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Wenn 0 Prozent zu viel Zins ist

von Philipp Krohn, Markus Frühauf, Jan Hauser, Dr. Christoph Hein, Martin Hock, Hanno Mußler und Dr. Philip Plickert
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.03.2021

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Wenn 0 Prozent zu viel Zins ist

Wenn Kommunen Steuereinnahmen parken, wollen sie damit kein Geld verlieren. Das hat einige zur australischen Greensill Bank getrieben. Die bot noch einen positiven Zins. Durch ihre Insolvenz wird es nun ungemütlich für die Kämmerer.

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Es ist ein langer Weg von den Zuckerrohrfeldern in Bundaberg im Norden des australischen Queensland bis zu den Bankentürmen Londons, vom findigen Bauernsohn zum milliardenschweren Finanzjongleur, vom Mähdrescher zum Privatflugzeug. Alexander Greensill, genannt Lex, hat gut drei Jahrzehnte dafür gebraucht. Der Rückweg war schneller. Er führte von London über Schweizer Kreditinstitute, eine Bremer Bank und die australische Hauptstadt Canberra in die schmucklosen Büros von Insolvenzverwaltern. In Gerichtssälen wird er enden. Denn der Finanzkonzern, den er schmiedete und dann - als führte er eine Traditionsbank - auf den eigenen Familiennamen taufte, bricht zusammen.
Auch deutsche Anleger zieht es in den Abgrund. Weniger sind es Privatanleger, die rund 1 Milliarde Euro im Bremer Ableger der Greensill Bank geparkt hatten. Für sie hat die Finanzaufsicht Bafin am Montagabend einen Insolvenzantrag beim Amtsgericht Bremen beantragt. Die Anleger können beruhigt zusehen, wie der Einlagensicherungsfonds der deutschen Banken greifen wird. Von Einlagen über 3,6 Milliarden Euro sollen aber 500 Millionen Euro ungeschützt sein. Daher herrscht Nervosität in vielen Rathäusern, die Geld bei Greensill mit kurzen Laufzeiten angelegt haben: von kleinen wie Weissach über mittlere wie Monheim bis zu großen wie Wiesbaden. 26 betroffene Kommunen, die zusammen auf Einlagen von 255 Millionen Euro bei der Bank jetzt nicht mehr zugreifen können, haben in dieser Woche konferiert, um sich rechtlich gemeinsam für das Insolvenzverfahren aufzustellen und einen Ausweg zu suchen.
Ob und wie sie ihn finden, ist offen. Denn rund um die Erde suchen viele Anleger nach Wegen aus der Greensill-Krise. Beteiligte, wie die ehemalige australische Außenministerin Julie Bishop, die das Asien-Pazifik-Geschäft von Greensill als Chairwoman überwachte, fürchten um ihren Ruf. Der indisch-britische Unternehmer Sanjeev Gupta bangt um sein Geld. Rund um die Erde schmiedet er Stahlallianzen. In Australien hängen Tausende Arbeitsplätze an ihm, Thyssen-Krupps Stahlsparte wollte er kaufen. Weil er seinen verästelten Konzern über Greensill finanzieren ließ, sitzt Gupta nun auf dem Trockenen.
So wie mancher deutsche Kämmerer. Etwa der von Monheim. Einige seiner Kollegen können die Häme kaum unterdrücken - ausgerechnet Monheim! Die 40 000-Einwohner-Stadt zwischen Köln und Düsseldorf lockt mit niedrigen Gewerbesteuersätzen Unternehmen (auch aus anderen Kommunen) an. Das hat ihr erlaubt, 38 Millionen Euro bei der Greensill Bank anzulegen. Unterstützt haben sie vier Makler: die Zeindl Finanzmakler OHG, die CC Gesellschaft für Geld- und Devisenanlagen mbH, die Witt GmbH & Co. KG und die ICFB GmbH. Die baden-württembergische Gemeinde Weissach hat für 16 Millionen Euro Festgeld bei Greensill zu 0,2 Prozent (20 Monate) und 1 Prozent (sechs Jahre) angelegt.
Zum Zeitpunkt der Anlage verfügte Greensill über ein Rating mit A- (Investment Grade). Das Ausfallrisiko der Festgeldanlagen lag während des Abschlusses im ersten Anlagejahr bei 0,071 Prozent. "Hinweise, Warnungen oder Sensibilisierungen zu den Geldanlagen bei der Greensill Bank sind von den tätigen Finanzdienstleistern zu keinem Zeitpunkt ausgesprochen worden", heißt es aus Weissach. Weitere 53,9 Millionen Euro liegen anderswo: bei der Nord LB Luxemburg, der IKB und der Volkswagen Bank etwa.

1974 ging die erste deutsche Privatbank in die Insolvenz

Zum besseren Verständnis lohnt ein Blick in die siebziger Jahre. Damals ging die Herstatt-Bank als erste deutsche Privatbank in Konkurs - durch Devisenspekulationen. Daraufhin wurde der Einlagesicherungsfonds der Banken geschaffen. 43 Jahre später und nach schlechten Erfahrungen aus der globalen Finanzkrise nahm der Bundesverband deutscher Banken Kommunen und institutionelle Investoren im Oktober 2017 aus der Einlagensicherung heraus. Der Protest der Kommunen war schwach. Die Vorgaben der gesetzlichen Einlagengarantie waren dem Verband damals Argument genug.
Weil die Schieflagen von Lehman Brothers und Maple Bank abgefedert wurden, war die Sicherung stark strapaziert worden. Das schob der Bankenverband auch auf Kämmerer: Die hätten bewusst bei kleinen Banken Summen bis zur Einlagensicherungsgrenze angelegt, um so ein paar Prozentpunkte mehr Zinsen zu bekommen, sagte der damalige Hauptgeschäftsführer Michael Kemmer. Für Lehman musste der Fonds 6 Milliarden Euro auszahlen, für die Maple Bank 2,7 Milliarden Euro. Mit dem geringeren Schutzumfang, also ohne Kommunen und Finanzinstitute, hätten für Lehman zwei Drittel und für Maple ein Drittel weniger ausgezahlt werden müssen.
Monheim hat 75 Millionen Euro in einer Vermögensverwaltungsvereinbarung mit der genossenschaftlichen DZ Bank angelegt. "Investiert wird dabei nach definierten Risikoklassen zu einem kleinen Teil in Aktien, ansonsten vor allem in Staatsanleihen und Fonds", sagt Bürgermeister Daniel Zimmermann. "Wir können uns darauf verlassen, dass dieses Geld in guten Händen ist." Weitere 40 Millionen Euro liegen bei der Deutschen Bank auf Sparkonten. "Auch dieses Geld werden wir dort belassen", sagt er. "Zwar handelt es sich bei der Deutschen Bank um eine Privatbank, aber wir kommen mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist relativ kurzfristig an das Geld heran und zahlen keine Minuszinsen."
Vollständig abgesichert ist kommunales Geld eigentlich nur bei Genossenschaftsbanken und Sparkassen. Dort aber wird ein Negativzins von aktuell rund 0,5 Prozent fällig. "Das macht auf 210 Millionen gerechnet rund eine Million Euro Zinsverlust in jedem Jahr", sagt Zimmermann. Zudem gibt es mehrere kleinere Finanzprodukte, in die die Stadt Monheim derzeit 57 Millionen Euro investiert hat: Fest-, Tagesgeld und Schuldscheindarlehen. "Sie beurteilen wir mit den gerade gemachten Erfahrungen nicht mehr als so sicher, wie wir es uns für die städtischen Anlagen wünschen. Diese Gelder schichten wir jetzt um", sagte er jüngst vor dem Rechnungsprüfungssauschuss.
Das haben andere Städte nicht nötig. Zunächst einmal sind gar nicht so viele in der Lage, überhaupt Geld anzulegen. Laut spezialisierten Finanzmaklern kommen für sie nur die 50 wohlhabendsten als Kunden in Frage. Zumindest kurzfristig meist für einige Wochen legt auch die Stadt Frankfurt Geld an, wenn die Gewerbeeinnahmen einmal im Quartal sprudeln. In den neunziger Jahren hatte der spätere AfD-Politiker Albrecht Glaser als CDU-Stadtkämmerer Millionenverluste eingefahren. Damals waren auch längere Anlagezeiträume üblich. Seit 14 Jahren wacht Uwe Becker (CDU) über die Stadtfinanzen. "Ich will nicht herüberkommen wie jemand, der belehrt. Meine Philosophie war immer: konservativ umgehen mit dem Geld, das den Frankfurter Steuerzahlern gehört", sagt er. Das Geld liegt vorrangig bei Sparkassen und Volksbanken, das schlechteste Rating ist A. "In der dritten Stufe wird Geld geparkt auf dem Konto der Bundesbank. Das ist nicht lukrativ, aber sicher." Biete eine Bank mehr als 0 Prozent, schaue man sich Institute genauer an. Die ohnehin restriktiven Anlagerichtlinien hat die Stadt zuletzt verschärft. Natürlich sei es unerfreulich, für Geld, das man anlegt, bezahlen zu müssen. Das erzeuge Druck. "Man muss sich rechtfertigen, wenn man negativ verzinst anlegt, obwohl A-geratete Institute einen positiven Zins bieten", sagt Becker.
Dass Städte und Landkreise die engsten Verbindungen zu öffentlichen Banken haben, liegt in deren Struktur begründet. Sie sind in der Regel Träger einer Sparkasse, die wiederum mit einer Landesbank zusammenarbeitet. Trotzdem müssen Kämmerer auch Angebote anderer Banken einholen. Städtische Anlagerichtlinien setzen Anwendungserlasse der Landesregierungen um. Die Gemeindeverordnungen verpflichten Kämmerer, das Geld ausreichend sicher anzulegen. Für viele ist es Routine, überschüssige Einnahmen anzulegen. Es gibt keine Investmentbanker, die Kommunen mit "sexy Produkten" umgarnen. Inzwischen gelten auch für sie negative Zinsen - es sei denn, Geschäftsbanken haben Einlagen der Kommunen nötig. Das ist bei Sparkassen nicht der Fall. Laut Deutschem Sparkassen- und Giroverband haben Kommunen im Jahr 2020 bei den 372 Sparkassen neue Einlagen in Höhe von 41 Milliarden Euro eingelegt. Mit Strafzinsen nahmen sie 120 Millionen Euro auf alle Einlagen ein.
Stehen in Deutschland Anlagestrategien der Kämmerer im Blickpunkt, fürchten britische Steuerzahler die Haftung für mehrere staatlich garantierte Großkredite, die Greensill an Unternehmen Guptas aushändigte. Schätzungen beziffern das Volumen auf 1 Milliarde Pfund (1,16 Milliarden Euro). Selbst wenn sie zu hochgegriffen sein sollten, scheint Guptas Familienholding GFG Alliance angeschlagen. Und neue Details kommen ans Licht, die seine Finanzierungsmethoden zweifelhaft erscheinen lassen.
Laut Medienberichten haben Unternehmen aus Guptas Imperium offenbar gleich acht Corona-Hilfskredite je 50 Millionen Pfund bei der Greensill Bank aufgenommen und damit Regeln des Corona-Unterstützungsprogramms verletzt. Im Finanzministerium schrillten wegen der achtfachen Kreditaufnahme die Alarmglocken. Die öffentliche British Business Bank soll vor einigen Wochen die 80-prozentigen Staatsgarantien zurückgezogen haben. Greensill erhob dagegen Einspruch. Als Gupta vor 2016 in Schottland ein Aluminiumschmelzwerk und ein Wasserkraftwerk kaufte, gewährte die dortige Regierung eine Kredithilfe in mittlerer dreistelliger Millionen-Pfund-Höhe. Würde Guptas Imperium mit 35 000 Mitarbeitern durch die Greensill-Pleite in Zahlungsschwierigkeiten kommen, könnte die schottische Kreditgarantie dem Steuerzahler Verluste bescheren.
Können die Finanzverantwortlichen kleiner Gemeinden in Süddeutschland davor gefeit sein, was sogar den Lenkern von Weltkonzernen passiert? In einer deutschen Landesbank war lange ein Manager für das Geschäft mit der Kommunalfinanzierung zuständig, der seinen Namen nicht nennen will. In dieser Zeit ist er vielen Kämmerern begegnet und hat ein Bild von ihnen gewonnen. "Sie sind immer auf der Suche nach billigen Krediten oder hohen Zinsen. Dabei vergessen sie öfter die normalen Gesetzmäßigkeiten der Finanzierung", sagt der Banker. "Bei Geldanlagen wollten sie immer die höchsten Zinsen haben. Wenn wir dann argumentiert haben, dass wir mit unserem besseren Rating natürlich auch eine ganz andere Art von Sicherheit bieten, hat das selten verfangen."
Er macht einen Mangel an Sachkenntnis dafür verantwortlich. Nicht immer sei erkennbar, dass sie verstanden hätten, was es bedeutet habe, aus der Einlagensicherung gefallen zu sein, verantwortlich macht er auch das Geschäftsgebaren spezialisierter Finanzvermittler. Einige seien für aggressive Vermarktungspraktiken bekannt. So seien etwa in den Jahren 2012 und 2013 Kommunen Kredite in Schweizer Franken mit niedrigen Zinsen vermittelt worden. Als die Schweiz die Obergrenze für die Aufwertung ihrer Währung aufhob, erhöhte sich die Tilgungsleistung schlagartig. "Das war ein Gezocke auf niedrige Zinsen. Zunächst hat man das mit Prolongationen kaschiert, aber wenn die Kredite fällig wurden, war das für das Budget ziemlich schmerzhaft", sagt der Banker. Ein Problem sei auch, dass die Verantwortung in Gemeinden oftmals bei politisch gewählten Beigeordneten liege, die kritische Kämmerer bisweilen überstimmten. In der Geldanlage fehle vielerorts das Bewusstsein, dass positive Zinsen in dieser Lage mit erheblich höheren Risiken verbunden seien. "Entweder hat man ein höheres Durationsrisiko oder ein größeres Bonitätsrisiko oder beides", sagt er. "Der risikolose Positiv-Zins ist erst einmal Geschichte."

Kommunen sind durch Niedrigzins und neue Regeln verunsichert

Als die Einlagensicherung vor dreieinhalb Jahren fiel, hat das Kommunen stark verunsichert. Eine Umfrage der Fachzeitschrift "XXX", die zu [Medium] gehört, ergab damals, dass 41 Prozent der befragten Kommunen von der Änderung betroffen waren. Von dieser Minderheit gaben 81 Prozent an, keine Einlagen mehr bei Privatbanken zu haben. Teilgenommen hatten 568 der insgesamt 2300 angefragten Kämmerer und Finanzverantwortlichen deutscher Kommunen. Viele sahen sich nicht in der Lage, die Bonität einer Bank richtig einzuschätzen. Nur 18 Prozent der Kommunen hatten damals eine Anlagerichtlinie, 12 Prozent planten eine. Insbesondere stark verschuldete und kleine Kommunen gestanden hier eine Überforderung ein.
Nach all diesen Ausführungen ließe sich einfach ein Sündenbock benennen. Kleine und verschwiegene Akteure wie das knappe Dutzend auf Kommunen spezialisierte Finanzmakler eignete sich dafür besonders gut. "Eine Geldanlage von 0 oder 0,30 Prozent ist kein Zocken", wehrt sich aber ein Makler, der ebenfalls in diesem Artikel ohne Namen bleiben will. "Wir stellen Kommunen immer mehrere Angebote vor, über 0 Prozent Verzinsung bieten nur noch zwei bis vier Banken überhaupt an." Dass solches Geld nicht unter die Einlagensicherung falle, erkläre man seinen Kunden. "Mit Gier hat das nichts zu tun", sagt er. Wer Hunderttausende Euro Verlust durch eine Geldanlage für seine Bürger erwirtschafte, überlege sich das mehrfach.
Für eine Vorteilsnahme durch erhöhte Courtagen sei der Markt zu transparent. "Die Courtage zahlt die Bank", ergänzt er. Die Akquise sei nicht besonders schwierig. "Welche Kommune Geld hat, entnimmt man der Presse", sagt er. "Mich ärgert, dass man von der Finanzaufsicht Bafin und vom Bankenverband nichts hört über solche Schwierigkeiten." Nachdem das Rating von Greensill im Herbst herabgestuft worden war, wies ihn die Bank auf Warnungen in den vorherigen Ratingberichten hin. "Die Geschichte mit Greensill ist ein Schock. Die Kommunen werden Dienst nach Vorschrift machen und sagen, dann bezahlen wir halt minus 0,2 Prozent", sagt der Makler.
Dienst nach Vorschrift aber liegt für Anwälte, Insolvenzverwalter und Investmentbanker derzeit in weiter Ferne. Sie warten, wann und wie sie von Greensills Zusammenbruch profitieren können. Und sie kreisen über Guptas Stahlkonzern. Im fernen Bundaberg ist man da schon einen Schritt weiter: Die Greensills, die in den vergangenen Jahren im Kielwasser von Lex' Erfolgen mehr als ein Dutzend Unternehmen aufgebaut hatten, haben auf dessen Pleite reagiert: Peter Greensill, der das Farmgeschäft führt, hat Ende Januar seine Posten als Direktor von Greensill Capital Management und Greensill Capital Trading aufgegeben. Der Anbau von Zuckerrohr scheint eine längere Halbwertszeit zu besitzen.

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Bildunterschriften:

Blick auf die Gemeinde Weissach im Landkreis Böblingen in Baden-Württemberg

Lex Greensill