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Martha und die neue Zeit

von Leo Klimm
Süddeutsche Zeitung vom 04.07.2020

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Martha und die neue Zeit

Lange wusste in Marseille keiner etwas mit dem Bunker anzufangen, den die Nazis hinterlassen hatten. Bis ein Immobilienentwickler dem Koloss nun eine neue Bestimmung gab – als Internetknotenpunkt. Doch wenn Geschäft und Geschichte aufeinanderprallen, hat das durchaus einen Preis

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Als die B-17-Kampfflieger der US Air Force am 2. Dezember 1943 Bomben auf Marseille regnen lassen, ist der Hafen verwüstet. Der Nazibunker aber hält. Und als die US-Bomber am 27. Mai 1944 wiederkehren, ist die Zerstörung noch verheerender. 1750 Menschen sterben. Der Bunker: hält.

„Alles war platt damals. Nur Martha nicht“, sagt Fabrice Coquio. Heute noch sei der Beton, aus dem Martha gebaut ist, eine Wucht. „Da bröckelt nichts! Deutsche Qualität!“ Coquio ist Franzose, aber diesen Zusatz spricht er extra auf Deutsch aus – ohne Ironie, ohne Zynismus, eher um seiner ehrlichen Bewunderung Ausdruck zu verleihen, um nicht zu sagen: seiner Begeisterung. Ein Franzose darf so was.

Martha, so hatte die deutsche Kriegsmarine ihren U-Boot-Bunker im Hafen von Marseille genannt, sollte das Herzstück des „Südwalls“ sein, mit dem das NS-Regime die Besatzung Frankreichs gegen Angriffe der Alliierten von Nordafrika her verteidigen wollte. Im Jahr 2020 steht der Koloss immer noch da. Direkt am Meer, das blau und golden in der Sonne schimmert. 208 Meter lang ist Martha, zwölf Meter hoch, die Decke 5,5 Meter dick, die Außenmauer bis zu sechs Meter breit. Unverwüstlich. Hier und dort sind Einschussstellen zu erkennen. Aber Substanz und Statik dieser etwas speziellen Immobilie, die vor ein paar Jahren Fabrice Coquios Aufmerksamkeit auf sich zog, sind hervorragend.

Den Klotz im Hafen kennt fast jeder in Marseille. Er ist ja nicht zu übersehen. Die Stadtautobahn führt direkt daran vorbei. Aber Marthas Geschichte kennt keiner, „nicht einmal der Bürgermeister kannte sie, als ich bei ihm vorgesprochen habe“, sagt Coquio. Jahrzehntelang wusste in Marseille auch niemand etwas mit Martha anzufangen. Bis der Pariser Immobilienentwickler Coquio kam und den alten deutschen Kriegshangar zum Knotenpunkt der neuen, digitalen Welt machte.

75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt Marthas zweites Leben. Aus dem U-Boot-Bunker wird ein Datentresor. Aus dem Relikt einer düsteren Zeit wird ein Zentrum der Zukunftswirtschaft. Aus Martha wird MRS3. MRS steht für Marseille, die „3“ für das insgesamt dritte Rechenzentrum, das die Firma Interxion in der Mittelmeer-Metropole eröffnet. Das Unternehmen betreibt Serverparks und Coquio leitet das Frankreich-Geschäft.

Martha ist von jetzt an das, was der Hafen von Marseille seit der Antike immer war: ein Ort des Austauschs mit Afrika und Asien. Vielleicht auch eine strategische Stellung für den Krieg – den Krieg um Daten oder den Cyberkrieg. Ob der Klotz diesmal dem Guten dient, hängt davon ab, wie die Menschen und die Unternehmen ihn nutzen. In diesen Tagen zieht der erste Kunde ein. Das heißt: der Kunde, ein Cloudanbieter, stellt seine Hochleistungscomputer in das von Interxion aufwendig umgebaute Bunkerinnere. Das ist die eine Seite von Marthas wundersamer Verwandlung.

Die andere Seite ist der Umgang mit dem, was den Bunker bisher ausmacht: seine unrühmliche Vergangenheit. Durch den Umbau gehen wichtige Zeitzeugnisse aus den Anfangsjahren verloren; Spuren französischer, deutscher, europäischer Geschichte. Hinter den neuen Gipswänden der Serverräume verschwinden bisher unerforschte Wandmalereien einstiger Wehrmachtssoldaten. Ein Kollateralschaden. Coquio nimmt ihn in Kauf. „So ist das, die Bauarbeiten schreiten eben voran“, sagt er. Das Achselzucken muss man sich dazudenken. Wenn Geschäft und Geschichte aufeinanderprallen, ist seine Wahl klar.

Dabei gerät Fabrice Coquio – ein gut gelaunter Typ, der sich für vieles begeistern kann, auch für sich selbst – noch immer ins Schwärmen, wenn er erzählt, wie er auf den U-Boot-Hangar stieß. „Es war, als ob ich auf dem Flohmarkt einen Picasso entdeckt hätte“, sagt er und lacht. Das Fundstück seines Lebens.

An einem Tag Anfang 2016 ließ er sich von Mitarbeitern des Marseiller Hafens Standorte vorführen, an denen er ein Rechenzentrum errichten könnte. Doch was man ihm anbot, gefiel ihm nicht.

Dann stach ihm Martha ins Auge. „Was ist das denn für ein Ding?“, habe er beim Vorbeifahren gefragt. „Ein leer stehender deutscher Bunker, nicht sehr interessant für Sie“, sollen die Leute von der Hafenverwaltung geantwortet haben. Coquio, so erzählt er, habe dennoch darauf bestanden, den Betonklotz auf der Stelle zu besichtigen. Und war hingerissen. Er sei bis hinauf aufs bombenfeste Dach gestiegen und habe sodann verkündet: „Das nehm’ ich!“ Eine Schiffswerft aus der Nachkriegszeit nahm Coquio gleich dazu.

Für 49 Jahre überlässt der französische Staat Interxion nun den Bunker zur Nutzung. Gegen eine Gebühr, von der Coquio nur so viel verrät: „C’est peanuts!“ Ein Schnäppchen. „Die Immobilienpreise im Hafen sind von der Wertschöpfung, die wir an diesem Ort erzielen, völlig abgekoppelt“, sagt er. „Die Liegenschaften kosten für alle das Gleiche, egal, ob man Euro-Paletten verkauft oder ein Datacenter betreibt.“ Zwar muss Interxion stolze 140 Millionen Euro für den Umbau Marthas ausgeben, um 28 Serverräume und auch Büros unterzubringen. Dennoch überwiegt bei Coquio die Freude über seinen Coup. Die U-Boot-Bunker, die von den NS-Besatzern an der französischen Atlantikküste hinterlassen wurden, dienen heute als Museum oder als Chemiedepot. Coquio hingegen macht aus seiner nazideutschen Tauchboot-Garage – der einzigen an der französischen Mittelmeerküste – einen Hightech-Hub. 250 Mitarbeiter wird er beschäftigen.

Das Geschäft mit den Rechenzentren brummt, erst recht seit der Corona-Pandemie. Unternehmen nutzen verstärkt Videokonferenzen, der Onlinehandel blüht, Streaming-Plattformen und Onlinegaming-Portale melden exponentiell steigende Nachfrage. Damit wächst auch der Bedarf an Raum, wo die Internetwirtschaft ihre Server aufstellen kann. Die Immobilienfirma Interxion – ein niederländisches Unternehmen, das vor Kurzem mit dem US-Rivalen Digital Realty zusammengegangen ist – bietet diesen Raum. Das Geschäft weist jährlich zweistellige Wachstumsraten auf. Interxions Wettbewerber heißen Global Switch oder E-Shelter. Interxions Kunden heißen Google, Amazon, Facebook, Microsoft. Und Disney. Und Tiktok. Und Airbus. Und Allianz. Und, und, und.

Der neue Serverpark MRS3, alias Martha, hat von Coquio und seinen Leuten eine rostfarbene Stahlverkleidung aufgesetzt bekommen. Das sieht schick aus und soll nebenbei die riesigen Kühlaggregate, die auf dem Dach installiert wurden, vor neugierigen Blicken und vor Salzluft schützen. Die massive Betonfassade bleibt von außen aber sichtbar.

Innen könnte man schon fast vergessen, dass dies ein alter Kriegsbunker ist. Jedenfalls im Nordteil. Neue Zwischengeschosse wurden eingezogen, damit Interxion den Platz optimal nutzen kann. Fast ein Drittel der insgesamt 7100 Quadratmeter Fläche von MRS3 ist jetzt zum Einzug fertig. Klinisch weiß getünchte, fensterlose Räume, jeder so groß wie ein Tennisplatz, sind bereit für Hunderte Server, die sich hier bald meterhoch stapeln werden. Sie werden abgeschirmt sein vor Staub und Feuchtigkeit und vor Feuer geschützt durch ein spezielles Löschsystem.

Im südlichen Gebäudeteil ist der Umbau noch in vollem Gang. Es herrscht laute Baustellengeschäftigkeit: Ein Gabelstapler liefert Zementsäcke an. In einer Ecke verlegen Elektriker Kabel. Ein Kleinlaster braust durch das mit neuem Estrich ausgegossene Erdgeschoss. Das macht die Dimensionen wieder klar, selbst wenn man im Inneren ist. Dabei war Martha erst zu einem Drittel fertiggestellt, als Marseille im August 1944 durch die Alliierten befreit wurde. Die Liegebecken für die U-Boote waren noch nicht ausgehoben.

Begonnen hatte der Bau im Mai 1943. Die monumentale Betongrotte sollte 20 kleinen U-Booten der deutschen Kriegsmarine Schutz vor Luftangriffen bieten. Die Nazi-Bautruppe Organisation Todt führte Regie; deutsche Baufirmen wie Wayss & Freytag, bis heute ein ausgewiesener Betonspezialist, halfen mit. Die harte Arbeit jedoch verrichteten Zwangsarbeiter: Franzosen, die von der Organisation Todt eingesetzt wurden, sowie Männer aus den französischen Kolonien. Der Verein Association Vauban, der heute Militärgebäude in Frankreich erforscht, schätzt die Zahl der Zwangsarbeiter auf mindestens mehrere Hundert zur gleichen Zeit. Wahrscheinlich waren es mehr. Die Archivlage ist dürr.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Martha zunächst als Lager für deutsche Kriegsgefangene. Sie mussten den zerbombten Hafen wieder funktionstüchtig machen. Dann nutzte das französische Militär Martha als Nachschublager für seine Kriege in Indochina und Algerien. Später stand das Gebäude weitgehend leer.

Jetzt wird Martha zur Serverherberge – und wertvolle, ja anrührende Zeugnisse der Geschichte verschwinden.

An den Innenwänden waren vor dem Umbau bunte Wasserfarb-Fresken deutscher Städte und Landschaften entdeckt worden. Die Malereien zeigten etwa das Ulmer Münster, die Wartburg, das Tal der Werra, den Felsen Lange Anna auf Helgoland. Ein Bild war besonders bemerkenswert: Es könnte den „braven Soldat Schwejk“ darstellen. Ausgerechnet Schwejk, jenen komischen Kriegsdienstverweigerer aus dem Satireroman von Jaroslav Hašek. „Sehr wahrscheinlich stammen diese Malereien von den Kriegsgefangenen, die von 1944 an in dem Bunker interniert waren“, sagt der Pariser Historiker Fabien Théofilakis. Er zählt zu den wenigen, die sich mit der Geschichte deutscher Kriegsgefangener in Frankreich auskennen.

Näher studieren kann Théofilakis das Schwejk-Bild und die anderen Malereien nicht mehr. Interxion lässt sie regelrecht einmauern: Notdürftig durch Spanplatten geschützt, verschwinden sie hinter einer Textilverkleidung, die wiederum von den Gipswänden der Serverräume verdeckt wird. Für mindestens 49 Jahre – sollte Interxion seinen Nutzungsvertrag mit dem französischen Staat nicht noch verlängern. Nur ein Schriftzug, der den Weg „zu den Toiletten“ weist, ist an der Wand noch zu erkennen. Auch er wird bald weichen.

Fabrice Coquio sieht das alles nicht so streng. Es ist nicht so, dass er kein Geschichtsbewusstsein hätte: Bevor die Bilder eingemauert wurden, ließ er eine virtuelle Tour durch den Bunker filmen, wie er ihn vorfand. Darin sind manche der Malereien zu sehen. Coquio hat außerdem ein reich illustriertes Buch über Martha herausgegeben. Doch einen Besichtigungsparcours zu den historischen Originalen an den Wänden einzurichten, wie er zwischenzeitlich selbst erwogen hatte – diese Idee hat der Manager verworfen. Er führt Sicherheitsgründe an: Die sensiblen Daten, die durch die Server jagen, müssten optimal geschützt sein. Publikumsverkehr ist da nicht vorgesehen. Und: Coquio will kein Martha-Museum betreiben, sondern mit MRS3 Geld verdienen. Zumal ihm der Denkmalschutz keine Auflagen gemacht hat. „Ich konnte das selbst nicht glauben“, sagt er. „Wir haben null Vorschriften, wir dürfen alles verändern.“

Die Association Vauban zeigt sich überrascht und enttäuscht. Die vor dem Umbau für Marseille zuständige Denkmalschützerin Hélène Corset-Maillard habe ihnen zugesagt, Interxion Auflagen zum Erhalt der Landschaftsmalereien zu machen, erklären Verantwortliche des Vereins. Corset-Maillard bestreitet das. „Ich habe den Bunker nie betreten“, beteuert sie. Einen Antrag, die anonymen Werke zu schützen, habe sie nicht erhalten. „Ich könnte auch nichts tun. Wie die meiste deutsche Kriegsarchitektur in der Region Marseille steht der Bunker nicht unter Denkmalschutz.“

Vielleicht liegt darin das Problem: dass Frankreich, das Interxion den geschichtsbeladenen Ort so günstig überlässt, manche Spuren dieser, seiner Geschichte nicht für schutzwürdig hält. Den Historiker Théofilakis empört das. „Die überlagerten Wandmalereien sind ein Riesenverlust“, sagt er. „Deutsche Kriegsgefangene spielen in der französischen Erinnerungskultur keine Rolle. Werden dann noch ihre materiellen Zeugnisse verwischt, wird es noch schwerer, die Erinnerung wachzuhalten.“

Nicht das Digitale verdrängt die Vergangenheit. Der Mensch tut es. „Aus Vergessenheit. Oder aus Gleichgültigkeit“, sagt Théofilakis. Interxion profitiert davon nur.

Fabrice Coquio steht auf dem Dach des neuen Rechenzentrums und blinzelt in die Frühsommersonne. Er deutet hinaus aufs Meer: „Ist das nicht eine fantastische Lage?“ Es ist aber nicht die Aussicht, die er loben will. Es ist die sagenhaft glückliche Platzierung des alten Bunkers. In unmittelbarer Nähe kommen 14 Unterseekabel in Europa an. Sie sind die Lebensadern des Datenzeitalters, verlegt und betrieben durch Telekomkonzerne, Google oder Facebook. Dank ihnen verbindet MRS3 potenziell 4,5 Milliarden Menschen in Europa, Afrika, dem Nahen Osten und Asien. 2021 kommt auch noch das erste Kabel hinzu, das Europa direkt mit Südamerika verbindet, ohne Umweg über die USA.

Dieser Kabelknoten, über den die globale Internetkommunikation läuft, ist der eigentliche Grund, warum Coquio Martha unbedingt haben wollte. Die Datenwirtschaft ist keineswegs virtuell und irgendwie ortlos. Sie braucht Platz für ihre Computer und schnelle Wege. Coquio muss ihr kurze Übertragungszeiten bieten. Für manche Kunden, etwa im Hochfrequenzhandel der Banken, geht es um jede Millisekunde. Und der Bootsbunker bietet Bestlage.

Das ist längst nicht der einzige Clou. Coquio ist auch stolz, wie findig er Energiekosten senkt: MRS3 wird so viel Strom verbrauchen wie eine 50.000-Einwohner-Stadt. Für das Kühlsystem, das die Rechner vor Überhitzung schützt, zapft Interxion einen unterirdischen Kanal an, der in der Nähe vorbeiführt. Der Kanal wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Abfluss für ein Bergwerk gebaut; sein Wasser wird nie wärmer als 15 Grad. Interxion leitet es, nach Gebrauch, auf 28 Grad erhitzt ins Meer. „Noch so ein Glücksfall“, jubelt Coquio.

Dann muss er dringend los. Das Geschäft wartet. Die Kunden drängeln. Sie brauchen Platz, immer mehr. Sie sollen ihn haben. Gerade hat Coquio die Baugenehmigung für MRS4 erhalten – das nächste Interxion-Rechenzentrum in Marseille. Es wird ein Neubau. Das hat Vorteile. Ein Neubau trägt nicht die Spuren der Geschichte.

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Bildunterschriften:

Schweres Gerät: Für die Verwandlung vom U-Boot-Hangar zum Datentresor wurden Teile des Gebäudes mithilfe von Baggern abgetragen. Keine leichte Sache – die Außenmauern sind bis zu sechs Meter dick.

Fabrice Coquio leitet die Firma Interxion in Frankreich

Innen wurden Malereien deutscher Landschaften entdeckt, hier Helgoland. Jetzt mussten sie weichen. Bei der Befreiung Marseilles war der U-Boot-Bunker noch eine Baustelle (Bild unten).