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Plötzlich leer

von Claas Tatje und Henning Sußebach
Die Zeit vom 25.02.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Plötzlich leer

Flugbegleiterinnen, die keine Fluggäste mehr begleiten. Piloten, die ihre Jets stilllegen. Und ein junger Mann, dessen Traum vom Abheben geplatzt ist. Kaum einen deutschen Konzern trifft die Corona­-Krise so hart wie die Lufthansa.

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Die Welt ist derzeit klein und eng, und nur kurz hat es den Anschein, Thomas Pausewang könne sie ein wenig weiten. In Frankfurt am Main bricht ein kalter Morgen an, erstes Licht fällt auf den Flughafen, und Pausewang, 52, hat einen Auftrag zu erledigen. Seit einem Vierteljahrhundert steht er als Pilot in Diensten der Deutschen Lufthansa, dieses Transportunternehmens der Export- und Reiseweltmeister. Nun hat ihn ein Bus aufs Vorfeld gebracht, über endlose Weiten aus Beton. Fernab aller Terminals und Gangways steht seine Maschine, ein Airbus A321, Kennung D-AIDK, Taufname Iserlohn, Heckflosse in Firmenblau.

Pausewang steigt eine Treppe hinauf ins Flugzeug, gefolgt von seinem Ersten Offizier. Gemeinsam richten sich die beiden Männer unter dem Knopfhimmel des Cockpits ein und gehen die Koordinaten der bevorstehenden Reise durch.

»Departure auf Eins-Acht«, sagt Pausewang. Eins-Acht steht für die Himmelsrichtung, in die sie auf der Startbahn West abheben werden. 180 Grad. Süden.

Freigabe der Flugsicherung? Vorhanden.

Start? Händisch, ohne Autopilot.

Flughöhe? 19.000 Fuß.

Draußen tritt Bodenpersonal zur Seite, ein Tankwagen zieht sich zurück. Vertraute Bilder sind das, eine Choreografie, wie sie jeder Fluggast schon einmal von seinem Sitz aus beobachtet hat, ob 14 A oder 36 F, ob Economy oder Business, untermalt vom Brummen anspringender Triebwerke.

Doch an diesem Tag im Jahr 2021 ist etwas anders. Kein fasten your seatbelts ist zu hören, als das Flugzeug der gelben Linie zur Startbahn folgt, kein Geschirrgeklapper, als der Schub einsetzt. Keine Crew ist an Bord, kein einziger Passagier. Thomas Pausewang im Cockpit trägt nicht einmal Pilotenuniform, stattdessen Pullover, Jeans und feste Schuhe. In seinem Rücken 200 leere Sitze aus grauem Leder. Und im hinteren Teil des Laderaums eine halbe Tonne Sand. Ballast, weil der unbesetzte Airbus sonst zu kopflastig wäre.

»Für eine Pandemie wurde er nicht erfunden«, sagt Pausewang.

Es ist inzwischen ein Jahr her, dass Jets überbucht statt untergewichtig waren. Ein Jahr, in dem ein Virus Alltägliches unvorstellbar und Unvorstellbares alltäglich werden ließ. So hat Thomas Pausewang an diesem Morgen den Auftrag, ein nutzlos gewordenes Flugzeug wegzuschaffen. Ein Pilot, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, legt seinen eigenen Arbeitsplatz still. Pausewang geht es da ähnlich wie Tausenden Besitzerinnen und Besitzern von Boutiquen, Wirtsleuten und Kinobetreibern, von denen auch niemand einen Fehler gemacht hat.

Eine einzigartige Krise hat die Welt erfasst, nicht nur vom Ausmaß her. Anders als sonst ist bislang kein klar Verantwortlicher zu benennen. Keine Lehman Brothers haben sich verzockt. Keine Regierung hat sich überschuldet. Kein Konzernchef hat sich für eine falsche Strategie entschieden. Ein Virus ist vom Tier auf den Menschen übergesprungen – und alle haben den Schlamassel. Dieses Missverhältnis von Ursache und Wirkung, von Schuld und Strafe ist historisch ziemlich einmalig.

Wie kommt man da durch? Und wieder heraus?

In kaum einem anderen deutschen Unternehmen stellen sich diese Fragen so dringlich wie bei der Lufthansa. Auch sie ist nicht verantwortlich für das Virus, als Airline aber beteiligt an dessen Verbreitung. Corona ist die Krankheit des globalen Zeitalters – und die Flugindustrie die Branche des globalen Zeitalters. Nun muss ein Mobilitätsdienstleister plötzlich stillhalten. Und mit ihm 138.353 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So viele waren es, als die ersten Nachrichten aus Wuhan kamen.

Man könnte denken, die Geschichte sei erzählt, die Zeitungen waren voller Schlagzeilen. Im April des vergangenen Jahres verkündete der Vorstandsvorsitzende Carsten Spohr, die Lufthansa verliere eine Million Euro. Pro Stunde. Das Unternehmen kündigte an, 87.000 Angestellte in Kurzarbeit zu schicken. Im Juni fiel die Aktie aus dem Börsenindex Dax. Der Konzern musste mit Staatshilfen und -krediten vor der Insolvenz gerettet werden, mit neun Milliarden Euro. Bis Dezember hatte sich die Lufthansa von 29.000 Menschen getrennt.

Aber Zahlen erzählen nicht alles. Sie vermitteln nichts von Großartigkeit und Größenwahn der Fliegerei, die genau dadurch offenbar werden, dass kaum noch ein Flugzeug abhebt. Sie berichten nicht vom Glück jener Angestellten, die als Etablierte in die Krise gingen, und vom Pech derer, die ohne große Rechte und Reserven hineingerieten. Sie erzählen nichts von schmachvollen Erfahrungen ganzer Crews in Ostasien. Nichts vom Frust eines jungen Mannes, der – wie viele Menschen seiner Generation – einen Traum aufgeben muss, in seinem Fall den Traum vom Fliegen. Und nichts von der Reise des Piloten Pausewang, der in diesem Moment mit der Iserlohn durch die Wolken sticht.

Sonnenlicht flutet das Cockpit, kein Kondensstreifen durchzieht das Blau, der Funk bleibt weitgehend still. Pausewang ist ein Mensch mit freundlich-sachlichem Auftreten, vermutlich gehört das zum Jobprofil. Jetzt erlaubt er sich ein wenig Sentimentalität und sagt: »Das Kerosin in den Tanks würde locker bis Sizilien reichen.«

Als noch niemand von Reisewarnungen und Risikogebieten sprach, flog Pausewang kreuz und quer über Europa, nach Helsinki, Barcelona, Moskau, Rom. Wenn der Zeitplan es erlaubte, trank er einen Espresso an der Piazza Navona oder schlenderte über den Roten Platz. Er kam viel herum und war abends häufig wieder zu Hause bei Frau, Kindern und Hunden. Jeder Winkel der Welt war erreichbar. Ein Airbus A321 wie die Iserlohn, die Pausewang bis zum Ural und nach Nordafrika trug, wurde Kurzstreckenflugzeug genannt. Wie wunderlich das heute klingt, fast vermessen.

Sogar ihm als Pilot kam es befremdlich vor, »dass plötzlich Kegelvereine für 17 Euro nach Mallorca reisten. Die sind früher ins Bergische Land gefahren.« Pausewang konnte sich einreden, vergleichsweise wenig damit zu tun zu haben. Bis vor Kurzem gab es beispielsweise keinen Lufthansa-Flug von Frankfurt auf die Kanaren. Die Airline sah sich zuständig für Geschäfts- und Städtereisende, brachte Manager zu Terminen in Finanzmetropolen und holte sie an Wochenenden zurück. Hatte das nicht oft dienstliche Dringlichkeit?

Vorbei. Mit dem Virus sind auch die Videokonferenzen gekommen. Von den 763 Flugzeugen des Konzerns ist nur noch ein Drittel im Einsatz, gelegentlich. Die restlichen Maschinen stehen herum, einige wurden auf Pisten in Ungarn, Frankreich, Spanien abgestellt. Flugzeugfriedhöfe melden Überbelegung. Der Gebrauchtmarkt ist zusammengebrochen. Die Parkgebühren für all die Jets am Boden explodieren. Überall auf der Welt ist das so, fast jedes Land hat seine Lufthansa. Für die Iserlohn hat sich noch ein Platz in Stuttgart gefunden, der etwas günstiger ist als in Frankfurt. Darum geht es jetzt. Etwa zehn Minuten nach dem Start leitet Pausewang den Sinkflug ein.

Helmut Wölfel hat lange nicht geglaubt, dass es so kommt. Er hat sich geirrt, aber er ist noch da. Er gehört zu jenen, die das Privileg und das Wissen haben, die Krise zu verwalten.

Wölfel, 51, ist der Langstrecken-Chefplaner der Lufthansa. Er berechnet, wann welches Flugzeug wo zu sein hat. Seine Kalkulationen bestehen aus zig Variablen, Angebot und Nachfrage, Distanzen und Jetstreams. Seine Sprache ist voller Abkürzungen und Akronyme. FRA–JFK, MUC–SIN, ZRH–GRU. Bevor das Virus kam, dirigierte Wölfel die Maschinen der Lufthansa in 273 Städte und 86 Länder. Von da aus ging es mit Partnern weiter bis in die hintersten Regionen am Amazonas, in der Sahara und in Richtung Nordpol. Die Lufthansa führte eine Warteliste mit deutschen Städten, die sich wünschten, dass ein neues Flugzeug auf ihren Namen getauft wird. Dass diese Liste schon über Iserlohn hinaus abgearbeitet worden war, macht deutlich, wie riesig die Flotte und wie groß das Geschäft geworden war.

Luftfahrtkrisen waren im Berufsleben des Netzplaners Wölfel stets Episoden geblieben, zeitlich und räumlich begrenzt, ob die Vereinigten Staaten nach dem Anschlag auf das World Trade Center ihren Luftraum abriegelten oder die Aschewolke eines isländischen Vulkans den Flugverkehr über Europa lahmlegte. Noch im Februar des vergangenen Jahres ging Wölfel davon aus, dass es auch dieses Mal nicht so schlimm werden würde.

»Den Sturm halten wir aus«, habe er seinen Chefs gesagt. Mit weniger »Frequenzen« und kleineren »Fliegern«, erinnert er sich heute am Telefon.

Anfangs öffneten sich sogar neue Märkte. Weil in China die Fabriken schlossen, füllten sich die Containerschiffe in den dortigen Häfen nicht mehr. Lieferketten rissen. Die Lufthansa schickte ihre Frachtflugzeuge los, um Autoteile, Medikamente und bald auch Masken zu holen. Das Geschäft lief so gut, dass Mitarbeiter Sitze aus Passagiermaschinen schraubten und für die leeren Jets das Wort »Prachter« erfanden. Über ein provisorisches Drehkreuz in Nowosibirsk, Sibirien, flogen Crews kurz in die chinesische Gefahrenzone und wieder heraus. Covid-19 war ein Problem der anderen. Die Deutschen schickten Handyfotos aus Nowosibirsk. Umladen bei minus 35 Grad, Handschuhe, Skibrillen, breites Lächeln.

Dann kam der März. Am 12. verhängte die Regierung der Vereinigten Staaten einen Einreisestopp für Europäer, Wölfel brachen 55 Verbindungen weg. 55 Hinflüge und 55 Rückflüge über den Atlantik, die bis dahin »Rennstrecken« hießen. Am 15. machte Singapur zu. Am 16. Norwegen. Am 18. Indien. Und immer so weiter. Wölfels Netz riss. Ganze Kontinente verschwanden aus seinen Flugplänen. An einem Tag im April hoben nur noch 99 Maschinen der Konzernflotte ab, exakt ein Jahr zuvor waren es 3215 gewesen.

»Ein Planer glaubt ja, alles planen zu können, doch auf einmal ging fast nichts mehr. Wir waren machtlos«, sagt Wölfel.

Es mag verblüffen, aber Wölfel ist bis heute einer der meistbeschäftigten Menschen bei der Lufthansa. Die Krisengewinne der Frachtsparte werden das Unternehmen nicht retten. Die Lufthansa kann sich nicht in eine fliegende Post verwandeln. Sie muss bald wieder Menschen transportieren. Aber wen? Und wohin? Das muss Wölfel herausfinden. Nahezu täglich öffnet oder verschließt sich irgendwo auf der Erde ein Land. Jede Pressekonferenz eines Regierungschefs kann etwas zu bedeuten haben, auch irgendwo in Afrika. Wölfel hat Impfquoten und Mutationen im Blick und telefoniert viel mit Firmenkollegen im Ausland. »Wenn sie beschreiben, wie ruhig es immer noch auf den Straßen ist, dann wissen wir, dass es noch ein wenig dauert zurück zur Normalität«, sagt er. Doch wenn wieder was geht, muss er zur Stelle sein.

Wölfel hat erlebt, was für ein Wehklagen sich im vergangenen Jahr aus dem Weltstillstand erhob. In den Servicecentern der Lufthansa, ob in Berlin, Manila oder Kapstadt, begannen die Telefone zu klingeln. Als die Globalisierung eine Zwangspause machte, war längst nicht jeder am richtigen Ort.

Touristinnen und Touristen saßen fest. Manager, denen während der Pandemie der Job im Ausland unsicher erschien, wollten nach Hause. Pendler-Paare verloren sich aus den Augen. Austauschschülerinnen und -schüler kamen nicht zurück. Trennungskinder vermissten Mütter oder Väter. Und einige Kunden wollten wissen, ob das Virus ihren Vielfliegerstatus gefährde.

Auf einmal war Fliegen keine Selbstverständlichkeit mehr. War es eigentlich nie gewesen, auch wenn viele das vergessen hatten. Fliegen ist ja mehr als Einchecken und Aussteigen. Fliegen ist auch mehr als der Ausstoß von Kohlendioxid, Essen auf Rastertabletts und Druck in den Ohren. Fliegen ist nach wie vor das Wunder des Abhebens, Wolken von oben zu sehen und Gebirge, Meere und Datumsgrenzen zu überwinden. Lange war das Göttern vorbehalten. In der indischen Mythologie schwebt Rama im Himmelswagen Pushpaka ein, laut Koran eilte Mohammed auf seinem geflügelten Pferd Burak von Mekka nach Jerusalem. Die ersten Ballonfahrer wurden noch für ihren Übermut verspottet und nach Bruchlandungen von aufgebrachten Bauern mit Heugabeln verjagt. Fliegen war erst Scheitern, dann Staunen.

Als die Lufthansa 1926 gegründet wurde, geschah das auf Betreiben von Bankiers, Flugzeugbauern, Reedern. Die Welt war damals schon in Eile geraten, aber fremde Kontinente waren nur per Schiff zu erreichen. Nun war von der Eroberung eines »Luftozeans« die Rede, deshalb Hansa. 1928 schrieb Hermann Hesse, ein früher Gast: »Das Land meiner Jugend lag unter mir wunderlich entfaltet, sehr weit, sehr farbig, es schimmerte blaß der Bodensee.« Flugzeuge waren zugige Kisten, Fenster ließen sich öffnen, Passagiere erhielten vor dem Start Anweisungen: »Bei der Abreise nicht mit Hut, Schal oder Mütze über Bord winken, denn sie könnten durch den Luftdruck entrissen werden und Schaden an der Maschine anrichten.« Es sollte Jahrzehnte dauern, bis neue Flugzeuge nicht mehr »Komet« oder »Super Constellation« hießen, sondern – 747, 767, 787 – schnöde durchnummeriert oder einfach Airbus genannt wurden. Bus. Als gehe es von Frankfurt nach Kelsterbach.

Geht es eben nicht.

Jetzt haben sie am Frankfurter Flughafen einen kompletten Terminal dichtgemacht, die Anzeigetafeln haben ihre flattrige Nervosität verloren, draußen stehen Taxifahrer sich die Beine in den Bauch. Die meisten Fenster der Hotels bleiben schwarz, Parkhäuser liegen verlassen da wie Ruinen. So unbelebt ist das alles von monströser Hässlichkeit.

Die Lufthansa hat ihre First-Class-Lounge geschlossen, Rückzugsraum der Vielflieger, bestückt mit Ledersesseln, Schlafzimmern, Badewannen und einer Bar, an der es mehr als 20 Sorten Whisky gab. Eine globale Stammkneipe. Nun kommt alle drei Tage ein Hausmeister, dreht Wasserhähne auf und drückt Toilettenspülungen, damit sich keine Legionellen festsetzen.

Auch im Hauptquartier des Unternehmens, einem Glaskasten fast mit den Ausmaßen eines Fußballstadions, sind zwei Drittel der Büros verlassen, wurde Flatterband vor Türen und Flure gespannt. Wer in abgesperrte Bereiche will, muss den Werkschutz rufen. In Innenhöfen ragen Palmen ins Dunkel. Das Gebäude kühlt aus. Die Lufthansa, die im letzten Geschäftsjahr vor der Pandemie über sechs Milliarden Euro allein für Kerosin ausgab, spart mittlerweile an Strom- und Heizkosten. Die Kantine ist zu, wer noch ins Büro kommt, bringt sich Essen in Plastikdosen mit. Im vierten Stock telefoniert der Netzplaner Wölfel. Im sechsten tagt der Vorstand. Wenn dessen Mitglieder per Videokonferenz beraten, schaltet sich der Vorsitzende Spohr aus dem Homeoffice in München zu.

Als der Pilot Pausewang in Stuttgart landet, ist er zunächst unsicher, wohin mit seinem Airbus. »Puh, da stehen ja schon einige«, sagt er angesichts zig abgestellter Maschinen vor einer Reihe von Hangars und Hallen. Die Jets sind sorgsam ineinander verschachtelt, Heck an Bug, Bug an Heck, als habe jemand mit ihnen Tetris gespielt. Dann ein Blinklicht, ein Winken von Parkposition 26 fernab der Flugsteige. Ausrollen, abbremsen, abschnallen.

Für unabsehbare Zeit kommt die Iserlohn zum Stillstand, keine zehn Jahre alt und ohne Macken, eine Ingenieursleistung aus 340.000 Bauteilen, Endmontage in Hamburg, Listenpreis rund 100 Millionen Euro.

Ein Techniker klettert ins Cockpit. »Wir tüten eure Maschine gleich ein«, sagt er.

»In der Bordküche liegen noch Bananen«, sagt Pausewang. »Bitte nehmt die mit. Nicht dass die Füße kriegen.«

»Jetzt verlassen wir das sinkende Schiff«, raunt sein Erster Offizier.

Die beiden Männer steigen aus, die Techniker übernehmen. Sie werden die Triebwerke verhängen und Sensoren abdecken, damit Vögel und Insekten keine Nester darin bauen. An Bord bleiben der Sand und der restliche Treibstoff, als Sturmbetankung, damit der Wind die Flugzeuge nicht ineinanderschiebt. Die Lufthansa hat inzwischen Übung in allerlei Arten des Stilllegens und Konservierens bis hin zum long-term storage, einer Art künstlichem Flugzeugkoma für Maschinen, deren weitere Verwendung über Monate unklar ist. Dann werden Fenster abgeklebt, Leitungen mit Konservierungsmittel gefüllt und Batterien ausgebaut. Auf den Fahrwerken wird Korrosionsschutz aufgetragen, das Kerosin mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel versetzt, damit sich keine Bakterien in den Tanks ausbreiten.

Am Stuttgarter Flughafen geht Thomas Pausewang zur S-Bahn, einen Rückflug nach Frankfurt gibt es ja nicht. Pausewang hat keine Bahncard, Zug gefahren ist er zuletzt vor vier Jahren, das ist ihm etwas peinlich. Nun läuft er durch einen düsteren Airport wie durch eine Dystopie. Seine Silhouette spiegelt sich in den Schaufenstern von Parfümerien und Restaurants, dahinter stehen Stühle auf Tischen.

In dieser Szenerie ist Pausewang kein Verlierer; er weiß das. In der schwersten Krise der Branche sind zigtausend Servicekräfte von den Flughäfen verschwunden, spurlos, lautlos, aber kein einziger und keine einzige der rund 4600 Piloten und 360 Pilotinnen der Lufthansa musste gehen. In harten Verhandlungen haben sie eine Beschäftigungsgarantie bis ins nächste Jahr ausgehandelt – gegen Arbeitszeitverkürzung und Gehaltsverzicht. Es ist das Privileg derer, die so viel haben, dass sie auch mit weniger klarkommen. Die schon so lange dabei sind, dass sie nicht mehr viel brauchen. Thomas Pausewangs Kinder sind groß, die wichtigen Lebensentscheidungen gefällt. Plötzlich ist es ein Segen, älter zu sein. Statt eines Existenzkampfs tragen die meisten Flugkapitäne der Lufthansa bislang nur einen Konkurrenzkampf aus. Um die letzten Flüge. Um freie Plätze im Simulator. Wer nicht alle 90 Tage drei Starts und Landungen absolviert – real oder virtuell –, verliert die Berechtigung, Passagiere zu befördern.

In der Stuttgarter S-Bahn sagt Pausewang, Flugkapitän mit Lizenz Nr. DE FCL 3311007850: »Ich möchte diese Krise in keinem anderen Land dieser Welt erleben.«

In anderen Ländern dieser Welt sind einstige Angestellte des Unternehmens längst arbeitslos. Sie machen den Großteil der 29.000 aus, von denen in den Schlagzeilen die Rede war. Thailändische Stewardessen, die in Bangkok zustiegen und andere Sprachen beherrschten als ihre deutschen Kolleginnen. Küchengehilfen in Nord- und Südamerika, die an fast jedem Ort, den die Lufthansa anflog, Bordmenüs drapierten. Männer und Frauen ohne deutschen Kündigungsschutz und ohne deutsche Kurzarbeitsklauseln.

Die Lufthansa hat ihre Verluste inzwischen halbiert. Der »Kapitalabfluss«, von dem bei Bilanzmeldungen des Konzerns die Rede ist, belief sich zuletzt noch auf eine halbe Million Euro pro Stunde.

Aber das sind wieder nur Zahlen. Und Zahlen erfassen bloß das, was ist. Nichts von dem, was noch kommen könnte.

Einen Eindruck davon erhält die Flugbegleiterin Susanne Ammon in diesem Januar, auf der anderen Seite des Globus. Mehrere Wochen hat sie in ihrer Wohnung in Wiesbaden verbracht, hat gewartet, mit ihrer Mitbewohnerin gekocht, nach YouTube-Anleitungen Sport getrieben und ihren beiden Söhnen bei den Hausaufgaben geholfen. Seit fast einem Jahr ist sie in Kurzarbeit.

Dann die Mail. Ein Flug nach Singapur.

Ammon, 39, stürzt sich in die Gelegenheit. Mit hochgesteckten Haaren unter einem Pillbox-Hut läuft sie am Abend des Abflugs zur Maschine, inmitten der Crew, wieder so eine selten gewordene Szene, unwirklich gewordene Wirklichkeit. Uniformen und Rollkoffer. Viel Blau, viel Gold, viel Bein. Viel Mund-Nasen-Schutz.

Ammon ist seit 13 Jahren dabei, oft auf der Langstrecke, häufig im Airbus A380, dem größten Passagierflugzeug der Welt. Auf Reisen nach New York, Johannesburg, Miami, Shanghai und Delhi betreute sie die anspruchsvollsten der gut 500 Passagiere an Bord, acht Kunden in der First Class. Immer wieder flog Ammon auch nach Singapur, 10.000 Kilometer. Dreimal täglich steuerte das Unternehmen den Stadtstaat in Südostasien an, Handelszentrum am Äquator, Flugdrehkreuz für Ozeanien. Die Maschinen waren so voll, dass sogar eigene Topmanager schwer an Tickets kamen. Und die Flugzeuge waren so riesig, dass eigene Gates für sie gebaut werden mussten. Z58 zum Beispiel, mit drei Eingängen für die Masse der Passagiere.

Längst ist kein einziger A380 der Lufthansa mehr im Einsatz. Statt am großen Gate Z58 dockt am kleineren A58 ein Airbus A340-300 an, Taufname: Viersen. Auch diese Maschine mit ihren 279 Plätzen ist noch zu groß. 47 Gäste mit Masken steigen ein. 47 halbe Gesichter, 47 Stirnen, 47 Augenpaare.

Ammon sieht die Menschen durch eine Plexiglasbrille. Zwar wird sie regelmäßig auf Covid-19 getestet. Trotzdem müssen alle Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter diese Brille tragen, schon beim Abflug in Deutschland – auf Anweisung der Behörden in Singapur. Da der Tränenkanal der Augen mit der Nase verbunden ist, könnte das Virus durch ein beiläufiges Augenreiben seinen Weg an die Finger finden und von dort nach Singapur, das kaum mehr Infektionen verzeichnet. Touristen sind nicht willkommen. Jeder Geschäftsreisende an Bord muss der Regierung des Stadtstaats exakt dargelegt haben, warum er einreisen will und wen er wann treffen wird. Das Einhalten der Termine und Uhrzeiten wird per App überwacht. Und schon im deutschen Luftraum sieht die Flugbegleiterin Ammon mit ihrer Plastikbrille aus, als stünde ihr eine Chemiestunde bevor, kein Langstreckenflug.

Nicht mehr der Ferne Osten ist die Risikozone. Die Gefahr kommt aus dem Westen.

Auf Platz 1 A, Businessclass, streckt ein Rechtsanwalt aus München die Beine aus. Er war früher so oft unterwegs, dass seine Frau ihm passende Manschettenknöpfe geschenkt hat: auf der einen Seite ein Flugzeug, auf der anderen die Weltkugel. In Singapur stünden »fünf, sechs Termine« an, sagt er, vor allem in Asien sei es unerlässlich, sich persönlich zu zeigen. Ein trotziger Satz, konservativ und zukunftsfreudig zugleich.

Auf Platz 12 C sitzt eine Luftfahrtingenieurin aus Dresden, eine globale Nomadin, die nach einem Heimatbesuch an ihren Arbeitsplatz in Singapur zurückfliegt.

Auf den Plätzen 16 H und K ein Pärchen. Er Australier, sie Litauerin. Sie waren auf Weltreise, als die Pandemie kam, steckten erst vier Monate in Kolumbien fest und dann sechs im Baltikum.

Die Flugbegleiterin Ammon gibt Essen aus. Nach wenigen Minuten ist sie durch, wenig später räumt sie die Tabletts wieder ab, schiebt ihren Trolley in die Bordküche und sortiert den Müll. »Heute bin ich gar nicht mehr ausgepowert nach so einem Flug«, sagt sie. Früher wechselte sie mit jeder Sitzreihe die Sprache. »Wünschen Sie Hähnchen oder Pasta?« auf Deutsch, Englisch, Französisch. Die Gäste hatten zig Fragen und Probleme. Ammon kochte neuen Kaffee, holte Brötchen nach, verteilte Würfelspiele an Kinder, beruhigte Menschen mit Flugangst. Ausgerechnet jetzt, da Fliegen wieder etwas Außergewöhnliches ist, sind nur routinierte Reisende an Bord, die ihren Beistand kaum brauchen.

In der Kabine erlischt das Licht, das Flugzeug rauscht nach Osten, auf den Monitoren ziehen Wolgograd und Astrachan vorbei. Die Maschine überfliegt gerade Indien, da steigt Ammon eine kurze Treppe hinunter in einen Schlafraum, der für die Crew in den Bauch des Airbus gebaut wurde. Auf den Bildschirmen Bangladesch, der Golf von Bengalen. Zwei Stunden vor der Landung serviert Ammon das Frühstück.

Ammon war so oft in Singapur, dass sie dort ähnliche Routinen hatte wie bei einem Wochenendeinkauf daheim in Wiesbaden. Am Abend der Ankunft ging sie mit anderen Crewmitgliedern auf einem Markt nahe der berühmten Marina Bay essen. Tags darauf fuhren sie auf einem Katamaran zu einer Insel südlich der Stadt. Welche Jahreszeit in Deutschland auch herrschte, in Singapur war es immer warm. Hin und wieder besuchte Ammon eine langjährige Freundin. Und sie kaufte Gewürze für zu Hause.

Dieses Mal ist alles anders. Nach der Landung wird die Crew in einen Bus eskortiert, in ein Hotel gefahren und für die 48 Stunden bis zum Rückflug unter Quarantäne gestellt. Niemand darf den zugewiesenen Raum verlassen. Ammon verschwindet in Zimmer 962. In den folgenden Stunden und Tagen schickt sie Fotos. Über WhatsApp tauscht die Crew sich über die Frage aus, ob es die Regeln verletzt, nach dem Essen das leere Plastikgeschirr vor die Tür zu stellen, auf den Flur. Neulich wurde eine Flugbegleiterin der niederländischen Airline KLM festgenommen. Sie war in die Lobby gegangen.

Im Verlauf der Pandemie war oft von einem Versagen des Westens zu hören. Und auch von einer Demütigung, im Vergleich mit asiatischen Ländern. Susanne Ammon bekommt das in Singapur zu spüren.

Sie kannte die meisten Regeln, als sie in Wiesbaden ihren Koffer packte. Fertigsuppen, Reiscracker. Erstmals nahm sie einen Laptop mit. In ihrem Zimmer schaut sie die französische Serie Lupin auf Netflix, liest ein Buch über Selbstfindung und schreibt Bewerbungen für Zweitjobs. Sie bewirbt sich beim ZDF in der Abteilung Gästebetreuung und beim Hessischen Landeskriminalamt um eine Stelle in der Verwaltung. Im vorigen Sommer hat sie in einem Restaurant gekellnert, dann kam der Herbst-Lockdown. Ammon will weiterhin fliegen, unbedingt. Aber die Gelegenheiten sind selten.

»Ich brauche ein Gerüst für meinen Alltag«, meldet Ammon aus ihrem Zimmer, »eine Struktur.«

Sie sagt, sie schlafe schlecht. Der Hinflug hat kaum Kraft gekostet. Am Zielort fehlt die Bewegung. Sie hat keine frische Luft geatmet und keine direkte Sonne gesehen. Ammon vermisst die Treffen mit ihrer Crew. Tage hinter Glas, wie ein Fisch im Aquarium. Von ihrem Bett aus kann Ammon eine Dachterrasse sehen und dahinter ein Stück Stadt. In Singapur dürfen sich bis zu acht Personen treffen. Im Hafen dreht sich das Riesenrad. Die Restaurants sind gut gefüllt. In der Victoria Concert Hall wird ein Konzert mit Stücken von Tschaikowsky gegeben. In den Kinos ist ein neuer Film mit Denzel Washington angelaufen, The Little Things, die kleinen Dinge.

Die zwei Nächte und zwei Tage im Hotel ziehen sich wie die ganze Pandemie, die Eskorte zurück zum Flugzeug wirkt auf Susanne Ammon fast wie eine Befreiung. Wieder Brille, Handschuhe, Maske, Haar unter dem Hut. Joghurt, Obstsalat und Fladenbrote für die Passagiere. Flug durch acht Zeitzonen. Als Ammon deutschen Boden betritt, sagt sie, sie fühle sich erschlagen, gerädert. Sie steigt in ihr Auto und hört laut Musik, damit sie nicht in Sekundenschlaf fällt. Noch am Tag ihrer Rückkehr kommt aus Singapur die Nachricht, dass nun auch Geschäftsleuten aus Deutschland die Einreise verboten ist.

Helmut Wölfel, der Netzplaner, muss gerade wieder viel telefonieren, die Verbindungen den wechselnden Vorschriften anpassen. Früher schlossen seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Vertrieb Jahr für Jahr Rahmenabkommen mit anderen Dax-Konzernen ab, Reisepakete für ganze Belegschaften. Niemand bei der Lufthansa glaubt, dass diese Geschäftsleute alle zurückkommen. Schon nach der Finanzkrise hat es bei den Interkontinentalflügen sieben Jahre gedauert, bis das alte Niveau wieder erreicht war. Und damals sprach kaum jemand über den Klimawandel und schon gar niemand über Videokonferenzen.

Der Vorstand hat verkündet, 150 Flugzeuge auszumustern und weitere 10.000 Stellen zu streichen. Wölfel knüpft ein neues Netz, mit einem Team von etwa 100 Leuten. Sie reden mit Reiseveranstaltern und klappern Inseln in der Ägäis ab. Die Lufthansa hat den Tourismus zum Kern ihrer neuen Strategie erklärt. Intern ist die Rede von »Warmwasserzielen« und »Sandkisten«, die erschlossen werden sollen. Kegelclub-Destinationen. Aus den Servicecentern melden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass derzeit vor allem Privatleute anrufen. Menschen, die sich nach Urlaub sehnen. Sie fragen nach Flügen in den Süden, nicht zu weit, »Kurzstrecke«, Spanien, Italien, Griechenland. Ziele, von denen sie notfalls mit dem Auto oder einer Fähre wegkämen.

Noch haben die Deutschen die Zahlenkombinationen ihrer Kofferschlösser nicht vergessen. Der Netzplaner Wölfel geht davon aus, dass der Tourismus nach der Pandemie zuerst wieder anspringt. Im November hat die Lufthansa ihre Kooperation mit dem Ferienflieger Condor beendet, einst eine Tochtergesellschaft. Bislang brachte die Lufthansa viele Urlauber zu den Abflughäfen der Condor, dort stiegen sie um in Ferienflieger nach Heraklion, Hurghada, Cancún. Solche Sandkisten will die Firma öfter selbst anfliegen.

In Neustadt am Rübenberge, fernab aller Flughäfen, mitten in Niedersachsen, tritt Mohamed Khaled in seinem kleinen Restaurant ans Fenster, schaut in den Himmel, sieht Schichten von Stratocumulus- und Altocumuluswolken. Danach gefragt, wie er so ein Wetter beschreiben würde, antwortet er: »Ziemlich niedrige Wolkendecke, acht Achtel bewölkt, Sichtflug nicht möglich.«

Khaled ist sich da sicher, weil er Meteorologie und Navigation gelernt hat, unter anderem. Und weil er bis vor Kurzem davon ausging, er würde Lufthansa-Pilot werden und der Himmel sein Arbeitsplatz. Jetzt schneidet er Zwiebeln, wäscht Salat und brät Burger.

Wenn Mohamed Khaled seine Geschichte erzählt, klingt sie rückblickend wie ein Steigflug, der mit einem biografischen Absturz endet. 1992 geboren, Sohn libanesischer Bürgerkriegs-Flüchtlinge, in Deutschland bald Trennungskind. Der Vater handelt mit Autos, ist viel auf Reisen und dauernd weg. Als der Junge fünf ist, fliegt die Mutter mit ihm nach Brüssel. Das Kind darf ins Cockpit. Mohamed weiß nicht, was ihn da mehr verzaubert, all die Tasten, Hebel und Leuchten oder die Coolness der Piloten. Grundschule, Realschule. Wenn die Lehrerinnen fragen, was er von Beruf werden will, antwortet Mohamed, dunkle Augen, schwarzes Haar: Pilot.

»Da kam immer die Rückfrage: Und was ist Plan B?«

Khaled fährt Pizza aus. Er heiratet. Von Italienern übernehmen seine Frau und er das Restaurant, in dem er heute sitzt, Ausfallstraße, norddeutscher Klinker, Moe’s Burger, gegenüber eine Tankstelle. Auf dem Abendgymnasium holt Khaled das Abitur nach. Eine Tochter wird geboren. Am Flughafen Hannover-Langenhagen jobbt Khaled in der Abfertigung, rutscht auf Knieschonern durch Laderäume und zerrt Koffer heraus. »Ich hätte auch am Schalter stehen können«, sagt er, »aber ich wollte nah an den Flugzeugen sein.«

Khaled geht auf die 30 zu, als er sich bei der European Flight Academy in Bremen bewirbt, der traditionsreichen Flugschule der Lufthansa. Plan A! Ein Ausbildungsplatz dort ist damals quasi gleichbedeutend mit einem Pilotenvertrag. Multiple-Choice-Bögen. Konzentrationsübungen. Teamfähigkeits-Tests. Gespräche mit Psychologen. Das Auswahlverfahren dauert Tage, jeden Morgen sind weniger Bewerber übrig. Khaled kommt durch. Seine Mutter weint am Telefon. Zu Hause erwartet ihn die Familie, auf dem Tisch eine Torte mit Zuckerschrift: Pilot to be . Angehender Pilot. Er, Mohamed! Hatten die Kapitäne, die sich vor dem Start sonor aus dem Cockpit meldeten – »this is the captain speaking« –, nicht immer Manfred, Stefan oder Thomas geheißen?

Im Restaurant wischt Khaled auf einem Tablet-Computer durch die Fotogalerie wie durch einen digitalisierten Traum. »Hier das Klassenzimmer ... in der Schule Uniformpflicht ... das war vor dem ersten Flug!« Die Bilder zeigen einen Mann in blauer Hose und weißem Hemd. Stolz, gerade, mit scharf konturiertem Bart. Nach einem Jahr Theorie endlich Praxis, die Fotos nicht mehr klassenzimmergrau, sondern plötzlich rot, gelb, wüstenfarben. Die Lufthansa lässt ihre Nachwuchsflieger anfangs in Arizona ausbilden. Dort herrscht stabileres Wetter als in Bremen. Das bedeutet Flugstundengarantie, keine Verzögerung bei der Ausbildung. So groß war der Bedarf an Piloten.

Khaled macht seine ersten Flüge in einer Propellermaschine, unter ihm die Wüste, wunderlich entfaltet. Dann, vorigen März, verkündet die Schule eine »Trainingspause«. In einem der letzten Linienflugzeuge, das Amerika verlässt, reist Khaled zurück nach Deutschland. Seine Uniform lässt er in Arizona im Schrank hängen. Er glaubt, er werde bald zurückkommen. Nur die silbernen Streifen seiner Schulterklappen nimmt er mit, sicherheitshalber.

Elf Monate ist das her. Khaleds Mitschülerinnen und Mitschüler von damals sitzen heute an Supermarktkassen, liefern Pakete aus, einige sind zu ihren Eltern zurückgezogen, andere haben ein Studium aufgenommen. Khaled schichtet Burger in Neustadt am Rübenberge. Cheese, Bacon, Chicken, Veggie. Momentan nur zum Mitnehmen oder geliefert. Das Essen fährt er mit seinem Opel aus.

Die Flugschule hat Khaled nie wieder von innen gesehen. Aus der Trainingspause ist ein Ausbildungsstopp geworden. Noch im vergangenen Jahr teilte die Lufthansa Khaleds Klasse per Brief mit: »Auf sehr lange Zeit haben sämtliche Airlines weltweit keinen Bedarf an Piloten. ... Es ist ein Gebot der Fairness, Ihnen diese Branchenaussicht in aller Deutlichkeit zu erläutern. ... Wir möchten Sie ermutigen, sich beruflich neu zu orientieren.« Khaled und die anderen wurden gebeten, einen Auflösungsvertrag zu unterzeichnen. Sie fühlten sich bedroht durch den Hinweis, nur so sei eine »kostenfreie Beendigung« der Schulung möglich. Die Ausbildung kostet nämlich rund 80.000 Euro. Weil sich das kaum jemand leisten kann, auch Khaled nicht, gewährt das Unternehmen eine Art Darlehen, das die Absolventen später von ihren Pilotengehältern zurückzahlen. Es wird aber vermutlich keine Pilotengehälter mehr geben.

»Ich hatte es fast geschafft«, sagt Khaled. »Fast hätte ich die Chance gehabt, meinem Leben und dem meiner Tochter eine andere Richtung zu geben.« Noch sieben Monate, und er wäre fertig gewesen, sagt er.

Mehr als 100 Schülerinnen und Schüler haben nun Klage gegen ihre eigene Schule eingereicht, auch Khaled, eine winzige Figur in einer gewaltigen Umwälzung. Er hat alles richtig gemacht, niemand hat einen Fehler gemacht, und doch laufen seit Beginn der Pandemie Leben in diametralen Richtungen auseinander. Die Krise bietet Konzernen auf der ganzen Welt die Möglichkeit, zu entlassen, zu kürzen und zu streichen, wo sie schon immer entlassen, kürzen und streichen wollten. Alte Abteilungen werden abgestoßen und neue gegründet, in denen Tarife nicht mehr gelten. Ihren Essens-Zulieferer LSG Europe hat die Lufthansa verkauft. Bei einer neu geplanten Ferienflug-Tochter namens Eurowings Discover sollen die Gehälter unter dem bisherigen Firmenniveau liegen. In der vergangenen Woche hat die Lufthansa außerdem verkündet, Teile ihrer Pilotenschule in Bremen für immer zu schließen. Mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden schon Gespräche über einen Sozialplan geführt. Die Krise als Chance – für Controller und Kostendrücker.

»Da wird die Zukunft von Menschen umgebogen.« So sagt es Mohamed Khaled.

Wenn nachmittags bei Moe’s Burger in Neustadt am Rübenberge die Bestellungen eingehen, hat er mit seiner Frau Tomaten geschnitten und Guacamole gemacht. Khaled setzt sich dann hin und studiert die Lieferadressen. Neustadt sei eine »Flächenstadt«, sagt er, sehr weitläufig. »Man muss die Route so legen, dass am Ende nichts kalt ist.«

Mohamed Khaled macht jetzt Netzplanung in Niedersachsen.

Der Netzplaner Helmut Wölfel will es wagen, ab April wieder Maschinen von München nach Seoul zu schicken, nach Südkorea.

Der Vorstandsvorsitzende Carsten Spohr bereitet sich unterdessen auf die Veröffentlichung des neuesten Jahresgeschäftsberichts nächste Woche vor. Er wird den höchsten Verlust der Firmengeschichte verkünden müssen.

Die Flugbegleiterin Susanne Ammon hat nach ihrer Rückkehr aus Singapur beschlossen, eine Schulung zur ehrenamtlichen Hospizhelferin zu beginnen.

Und Thomas Pausewang, der die Iserlohn nach Stuttgart brachte, hat neulich zum ersten Mal in seiner Karriere als Pilot Gran Canaria angesteuert.

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Einschübe:

Kein einziger A380 der Lufthansa ist noch im Einsatz

Der Vorstandsvorsitzende wird den höchsten Verlust der Firmengeschichte verkünden müssen

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Bildunterschriften:

Am Frankfurter Flughafen betritt die Kabinenchefin ein Flugzeug namens »Viersen«, das gleich in Richtung Singapur abheben wird

Ein Airbus vom Typ A380 in Frankfurt – die Cockpitfenster sind abgeklebt, die Triebwerke abgedeckt, der riesige Jet ist außer Betrieb

Die Crew des Fluges von Frankfurt nach Singapur auf dem Weg zur Maschine, ganz links die Flugbegleiterin Susanne Ammon