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Heuschreckenfraß

von Ulrich Stolte
Stuttgarter Zeitung vom 20.04.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Heuschreckenfraß

Wie ein estnischer Geschäftsmann mit einem Euro Einsatz offenbar eine Million Euro verdiente, indem er zwei Druckereien in die Pleite trieb, die einen Schuldenberg von 23 Millionen Euro hinterließen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

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Als Victor Pataco vor fünf Jahren bei Körner Druck in Sindelfingen anfing, glaubte er, das große Los gezogen zu haben. Sein letzter Arbeitgeber, eine Zeitungsdruckerei im Großraum Stuttgart, war liquidiert worden. Pataco, 45, hatte jeden Tag knapp 50 Kilometer Fahrt auf sich genommen, um dort zu arbeiten, das machte ihm nichts aus, er liebte seinen Beruf. Der bullige Mann wollte nicht weg aus seinem Dorf Nufringen bei Herrenberg. Ein portugiesischer Schwabe, bodenständig und heimatverbunden.
Verglichen mit der Zeitungsdruckerei lag sein neuer Arbeitgeber vor der Haustür. Körner Druck war ein kerngesundes mittelständisches Unternehmen, das Prospekte und Broschüren druckte. Doch immer mehr zeichnete sich ab, wie sehr die Druckindustrie durch die digitale Welt in Bedrängnis geraten ist. Inzwischen herrscht in der Branche ein knallharter Verdrängungswettbewerb.
Auch Pataco wurde von der Krise wieder eingeholt. Die Turbulenzen begannen im Jahr 2016, als Körner Druck Teil einer Firmengruppe wurde, zu der auch die Firma J. Fink in Ostfildern gehörte. Die Gruppe war schnell gewachsen, ihr Ertrag wuchs nicht. 2018 meldete sie Insolvenz in Eigenverwaltung an.
Im Dezember 2018 kaufte die niederländische Circle Media Group die Firmen Körner Druck und J. Fink. Fünf Monate später reichte sie die Betriebe an die finnische Printers Media Group weiter. Einen Euro bezahlte der estnische Geschäftsführer Erki Katkosild für die beiden Firmen mit 220 Mitarbeiter und 43 Millionen Euro Umsatz. Von Katkosild weiß man, dass er in der Estonia Business School in Tallinn gelernt und bis 2018 als Assistant Manager in der Unternehmensberatung Ernst & Young gearbeitet hat. Normalerweise pumpt ein Investor Geld in einen angeschlagenen Betrieb, um ihn wieder hochzubringen. Hier passierte das Gegenteil.
Die Belegschaft von Körner Druck war zunächst überglücklich, dass sich ein Investor für das Unternehmen interessierte und die Arbeit dort weiterging. Etwas merkwürdig war nur: Der Mann, der Aufträge hereinschaffen und mit schwäbischen Banken und Kunden verhandeln sollte, sprach kein Wort Deutsch und war praktisch nie in der Firma anzutreffen. Aber Hauptsache, der Laden läuft, dachte man sich.
Er lief bis August 2019. Victor Pataco, Gewerkschafter bei Verdi und Betriebsratsvorsitzender bei Körner Druck, erinnert sich daran, dass ihn Erki Katkosild damals anrief: „Die Aufträge von Edeka und Kaufland brechen weg, was sollen wir machen?“ – „Dann können wir zumachen“, antwortete ihm Pataco. Schließlich machten diese Aufträge rund 70 Prozent des Geschäftsvolumens aus. Immer wieder fragte Pataco bei der Geschäftsleitung an und beschwor den Manager, die Firma in die Insolvenz gehen zu lassen, um noch zu retten, was zu retten war. „Doch Katkosild machte weiter“, sagt Pataco.
Bald zeichnete sich der Untergang ab. Erst kam der Lohn nur noch in der Mitte des Monats, dann wurde immer weniger gezahlt und schließlich gar nichts mehr. Die Notbremse zog schließlich eine Krankenkasse, die keine Beiträge mehr bekam. Das Insolvenzverfahren wurde im Frühjahr 2020 eröffnet.
Viel zu spät. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Firma nicht einmal mehr ihre Stromrechnungen bezahlen und stellte Dieselaggregate auf den Hof, die sie schamhaft hinter großen Farbbehältern versteckte. Die Computer mussten laufen, damit der Insolvenzverwalter der renommierten Münchener Kanzlei Schultze & Braun überhaupt die Bücher einsehen konnte. Der Jurist Dietmar Haffa erlebte bei J. Fink und auch bei Körner Druck das schiere Chaos. In der zurückhaltenden Sprache seiner Kanzlei erklärt er: „Der Geschäftsführer war zu wenig achtsam, weswegen die Buchhaltung unvollständig, in sich nicht stimmig und in großer Unordnung ist.“
Es begann eine schlimme Zeit. Am meisten belasteten Pataco die Anrufe der Kollegen, denen das Geld ausging, weil der Lohn ausblieb. „Was soll ich machen, mein Kühlschrank ist leer?“, hörte er. Und: „Ich weiß nicht, wie ich meine Wohnung zahlen soll.“
„Tut doch was!“, forderte die Belegschaft den Betriebsrat auf. Aber was? „Wir waren alle ohnmächtig gegen das, was auf uns zukam“, sagt Pataco. Gegen seine innere Überzeugung riet er allen, sich neue Jobs zu suchen. Bis auf 40 Kollegen kamen alle unter. Indessen schlug sich Pataco mit Begriffen herum wie „Gleichwohlgewährung“ und „Interessensausgleich“, von denen er noch nie gehört hatte und die bedeuteten, dass wenigstens etwas auf die Konten der Mitarbeiter floss.
„Was war der Plan von Erki Katkosild?“, fragt sich Victor Pataco bis heute. „Ich verstehe das einfach nicht.“ Vielleicht hilft ein Blick in die Gläubiger-Berichte weiter, die im Internet stehen und die jedem Gläubiger offen stehen, auch den Arbeitern, die bei Körner Druck und J. Fink beschäftigt waren.
Aus diesen Berichten geht hervor, dass etwa eine Million Euro aus der Insolvenzmasse von Körner Druck und von J. Fink in Firmen geflossen sind, die im Dunstkreis von Erki Katkosild stehen.
Inmitten der Turbulenzen im Sommer 2020, als Körner Druck längst keine Löhne mehr zahlte, tauchte Körner Druck auf der Internet-Investitionsplattform Estateguru.co auf. Nach den Recherchen unserer Zeitung sammelte dort ein unbekannter Geschäftsmann 1,5 Millionen Euro ein, um das Grundstück und das Gebäude von Kröner Druck zu kaufen, das nach seinen Angaben 3,8 Millionen Euro wert sei. Auch wurde behauptet, dass Körner für das Grundstück noch 33 332 Euro monatliche Miete zahle. Die Geldgeber lockte er mit dem astronomischen Zinssatz von zwölf Prozent. Weil die Firma längst pleite war, könnte das einem Betrug gleichkommen, schließlich müsste das Grundstück zur Insolvenzmassen gehören und dürfte nicht einfach verkauft werden. Wer hinter dem Geschäft steckt, das verrät Estateguru.co nicht.
Um mehr über das Geschäftsmodell von Erki Katkosild zu erfahren, muss man rund 2500 Kilometer weit reisen. Nach Südfinnland. Bislang war nur bekannt, dass Körner Druck und J. Fink unter einer Dachgesellschaft namens Printers Group zusammengefasst waren. Nach unseren Recherchen gehörte zur Printers Group auch die ehemals größte Tiefdruckerei Skandinaviens, die Firma Helprint aus Finnland. Sie beherrschte den Markt und druckte alles, vom Magazin bis zum Ikea-Katalog. Helprint war Ende 2019 in die Knie gegangen, 100 Mitarbeiter verloren ihren Job, das offizielle Ende erfolgte im März 2020. Eine Katastrophe für die 50 000-Einwohner-Stadt Mikkeli.
Der finnische Journalist Mikko Kontti von der regionalen Tageszeitung „Länsi-Savo“ hat jahrelang über Helprint berichtet. Seine Recherchen zeigen, dass der Untergang von Körner Druck und J. Fink ähnlich zum Ende von Helprint verlief.
Sobald die Printers Group die Druckerei Helprint übernommen hatte, waren auch dort die Löhne nur noch schleppend und zuletzt gar nicht mehr gezahlt worden. Auch dort hatte sich Erki Katkosild rar gemacht und war kaum noch zu erreichen gewesen. Auch dort war die Firma binnen Monaten in die Insolvenz gegangen.
Er habe aus sicherer Quelle, dass Erki Katkosild über eine seiner Gesellschaften nach wie vor der Eigentümer des Grundstücks von Helprint sei, sagt Mikko Kontti. Der finnische Insolvenzverwalter Jari Salminen teilt mit, dass im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch von Helprint bereits Ermittlungen von den finnischen Strafverfolgungsbehörden aufgenommen wurden. Auch bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft liegen Anzeigen gegen Erki Katkosild vor, die gerade geprüft würden. „Beide Insolvenzverfahren werden noch Jahre dauern“, sagt Dietmar Haffa von der Kanzlei Schultze & Braun.
Damit ergibt sich folgender Verdacht: Erki Katkosild kauft kranke Firmen für wenig Geld, verkauft offenbar die Grundstücke und Firmengebäude und wirtschaftet möglicherweise den Erlös über Zwischenfirmen in die eigene Tasche. Die Gläubiger, und dazu zählen auch die Arbeiter mit ihren Lohnforderungen, gehen dabei leer aus. Bei Körner Druck und J. Fink hätte er so mit einem Euro Einsatz einen Gewinn von einer Million Euro erzielt. Dafür sind allein 220 Menschen arbeitslos geworden und ein Schuldenberg von rund 23,6 Millionen Euro entstand.
Erki Katkosild reagiert mittlerweile nicht mehr auf Anrufe und E-Mails. In einem früheren Gespräch machte er die Coronapandemie für die Pleiten von Körner Druck und J. Fink verantwortlich, durch die das Geschäft um 30 Prozent eingebrochen sei. Auch waren ja die Edeka- und Kaufland-Aufträge weggefallen.
Die Dieselgeneratoren laufen noch immer auf dem Hof von Körner Druck. Jetzt liefern die Aggregate Strom für die Monteure, die gerade die letzten Reste des Maschinenparks zerlegen. Einer schraubt an diesem Vormittag an den Zuleitungen für die Maschinen, ein Mann sitzt im Türrahmen eines Rolltors und vespert. Das Auto eines Händlers für Büromöbel parkt auf dem Hof, wohl um die Einrichtung der Geschäftszimmer abzuholen.
Victor Pataco steht auf dem Gehweg vor der Firma in der Gutenbergstraße in Sindelfingen. Der Wind weht feine Ascheflocken aus den Abgasrohren herüber. Ganz hinten ist die Maschine zu sehen, an der Pataco fünf Jahre lang jeden Arbeitstag gestanden hat. Sie ist so groß wie ein Lastwagen. Mit einer Geschwindigkeit von 70 000 Exemplaren pro Stunde wurden hier Werbeblätter gedruckt. „Allein der Trockner für die Druckstraße war 17 Meter lang, die war einmal 20 Millionen Euro wert“, erzählt Victor Pataco mit leuchtenden Augen. „Weißt du, Drucker, das war mein Traumberuf. Das darf ich ja gar keinem sagen.“ Er wendet sich ab.

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Einschübe:

Zunächst war
die Belegschaft
glücklich, dass
sich ein Investor
für die Firma
interessierte.

Der Untergang
der finnischen
Druckerei Helprint
vollzog sich
ähnlich wie bei
Körner Druck.

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Bildunterschrift:

Victor Pataco hat fünf Jahre lang bei Körner Druck in Sindelfingen gearbeitet, bis die Firma zusammen mit J. Fink aus Ostfildern in die Insolvenz ging – und die Insolvenzmasse verschwand.