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Systemfehler

von Christoph Giesen und Boris Herrmann
Süddeutsche Zeitung vom 21.10.2020

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Systemfehler

Im September 1987 schrieb Werner Zorn die erste E-Mail aus China, ohne ihn gäbe es wohl weder Tiktok noch Wechat. Er wollte damit die Welt verbinden – aber es kam dann doch anders

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Im September 1987 tippte Werner Zorn auf seiner Tastatur einen Satz, mit dem er etwas Unfassbares anstellte – jedenfalls für damalige Verhältnisse. Zorn schickte den Satz nämlich ab.

Der Satz reiste von einem Rechner, der sich gemeinsam mit Zorn im Institut für Computer-Anwendungen an einer Universität in Peking befand, über lauter kleine technische Hürden mit lyrischen Namen wie „PC96-Protokollkonverter“, „X25-Knoten“ oder „9600 BD MSV-1-Leitung“ dann durch ein Kabel, das ein Techniker im entscheidenden Moment manuell umstecken musste, in die etwa 8000 Kilometer entfernte Stadt Karlsruhe, wo ihn Zorns Mitarbeiter am Informatik-Rechenzentrum der Universität freudig in Empfang nahmen. Heute gilt dieser Vorgang als die erste E-Mail, die aus China verschickt wurde.

Zorns Satz lautete: „Ueber die Grosse Mauer erreichen wir alle Ecken der Welt.“

Er habe sich das zusammen mit seinem chinesischen Gastgeber, Professor Wang Yunfeng, ausgedacht, sagt Werner Zorn 33 Jahre später. „Wir hatten damals natürlich nicht im Sinn, dass es einmal ein so hochpolitischer Satz werden würde.“

Der unverstellte Blick über die große chinesische Mauer, in alle Ecken der Welt, wie Zorn es erhofft hatte, ist es nicht geworden. Die Volksrepublik hat für ihre Bürger mittlerweile eine eigene digitale Wirklichkeit erschaffen. Durch die scharfe Zensur der Behörden ist das chinesische Internet vom weltweiten Netz abgetrennt, ähnlich einem Korallenriff, das die großen Fische aus dem weiten Ozean von der Lagune fernhält. So konnten in China ganz eigene Internet-Kreaturen entstehen, Unternehmen etwa, die lange Zeit keine Angst haben mussten, von den großen Firmen aus dem Silicon Valley geschluckt zu werden.

Die Folge für die chinesischen Internetnutzer ist noch einschneidender: Die Websites der New York Times, der Washington Post oder auch von [Medium] sind gesperrt. Chinesen googeln auch nicht, sie suchen mit Baidu. Statt bei Amazon kaufen sie bei Alibaba ein. Mit ihren Freunden tauschen sie sich per Wechat und nicht bei Facebook aus. Jedes Wort kann der Staat mitlesen. Jedes Foto, jedes Video ist für die Behörden einsehbar. In China gibt es kein Instagram, kein Youtube, kein Twitter, selbst eine eigene Wikipedia hat sich etabliert, Baike heißt der politisch streng redigierte Dienst.

Bislang war die Rollenaufteilung klar: China schottet sich ab – bis Tiktok auf den Markt kam. Der erste globale Erfolg einer chinesischen Internetfirma. Millionen Teenager überall auf der Welt haben diese Video-App installiert. Ein Algorithmus zieht die Jugendlichen in den Bann, eine Flut aus Videos, die süchtig macht. In den vergangenen Monaten aber ist der Dienst ins Räderwerk der großen Politik geraten. In Indien ist die App nach einem Grenzkonflikt mit chinesischen Truppen auf dem Index gelandet, und US-Präsident Donald Trump hätte Tiktok am liebsten verboten, aus Sorge, die Daten der amerikanischen Nutzer könnten an die chinesischen Behörden weitergegeben werden. In letzter Minute stimmte er aber einem Teilverkauf des US-Geschäfts an den Computerkonzern Oracle und die Supermarktkette Walmart zu. Der Deal wird nun geprüft.

Wenn Werner Zorn heute auf sein Vermächtnis blickt, sagt er: „Eigentlich ist das Internet genau umgekehrt angetreten.“ Im Text seiner E-Mail steckte eine Vision: die Vision von einer Technik, die Menschen verbindet und nicht trennt, Kooperation statt erbitterten Wettstreits. Im Kräftemessen zwischen China und den Vereinigten Staaten ist das Internet aber zum Schlachtfeld geworden.

Für einen, der in der Hall of Fame des Internets als „Pionier“ gelistet ist, hat Zorn eine erstaunlich skeptische Haltung zu moderner Technik. Gerade lenkt er seinen Kleinwagen über eine kurvige Landstraße in Südfrankreich, seinen Fahrstil könnte man nonchalant nennen. Immer wieder kommt er dem Mittelstreifen und damit dem Gegenverkehr gefährlich nahe. Während er seine Ehefrau auf dem Beifahrersitz damit in diverse Nahtoderfahrungen stürzt, dreht er lächelnd den Kopf nach hinten und sagt: „Also, ich glaube nicht an die Zukunft des autonomen Fahrens. Vielleicht bin ich da ein bisschen altmodisch.“

Der Informatiker Werner Zorn, inzwischen 78 Jahre alt, wechselte um die Jahrtausendwende aus Karlsruhe ans Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, wo er den Lehrstuhl für Kommunikationssysteme geleitet hat. Die meiste Zeit des Corona-Jahres 2020 verbringt er aber in einem Bungalow an der französischen Atlantikküste. Er hat das Ferienhäuschen selbst gebaut und „Reconnaissance“ getauft, nach seinem Lieblingsstück aus Robert Schumanns Klavierzyklus Carnaval. Im Wohnzimmer steht ein Flügel von beeindruckenden Ausmaßen. Zorn ist ein ambitionierter Freizeitpianist, er trägt gerne Cordhosen, spielt Tischtennis gegen einen Tischtennisroboter und liest Bücher mit Titeln wie „Erlebnis Algebra“. Wenn er arbeitet und sie ihn aus Potsdam anrufen oder aus Peking, benutzt er kein Smartphone, sondern ein altes Klapphandy. Trotzdem ist es natürlich kokett, wenn sich dieser Mann „ein bisschen altmodisch“ nennt.

Es gab Zeiten, in denen gehörte Zorn wohl zu den neumodischsten Menschen des Planeten. Im August 1984, etwa zehn Jahre bevor deutsche Leitmedien damit anfingen, ihren Lesern das „weltumspannende Rechnernetz Internet“ zu erklären, ging bei ihm die erste E-Mail in Deutschland ein. „Zorn@Germany“ lautete seine Adresse. Noch bedeutender ist aus heutiger Sicht aber seine Pioniertat vom 20. September 1987. Dem Tag, als er das Internet nach China brachte.

Klar, wenn Christoph Kolumbus nicht versehentlich nach Amerika gesegelt wäre, Neil Armstrong nicht den Mond betreten und Werner Zorn keine E-Mail von Peking nach Karlsruhe geschickt hätte, dann hätten es früher oder später vermutlich andere getan. Aber die Weltgeschichte hat sich noch nie um mögliche Zweite geschert. Solange Kolumbus als Entdecker Amerikas und Armstrong als Erstbetreter des Mondes gelten, ist es deshalb auch nicht ganz falsch, zu sagen: Ohne Werner Zorn kein Tiktok und auch kein Wechat.

Im Jahr 2020 ist der Spätstarter China eine Cyber-Weltmacht: Den Wert der Tiktok-Mutter Bytedance taxieren Fachleute auf mehr als 60 Milliarden Dollar. Noch wertvoller ist Tencent. Der Börsenwert des Konzerns aus Shenzhen beträgt sagenhafte 685 Milliarden Dollar – mehr als Siemens, BMW, Volkswagen, Daimler, SAP und die Allianz zusammen. Gegründet wurde das Unternehmen 1998. Das erste Produkt war der Instant-Messenger QQ, mit dem Millionen Chinesen chatten. Startet man die Software, erscheint auf dem Bildschirm ein zwinkernder Pinguin und daneben ein Satz auf Chinesisch: „Über die Große Mauer erreichen wir alle Ecken der Welt.“ Werner Zorns Satz.

2011 brachte Tencent Wechat auf den Markt. Mehr als 1,2 Milliarden Menschen haben diese App seitdem installiert. In den USA hat Donald Trump Wechat Ende September per Dekret verbieten lassen, auch hier geht es wie bei Tiktok um den Schutz der Daten amerikanischer Nutzer. Ein Gericht in Kalifornien hat Trumps Verfügung jedoch aufgehoben, mit der Begründung, dass ein Verbot den ersten Verfassungszusatz unterlaufen würde. In den USA gilt die Meinungsfreiheit, auch für vom chinesischen Staat streng zensierte Apps.

Mit Wechat kann man telefonieren und chatten, aber auch fast überall in China bezahlen. Selbst in den schmutzigsten Garküchen hängt ein entsprechender QR-Code. Wechat arbeitet mit sogenannten Miniprogrammen: Apps in der App, Dienste, die nur innerhalb von Wechat laufen. Restaurants können per Miniprogramm ihre Speisekarte veröffentlichen, Bestellung mit einem Klick inklusive. Aber auch die Corona-App, die man dieser Tage in China vorzeigen muss, wenn man ein Café betritt oder mit dem Zug fahren möchte, ist ein solches Miniprogramm. Viele Chinesen nutzen keinen Internetbrowser mehr, sondern erledigen alles per Wechat. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Nutzer, davon träumen die US-Tech-Konzerne, in China ist das bereits Realität. Für den chinesischen Apparat ist das ein Segen – künftig reicht es, eine einzige App zu überwachen.

Und in Peking wissen sie, wem sie das zu verdanken haben: Vor einigen Jahren veröffentlichte die Propaganda eine „Top Ten“ der wichtigsten Errungenschaften der neueren chinesischen Geschichte. In der Liste wurde das Raumfahrtprogramm Yuegong gefeiert, das Atomkraftwerk Daya Wan, die Jangtse-Brücke in Wuhan. Und die E-Mail von Zorn.

In Deutschland dagegen nimmt bis heute kaum jemand zur Kenntnis, dass die Wurzeln der chinesischen Internet-Dominanz in Karlsruhe liegen. Der Witz dieser Geschichte ist, dass eben dieses Deutschland den umgekehrten Weg zu China einschlug. Es war dank Zorn als vierte Nation überhaupt ans Internet angeschlossen, leistete Entwicklungshilfe in Fernost und ist heute selbst ein digitales Entwicklungsland. Ein Land, in dem man in Zügen von Funkloch zu Funkloch rauscht und in vielen Schulen von einem funktionierenden Wlan träumt. Zorn sagt: „Deutschland hat sich völlig ins Abseits manövriert.“

In seinem französischen Häuschen zieht Werner Zorn jetzt den Klavierhocker an den Esstisch heran und erzählt die Geschichte, wie das Internet nach China kam. Seine Geschichte. Zorn beginnt so: „Es war eine dieser Storys voller Irrwege, Frustrationen, Improvisationen und absurder Zufälle.“

Im Jahr 1987 war China ein bitterarmes Land, das sich noch nicht von der Kulturrevolution erholt hatte. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass es den Kalten Krieg, den Eisernen Vorhang, die Blöcke noch gab. In der Kommunistischen Partei warteten da nicht allzu viele auf einen Karlsruher Informatiker, der eine aus den USA stammende Technik implementieren wollte. „Das hat mich damals halt gereizt“, sagt Zorn.

Heutzutage ist eine E-Mail so schnell abgeschickt, dass man es oft genug im nächsten Augenblick schon wieder bereut. Zorns E-Mail von 1987 ging eine vierjährige Vorbereitungsphase voraus. Gegen Ende unternahm ein halbes Dutzend Karlsruher Computerexperten dann eine dreiwöchige Delegationsreise nach Peking, um von dort ein paar Wörter zurück nach Karlsruhe zu befördern. Zorn sagt: „Das war so ähnlich wie eine Mondfahrt. Wir mussten alles mitnehmen. Uns war klar: Wenn wir irgendein Teilchen vergessen, dann war’s das.“

Sie hatten unter anderem eine Box von der Größe eines Schuhkartons dabei, einen sogenannten Protokoll-Konverter, dazu Magnetbandträger mit der Software BS2000 „und alles mögliche andere Zeugs, was man braucht“, um die Computer zweier fremder Welten zu koppeln. Das musste erst einmal alles durch den Zoll, samt Übergewicht.

Dass sie in China mit dem ganzen Geraffel überhaupt hereingelassen wurden, war Zorns Pekinger Bekanntem Wang Yunfeng zu verdanken. Der damals 75-Jährige hatte während des Zweiten Weltkrieges an der Humboldt-Universität in Berlin studiert und kümmerte sich nun um die Außenbeziehungen an der TU in Peking. Wang habe alle nötigen Zustimmungen eingeholt und das Unternehmen politisch möglich gemacht, sagt Zorn. Es sei ein Glück gewesen, dass Wangs Institut für Computeranwendungen direkt dem Ministerium für Maschinenbau unterstand, dicht an Politik und Militär. So mangelte es nicht an Geld, wenn vor Ort doch mal ein fehlendes Teilchen besorgt werden musste.

Werner Zorn hat ein Tagebuch seiner Abenteuerreise geführt. Freitag, 4. September 1987: „Empfang der Delegation in der Großen Halle des Volkes.“ Samstag, 5. September: „Besuch der Großen Mauer.“ Montag, 7. September: „FMS holen und laden. Meldung: EDT misslingt!! Maßnahme: EDT-Dummy basteln und unterschieben.“

So geht das Tag und Nacht bis zum Durchbruch knapp zwei Wochen später. Mal fehlt irgendein Kabel, mal gibt es ein Problem mit dem PASCAL-Übersetzer, mal passt die chinesische Hardware nicht zur deutschen Software, mal fällt an der Universität der Strom aus. Am 10. September notiert Zorn: „Wir sind langsam am Verzweifeln.“ Zwei Tage später schreibt er: „Es geht gar nichts mehr. Absoluter Tiefpunkt.“ Gemessen an dieser Vorgeschichte klingt der Eintrag vom 20. September, 23.55 Uhr, ziemlich nüchtern: „Die vorbereitete 1. Mail wird korrekt nach Karlsruhe und von dort in weitere Netze übertragen.“

Vorbereitet, also eingetippt, hatte Zorn die Nachricht bereits am 14. September, an diesem Tag ist auch das historische Foto entstanden. Aber es hat dann noch mal fast eine Woche gedauert, bis sie den Satz tatsächlich dazu bewegen konnten, den Postausgang zu verlassen.

So fing alles an. Es ging aber noch weiter. 1990 ließ Werner Zorn die chinesische Länderkennung „.cn“ registrieren. Ohne seine Hilfe wäre das wohl ein aussichtsloses Unterfangen gewesen; ein Jahr nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens war China völlig isoliert. So aber schaffte Zorn die Voraussetzungen dafür, dass das Land Mitte der Neunzigerjahre vollständig ans Internet angeschlossen werden konnte, bis dahin lief alles über die eine Verbindung von Peking nach Karlsruhe. 2009 wurde er zum „Honorable Chinese Netizen“ ernannt. Inzwischen ist er auch einer der beiden Chairmen des „High-level Advisory Committee“ der World Internet Conference. Der andere heißt Jack Ma und ist der reichste Mann Chinas.

Weltinternetkonferenz, diesen großspurigen Titel hat sich die Regierung in Peking einfallen lassen. Jedes Jahr im Spätherbst lädt der Staat in die Stadt Wuzhen, zwei Autostunden von Shanghai. Statt Entwicklern in Holzfällerhemden traf man dort in den vergangenen Jahren vor allem Parteikader. Die Touristen waren verbannt, in den Teehäusern am Wasser war es gähnend leer, die handverlesenen Besucher hörten sich stattdessen in einer Kongresshalle an, wie sich die chinesische Führung das Internet der Zukunft vorstellt. Mittendrin Werner Zorn und Jack Ma, der erste Internetunternehmer Chinas.

Mas Karriere begann am 8. August 1995. An jenem Tag schloss Chinas Telekom die Volksrepublik ans Internet an, der von Zorn eingerichtete Umweg über Karlsruhe war nicht mehr nötig. Ma hatte damals Freunde eingeladen, ein Fernsehteam war vorbeigekommen, gemeinsam starrten sie in Mas Heimatstadt Hangzhou auf den Bildschirm seines Computers. Nach Stunden war die Seite endlich geladen – Chinas erste kommerzielle Website, Mas Website. Das Internet hatte der Englischlehrer bei einer Reise in die USA kennengelernt, an einem Computer in Seattle hatte er die Worte „Beer“ und „China“ in eine Suchmaschine getippt. Es gab keine Treffer, und Ma sah seine große Chance.

1999 hatte er eine weitere Idee: Eine Website, die die Globalisierung beschleunigt, auf der sich Käufer und Verkäufer treffen, um Geschäfte zu tätigen. Ob zehn Tonnen geschälte Erdnüsse oder 6000 Batman-Kostüme in Kindergrößen, alles sollte gehandelt werden, ganz ohne Zwischenhändler. Der Name: Alibaba, weil „jeder die Geschichte von Alibaba kennt. Er ist ein junger Mann, der bereit ist, anderen zu helfen“, erklärte Ma seine Wahl.

2003 gründete Ma schließlich Taobao. Schatzsuche heißt das übersetzt, mit dieser Website gelang ihm der endgültige Durchbruch. In nur wenigen Jahren löste er Ebay als führendes Online-Handelshaus in China ab. Bei Taobao werden die Transaktionen über ein Online-Bezahlsystem abgewickelt, das Ma Alipay nannte. Dessen Betreiberfirma Ant Financial geht demnächst an die Börse. Mehr als 30 Milliarden Dollar könnten dann in Shanghai und Hongkong eingesammelt werden – mit Abstand der größte Börsengang der Welt.

Wann genau in diesem Jahr die Weltinternetkonferenz tagt und ob die beiden Chairmen sich wegen Corona überhaupt sehen werden, steht noch nicht fest. „Wenn man Chair ist, muss man irgendwas machen“, sagt Werner Zorn. Und weil er vor scheinbar unmöglichen Aufgaben noch nie zurückschreckte, hat er sich jetzt vorgenommen, das Klassentreffen des chinesischen Internets für ein breites internationales Publikum zu öffnen.

Als Präsenzveranstaltung war die Konferenz bislang auf etwa 1500 ausgewählte Teilnehmer begrenzt. Die Pandemie sei doch ein guter Anlass, um die diesjährige Ausgabe per Videoschaltung auszurichten, findet Zorn. Da stößt er aber auf Widerstände bei der chinesischen Cyberspace Administration, die die Tagung veranstaltet. Es sei eigentlich schon alles geplant gewesen, bis hoch zum Minister, und plötzlich sei wieder irgendwer dazwischengeschossen mit der Ansage, es gehe doch nicht. „Die Angst ist offenbar, dass zum offenen Fenster die Fliegen reinkommen“, sagt Zorn.

Das Netz, das er mit erschaffen hat, droht gerade endgültig in zwei Welten zu zerfallen. In eine chinesische Welt und eine Restwelt. Manche Beobachter sprechen bereits von einem neuen Kalten Krieg im Internet. Werner Zorn sieht natürlich die Probleme, die Restriktionen, die Zensur, die Unterdrückung von Kritikern. Aber er ärgert sich auch über das pauschale „China-Bashing“, auf das sich der Westen aus seiner Sicht eingeschossen hat. Das findet er auch deshalb wohlfeil, weil die großen US-Internetkonzerne wie Google oder Facebook ihre Nutzer ja ebenfalls systematisch durchleuchten würden. „Das geht über Orwell hinaus“, sagt er.

Zorn ist seit zwanzig Jahren mit einer Chinesin verheiratet und bis das Virus kam, war er dort mindestens einmal im Jahr auf Schwiegermutterbesuch. Er sagt, er habe nie Geld damit verdient, dass er den Chinesen das Internet brachte. Er habe sich immer als Botschafter gefühlt: „Mein geringer Einfluss, den ich ausüben kann, der geht in Richtung Öffnung.“

Während des Gesprächs in Südfrankreich ruft bei Zorn mehrmals die chinesische Botschaft aus Berlin an. Nachdem er zum zweiten Mal aufgelegt hat, sagt er: „Hach, jetzt bin ich mal wirklich optimistisch.“ Die Botschaft habe gerade eine positive Rückmeldung aus Peking erhalten. Vielleicht wird ja doch noch etwas aus seiner Idee von einer Weltinternetkonferenz, die den Namen auch verdient.

Sein neuestes Projekt ist im Grunde sein uraltes, nämlich der verwegene Plan, durch Vernetzung große Mauern zu überwinden. Werner Zorn glaubt immer noch daran, dass es funktionieren könnte.

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Einschübe:

Jedes Wort liest der Staat mit, jedes Video ist einsehbar. Alles wird streng überwacht

Eigentlich war China ein Spätstarter. Lange her, jetzt ist es eine Cyber-Weltmacht

Mal fehlt ein Kabel, mal fällt der Strom aus. Er schreibt ins Tagebuch: „Absoluter Tiefpunkt.“

Natürlich sieht er die Probleme, die Restriktionen, die Zensur. Er bleibt trotzdem optimistisch

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Bildunterschriften:

„Ueber die Grosse Mauer erreichen wir alle Ecken der Welt“, tippte Werner Zorn am 14. September 1987 in Peking in den Computer. Es hat dann fast eine Woche gedauert, bis der Satz den Postausgang verließ.

"Mein geringer Einfluss, den ich ausüben kann, der geht in Richtung Öffnung", sagt Werner Zorn