«, erzählt sie. »Dann habe ich nie wieder zurückgeschaut.«
Mit 58 Jahren fängt Karikó ganz von vorne an. Sie will in die Wirtschaft gehen. Natürlich um dort zu forschen. Wenn es um mRNA geht, gibt es nur eine Handvoll Arbeitgeber. Die Szene ist klein, man kennt sich seit Jahren. Sie hat Angebote von CureVac in Tübingen, von Moderna in den USA – und von BioNTech in Mainz.
An einem Sommertag 2013 trifft sie sich mit Uğur Şahin, dem Chef von BioNTech. Es gibt ein Foto von dieser Verabredung, da sitzen die beiden unter einem Sonnenschirm in einem Lokal in der Mainzer Innenstadt. Sein Unternehmen hat damals noch nicht einmal eine eigene Website. Als sie ihm erzählt, dass ihr Vater Metzger war, und Şahin sagt, dass sein Vater Fabrikarbeiter war, da weiß sie, dass sie mit ihm arbeiten will. »Es hat sofort klick gemacht.«
Heute hat Karikó ein kleines Team von sieben Leuten in Mainz. Lange hat sie dort auch die meiste Zeit des Jahres gewohnt, doch im März vergangenen Jahres fliegt sie zum Geburtstag ihres Mannes nach Hause. Ihr Rückflugticket im April kann sie wegen der Reisebeschränkungen nicht mehr nutzen. Als Reisen wieder möglich ist, lohnt es sich nicht mehr: Alle, die wie sie nicht im Labor arbeiten, sind im Homeoffice. Karikós Arbeitstage bestehen seither vor allem aus Telefonaten, Videokonferenzen, Lesen, Schreiben und dem Überprüfen von Experimenten.
Katalin Karikó leitet keinen Lehrstuhl, sie sitzt in keinem Vorstand, keinem Aufsichtsrat. »Ich bin glücklich«, sagt sie trotzdem. Wer nicht viel hat, hat die Freiheit. »Was zählt, ist die Wissenschaft, die wir hier machen.«
Mit ihrer alten Universität hat sie kurz vor Weihnachten 2020 noch einmal zu tun gehabt: Weissman und sie dürfen für einen Pressetermin zum Impfen kommen. Eine Helferin spritzt Karikó den BioNTech-Impfstoff. Das Molekül, dem sie ihr Leben gewidmet hat, wirkt jetzt in ihrem eigenen Körper.
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Bildunterschriften:
Katalin Karikó, 66, ist eine Kämpferin: Immer wieder musste sie in ihrem Leben von vorn anfangen
Im Teddy ihrer Tochter schmuggelte Karikó 1985 all ihr Geld aus Ungarn in die USA
Karikó 1989 im Labor – dem Ort, wo sie trotz aller Rückschläge immer glücklich war