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Im Netz der Bauernfänger

von Olga Scheer
Neue Zürcher Zeitung vom 21.04.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Im Netz der Bauernfänger

Auf Zypern lizenzierte Online-Broker nutzen offenbar die Unwissenheit von Kleinanlegern aus. Das ruft Staatsanwälte auf den Plan.

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Der Baselbieter Landwirt Bernhard Keller* hatte einen Traum: Eines Tages sollte eines seiner vier Kinder den Hof übernehmen. Dafür wollte der 50-jährige Bauer, der von der Kirschenernte gut leben kann, für sich und seine Frau ein neues Haus erwerben. Nur etwas Geld fehlte ihm dafür noch. So spielte Keller mit dem Gedanken, einen Betrag am Aktienmarkt zu investieren. Er dachte dabei an rund 10 000 Fr., die er mit Gewinn später für die Anzahlung des Hauses verwenden wollte.

Doch es sollte anders kommen: Bernhard Keller investierte nicht 10 000 Fr., sondern 120 000 € und verlor die gesamte Summe. Statt in Aktien investierte er in hochspekulative Finanzprodukte, die für Kleinanleger wie Keller, die weder über ein frei verfügbares Barvermögen noch über die nötigen Kenntnisse der Finanzmärkte verfügen, absolut nicht geeignet sind. Auf der Online-Plattform Europe FX wurde Bernhard Keller zum Online-Trader, handelte Derivate mit grossem Hebel und schoss Geld nach – bis schliesslich nichts mehr übrig war. Laut Keller übten die Anlageberater von Europe FX immer wieder Druck auf ihn aus, weitere Transaktionen zu tätigen und mehr Geld auf sein Depot zu überweisen. Europe FX bestreitet den Vorwurf, Druck auf Keller ausgeübt zu haben.

Weder Bernhard Keller noch die Plattform Europe FX sind Einzelfälle. Ausser vor Europe FX warnen Anlegerschutzanwälte unter anderem auch vor den Plattformen Tradedwell, ROInvesting und Basel Capital Markets. Die Masche der Plattformen sei laut Kritikern stets ähnlich. Nichtprofessionelle Anleger würden vom Handel mit Anlageprodukten überzeugt, die für sie überhaupt nicht geeignet seien. Geworben werde mit haarsträubenden Erfolgsstorys. Über die Risiken würden die Plattformen hingegen nicht im gleichen Mass aufklären. Permanente Anrufe von Anlageberatern der Plattformen gehörten ebenfalls zur Masche. Tradedwell sieht von einer Stellungnahme zu diesen Vorwürfen ab. Europe FX und ROInvesting bestreiten die Vorwürfe und verweisen auf ihre Lizenzen aus Zypern. Basel Capital Markets teilt auf Anfrage der NZZ ihr Bedauern mit, sollte Druck auf einen ihrer Kunden ausgeübt worden sein. Gegen manche der Plattformen laufen in Deutschland und Österreich strafrechtliche Ermittlungen, zum Teil breit angelegt und seit mehreren Jahren.

Lizenziert sind die Plattformen auf Zypern, und sie verfügen über den sogenannten «europäischen Pass». Weder die schweizerische, die deutsche noch die österreichische Aufsichtsbehörde sind somit zuständig. Sie alle verweisen auf Zypern. Bis auf wenige Ausnahmen hatten Beschwerden bisher aber keine Konsequenzen.

Sponsor von Hertha BSC

Bei seiner Recherche zu Anlagemöglichkeiten stiess der Landwirt Keller im Mai 2019 auf die Website von Europe FX. Dass der Online-Broker in der Wintersaison 2018/19 Sponsor des deutschen Fussballvereins Hertha BSC war, überzeugte ihn. Der Sponsor hat mittlerweile gewechselt. Eine andere Trading-Plattform sponsert nun den Verein: Basel Capital Markets.

Kurz nach dem Website-Besuch erhielt Keller laut seinen Angaben den ersten Anruf von Europe FX. Ein Vertreter der Firma habe ihm vom Handelskrieg zwischen den USA und China erzählt, in dem angeblich bald eine Einigung erzielt werde. Vom Handelskrieg hatte Keller schon gehört. Tiefer befasst hatte er sich mit der Materie aber nicht. Doch der baldige Abschluss des Handelskriegs sei eine einmalige Chance, nun Geld in den amerikanischen Index Dow Jones zu investieren, habe der FX-Mitarbeiter gesagt. Sei der Handelskrieg Geschichte, würden die Börsen, allen voran die amerikanischen, das positiv aufnehmen. Der Dow Jones würde steigen, so die Prognose. Für Keller klang das logisch.

Der Angestellte von Europe FX soll Keller nach dessen Angaben immer wieder kontaktiert haben. Schliesslich eröffnete Keller ein Depot über die Website von Europe FX. Um mit dem bei Europe FX verfügbaren Produkt auf den Dow Jones zu investieren, habe es allerdings eine erheblich höhere Summe gebraucht, als der Kunde ursprünglich bereit war zu investieren. Plötzlich stand die Summe von 110 000 € im Raum. Zufällig verfügte Keller über diese Summe, weil er gerade eine seiner landwirtschaftlichen Maschinen verkauft hatte. Diese Summe sollte ihm allerdings als Rücklage für allfällige Reparaturen auf dem Hof dienen. Im Mai 2019 überwies Keller 110 000 € auf sein Depot bei Europe FX. Weitere 12 000 € habe er auf Anraten von Europe FX noch nachgeschossen. Der tatsächlichen Anlagerisiken sei er sich nicht bewusst gewesen, sagt Keller.

Europe FX bestreitet die Vorwürfe, dass durch undurchsichtige Argumente Überzeugungsarbeit geleistet wurde, Bernhard Keller zu animieren, eine deutlich höhere Summe zu investieren, als er ursprünglich habe ausgeben wollen.

Der Handel mit Derivaten

Damit stieg Keller in den Handel mit Derivaten ein, genauer gesagt in denjenigen mit Differenzkontrakten, kurz CFD (Contracts for Difference). Ein CFD ist ein Finanzinstrument, das eine Kapitalanlage in eine Anlageklasse ermöglicht, ohne dass man sie besitzt. Anders als bei einer Aktie verfügt der Investor nicht tatsächlich über einen Anteil an einem Unternehmen oder Ähnlichem, hat also kein Anrecht auf Mitsprache oder die Ausschüttung einer Dividende. Der Käufer beteiligt sich schlicht an einer Wette auf steigende oder fallende Kurse. Hinzu kommt meist ein Hebel, der die Wette verstärkt. Ist der Hebel 1 zu 20, bedeutet das, dass sich geringere Kursänderungen um das 20-Fache verstärken.

Setzt der Investor zum Beispiel 10 000 € auf die positive Entwicklung eines Indexes und steigt dieser um 2%, so steigt sein eingesetztes Kapital um 40%, also 4000 €. Genauso hoch wie die Gewinnchance ist allerdings auch das Risiko des Verlustes: Fällt der besagte Index um 2%, verliert der Käufer die 4000 € auf einen Schlag. CFD sind hochspekulative Anlageprodukte. In Gesprächen mit der NZZ waren von Hebeln von bis zu 1 zu 200 die Rede, um bereits realisierte Verluste wieder wettzumachen. Für das oben genannte Beispiel bedeutet das: Bei einer minimalen Bewegung von 0,5% gegen den Investor ist bereits sein ganzes Kapital von 10 000 € aufgebraucht.

Der Anwalt Markus Moser, der auf Anlagebetrug spezialisiert ist und für die Kanzlei Herfurtner von München aus operiert, kennt die Sorgen der Kunden von Trading-Plattformen. Moser vertritt Klienten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. «Die Plattformen agieren oft nach dem gleichen Schema», sagt er. «Oftmals betonen sie vor allem die Gewinnchancen, ohne über die entsprechenden Risiken aufzuklären, und bauen einen immensen Druck auf.»

Hinzu kommen laut Moser regelmässig Tricksereien bei der Einstufung der Kunden. Denn wenn ein Finanzdienstleister eine Investmentberatung vornehmen will, obliegt es seiner Pflicht, bei der Eröffnung eines Kontos die Kunden einzustufen. Nur professionelle Anleger dürfen über solche Produkte beraten werden. Als professioneller Anleger darf nur eingestuft werden, wer mindestens zwei dieser drei Kriterien erfüllt: Der Kunde muss in der Finanzbranche arbeiten und über mindestens 500 000 € verfügen oder Erfahrungen im Aktienmarkt mitbringen.

Bernhard Keller erfüllt keines dieser drei Kriterien. Mit Verweis auf die Datenschutzregelungen will Europe FX keine Stellungnahme bezüglich Kellers Einstufung abgeben. Plattformen wie Europe FX fungieren prinzipiell als Execution-only-Broker. Das bedeutet, die Kundenbetreuer geben nach Auffassungen der Plattformen keine Investmentberatung, sondern stellen lediglich Finanzinformationen bereit. Laut Keller wurden ihm gegenüber aber indirekt offenbar Handelsempfehlungen erteilt.

Wie Keller berichtet, äussert sich ein Kundenberater von Europe FX am Telefon wie folgt über den amerikanischen Index Nasdaq: Er könne ihn zu nichts zwingen. Aber er solle doch entscheiden, ob das gerade eine Verkaufen- oder Kaufen-Situation sei. Die Analysen sagten zu 100%, dass der Index gerade steigen werde. Er könne es Keller nicht garantieren. Aber er könne ihm sagen, dass er keine Erinnerung aus der Vergangenheit habe, in der es 100-prozentiges grünes Licht gab und es dann am Ende rot gekommen sei. Europe FX bestreitet den Vorwurf, Handelsempfehlungen gegenüber Keller oder anderen Kunden gegeben zu haben.

25 000 € gegen den Dow Jones

Bei Keller kam es anders als erwartet: Statt auf den Dow Jones, was Kellers ursprünglicher Plan war, wettet er bei seiner ersten Transaktion gegen das Börsenbarometer. Ein anderer Anlageberater sei mittlerweile für ihn zuständig gewesen, sagt er. Dieser habe ihm berichtet, dass in den USA bald Arbeitsmarktzahlen publiziert würden. Der Anlageberater sei sich sicher gewesen, dass die Märkte die Zahlen schlecht auffassen würden und sich der Dow Jones daher nach unten bewegen werde. Eine einmalige Chance also, mit CFD gegen das Barometer zu wetten. Keller setzt 25 000 € gegen den Dow Jones.

Doch nach der Verkündung der Arbeitsmarktzahlen fiel der Dow Jones nicht wie erwartet, sondern stieg leicht – und Kellers Portfolio lag mit 8000 € im Minus. Keller war fassungslos: Wie konnte das so schnell passieren? Er verlor die gesamten 25 000 €. «Das war für mich eine Katastrophe», sagt Keller heute. «Für mich war die Welt fortan nicht mehr die gleiche.»

Sein Anlageberater war laut Keller dennoch guter Dinge. Er soll ihm gesagt haben: «Das kriegen wir schon wieder hin.»

Permanenter Druck

Ähnliche Erfahrungen wie Bernhard Keller hat Alois Stuber* aus Österreich gemacht. Der 70-jährige Pensionär hat über die Zeitspanne von drei Monaten des vergangenen Jahres 340 000 € über seine Aktivitäten auf der Plattform ROInvesting verloren. ROInvesting verfügt ebenfalls über eine Lizenz aus Zypern, wirbt auf seiner Website mit einer Partnerschaft mit dem Fussballverein AC Mailand und bietet vor allem den Handel mit CFD an. Stuber gemäss riefen ihn fast täglich Anlageberater von ROInvesting an, damit er Transaktionen tätige. Als bereits eine erhebliche Summe seines Vermögens aufgebraucht gewesen sei, hätten die Anlageberater ihn angewiesen, weiteres Geld auf sein Depot zu überweisen. Schliesslich ist sein gesamtes Barvermögen aufgebraucht. Von all den Dingen, die Stuber in seinem Leben nach dem Erreichen der Pensionierung noch vorhatte, muss er nun absehen. ROInvesting bestreitet den Vorwurf, Druck auf Stuber ausgeübt zu haben. ROInvesting stelle lediglich Informationen bereit und leiste technische Hilfestellung, falls erwünscht.

Auch bei Bernhard Keller häuften sich die Anrufe von Europe FX, wie er sagt. Die Anlageberater wechselten zwar, doch die Masche und das Aufbauen von Druck blieben laut seiner Aussage gleich. Im Laufe des Jahres tätigte Keller zig Transaktionen. Ab und zu fuhr er leichte Gewinne ein, aber das grosse Übel konnte er nicht mehr abwenden. Am 23. Dezember 2019 summierten sich seine Verluste auf 120 000 €.

Knapp zwei Jahre nach dem ersten Anruf von Europe FX steht Bernhard Keller inmitten seiner Kirschbäume. Er hat Wildbienen bestellt, um die wenigen Knospen der Kirschen zu befruchten, die noch nicht erfroren sind. Es ist kein gutes Jahr. Zu früh war es zu warm gewesen. Doch mit den Wildbienen tut er, was er kann. Das Konto bei Europe FX hat er noch nicht geschlossen. Nur Geld hat er keins, um es in sein Depot einzuzahlen, da können die Anlageberater noch so oft anrufen. «Es klang alles so einfach», sagt Keller und spricht von dem Haus, das er so gerne gekauft hätte.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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Bildunterschrift:

Anlageberater bieten auf Websites Produkte an, die schlicht Wetten auf steigende oder fallende Kurse sind.