Skip to main content

Heu wie Geld

von Leo Klimm
Süddeutsche Zeitung vom 19.06.2021

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.

Heu wie Geld

Champagner und Chanel kennt jeder, aber aus Frankreich kommt auch Edelfutter für Rennpferde – Heu aus der Crau. Der Emir von Dubai zählt zu den Fans. Doch der Anbau schafft ein großes Problem

-----

Es wird Regen geben. Dunkle Wolken kündigen ihn an. Der Regen ist David Doulières Feind. Er macht das Heu und den Preis kaputt. Wenn das Gras feucht wird, das jetzt gemäht auf der Wiese liegt und so kräftig und blumig riecht: Wie soll Doulière es dann noch als das beste Heu der Welt verkaufen?

„Das wäre dra-ma-tique“, sagt Doulière. Er schaut kurz zum Himmel. In seinem Wettlauf gegen den Regen heizt er schon den ganzen Nachmittag auf dem Gabelstapler über die Wiesen rund um das Château de Vilpail, eine der ersten Adressen für Heu hier in der Crau, Südfrankreich. Hektisch, aber routiniert gabelt er einen Ballen nach dem anderen auf. Stapelt sie auf seinen Laster und brettert mit dem 44-Tonner über den Feldweg zum großen Hangar, schnell die Ernte einfahren. Immer wieder, immer die gleichen Arbeitsgänge, solange es trocken bleibt an diesem Frühlingstag. Ist Gefahr im Verzug, legt der Heuhändler David Doulière, 59, selbst Hand an. Auf den umliegenden Feldern fahren seine Mitarbeiter auf Traktoren herum und tun das Gleiche wie er.

Doulière steigt vom Gabelstapler und hebt ein Büschel gemähtes Gras auf. „Schön grün ist es ja“, sagt er. „Aber es ist jetzt schon zu feucht!“ Damit das Heu die Restfeuchtigkeit von nur 14 Prozent erreicht, die er den Kunden verspricht, müsste der Mistral wehen, der trockene Landwind aus Nord. Seit Tagen jedoch bläst Seewind vom nahen Mittelmeer herüber. „Wenn das so weitergeht, wird 2021 ein schlechter Jahrgang“, sagt Doulière. Die erste Mahd jetzt im Juni bestimmt den Preis auch der zweiten und dritten Mahd, die später folgen. Und: Der erste Schnitt enthält die meisten Ballaststoffe. Ihn verkaufen Doulière und die Heubauern der Crau als Futter an die Besitzer hochgezüchteter Rennpferde überall in der Welt – nach Deutschland und Großbritannien, in die Arabischen Emirate oder auf die Karibikinsel Saint Lucia.

Heu aus der Crau ist purer französischer Luxus. Ein aufwendig hergestelltes Produkt für die Gourmets unter den Pferden und die Connaisseure unter den Haltern. Ein Grand Cru unter den Futtermitteln, seit 1997 geschützt durch die Herkunftsbezeichnung AOP, mit der sonst Wein und Weichkäse verkauft werden. Als erstes Erzeugnis überhaupt, das nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt ist, bekam das Heu das begehrte Label. Derzeit wird es für 200 bis 250 Euro je Tonne gehandelt, so teuer wie Mais. Viel Geld für getrocknetes Gras. Deutsches Heu ist ein Drittel günstiger. „Es gibt Champagner, es gibt Chanel, und es gibt Crau-Heu“, sagt Doulière. Es mangelt den Wiesenbauern nicht an Selbstbewusstsein.

Ihr grünes Gold wächst in einer ziemlich vergessenen, verkannten Gegend

Dabei wächst ihr grünes Gold in einer ziemlich vergessenen, verkannten Gegend. Alle Aufmerksamkeit gilt den Bilderbuchlandschaften, von denen die Crau umrahmt wird: Im Westen grenzt die Camargue an, wo die Lagunen im Gegenlicht schimmern und die Flamingos wohnen. Im Osten liegt die Provence mit ihren malerischen Dörfern und den berühmten Lavendelfeldern. Die Crau befindet sich als brettflache Ebene genau dazwischen – und hat zwei sehr verschiedene Gesichter: Zum Meer hin ist sie sprödes, leeres Ödland; eine Steppe, in der die Luft flirrt und kaum mehr gedeiht als vermickerter Thymian. Im Nordteil dagegen wächst üppiges Grün: Dank ausgeklügelter Bewässerungskanäle, die seit dem 16. Jahrhundert Wasser aus den Alpen heranführen und die insgesamt 2000 Kilometer lang sind, ist die Crau humide, die feuchte Crau, eine Oase aus Wiesen und Hecken. Mehr englische Grafschaft als mediterrane Landschaft. Hier ernten die Bauern auf 13.500 Hektar ihre kostbare Ware.

Es könnte alles idyllisch sein. David Doulière und die übrigen 300 Mitglieder des örtlichen Heu-Verbands könnten unbehelligt ihrem Geschäft nachgehen. Könnten. Wäre der Landstrich nicht von allen Seiten bedroht. Zum Beispiel durch fünf Erdöl-Pipelines, die unter den Wiesen hindurchführen. Oder durch neue Autobahnen, die sich in die Ebene fressen. Und: Würde in Anbetracht des Klimawandels das Luxus-Heu nicht selbst zum Problem.

Der Wasserbedarf entspricht 2,5 Milliarden vollen Badewannen

Damit es wächst, brauchen die Bauern zwar keinen Regen, aber dennoch Unmengen an Wasser, das sie über ihre Kanäle aus dem Alpenfluss Durance abzweigen. Jährlich 300 Millionen Kubikmeter sind es nach Angaben des Verbands für Crau-Heu. Das entspricht 2,5 Milliarden vollen Badewannen. Gleichzeitig wird Wasser in Südfrankreich immer knapper. Doulière und die Heubauern sehen sich deshalb zunehmend mit kritischen Fragen konfrontiert: Ist dieser Wasserverbrauch vertretbar, nur damit in der Steppe sattgrünes Gras gedeiht? Kann eine Gaumenfreude für Edeltiere so etwas rechtfertigen? Oder ist das dekadent?

Der Konflikt beginnt gerade erst. „An der Bewässerung darf sich nichts ändern“, sagt Doulière trotzig. „Das wäre dra-ma-tique“, was sonst. In der Crau geht es ihm zufolge nicht allein um wirtschaftliche Interessen und um Umweltfragen, sondern auch um den Erhalt einer fast 500 Jahre alten Kulturlandschaft. Schon Vincent van Gogh malte die Heuernte, als er 1888 im benachbarten Arles lebte.

Anno 2021 läuft die Ernte nicht mehr mit Rechen und Ochsenkarren, sondern mit automatisierten Ballenpressen und Gabelstaplern. Doulière hetzt weiter über die Wiesen. Je bedrohlicher die Wolken werden, desto schneller räumt er die schweren Heuballen vom Feld, als seien es leichte Bauklötzchen. Um 19.30 Uhr ist Schluss: Es schüttet wie aus Kübeln. Doulière hat an diesem Tag ein Drittel der ersten Mahd eingefahren. Der Rest muss nun auf den Wiesen warten, mindestens fünf regenfreie Tage lang, bis er eingesammelt werden darf.

Heuherstellung wird in der Crau zur Kunst erhoben. Ein scheinbar banales Erzeugnis wird nach präzisen Regeln veredelt – unter Zuhilfenahme der Sonne, des Mistrals und des kontrollierten Einsatzes von Wasser: Von März bis September werden die Wiesen alle acht bis zehn Tage mithilfe kleiner Schleusen geflutet. Zehn Stunden lang werden sie bewässert; länger nicht, sonst fault das Gras. Was nicht versickert, fließt in umliegende Gräben ab. Das Durance-Wasser säubert die Halme und führt zugleich Nährstoffe nach. Das wiederum macht drei Ernten pro Jahr möglich. Die erste davon geht an die Pferde. Die anderen beiden werden an Kühe und Schafe verfüttert, als Vorprodukt für feinen französischen Käse.

Einziger Dünger ist der Mist der Schafe, die im Winter über die Wiesen getrieben werden. Die AOP-Vorschriften verbieten Pflanzenschutzmittel. Bis zu 32 Sorten Gräser, Kräuter und Blumen sind im Crau-Heu; fünf Pflanzen, darunter der gewöhnliche Glatthafer, müssen zwingend enthalten sein. Eine andere Regel besagt, dass die Ballen, sind sie erst einmal geschnürt, nicht über Nacht auf dem Feld bleiben dürfen. Überhaupt, beim Packaging der Ballen sind die Bauern echte Marketingprofis: Ihr Heu ist nur echt, wenn es mit einer speziellen rot-weißen Schnur gebunden ist. Sie ist ein geschütztes Markenzeichen. Regelmäßig ermittelt Frankreichs Betrugsbekämpfungsbehörde wegen Fälschungen. Einmal wurde in Irland falsches Crau-Heu aus dem Verkehr gezogen, das tatsächlich aus Kanada kam. Ein andermal wurden Imitate in Deutschland aufgespürt.

Einer, der das Futter aus Frankreich besonders schätzt, ist der Bochumer Heuhändler Klaus Hart. Er gehört zu den wenigen, die Crau-Heu nach Deutschland importieren, „für Rennpferde der ersten Kategorie“. Heimische Produktion kommt ihm nicht mehr in die Scheune – sie sei zu zuckerhaltig, zu feucht, zu oft mit Erde verschmutzt. Es ist, als ob man Schweinsbraten mit provenzalischem Salat vergleicht. „Das Crau-Heu macht die Pferde fit, nicht fett. Es ist mineralhaltig und reich an Proteinen“, schwärmt Hart. „Es ist trocken, aber nicht staubig.“ Das ist wichtig für die Lungen der sensiblen Stars der Rennbahn. Ist Erde im Futter, kann das über Sieg und Niederlage entscheiden. Tierliebe geht durch den Magen. Der sportliche Erfolg auch.

Über David Doulières Schreibtisch im Gewerbegebiet von Saint-Martin-de-Crau, dem Hauptort der Heu-Oase, hängen Porträtfotos von zwei seiner besten Kunden: die Galoppstute Trêve und der Traberchampion Timoko. Sie haben – auch dank des Super-Heus, glaubt Doulière – jeweils mehrere Millionen Euro an Preisgeld ersprintet. „Ich liefere höchste Qualität“, sagt er. Falls ein Kunde doch nicht zufrieden sei, greife die Geld-zurück-Garantie. Doulière erstattet dann den Preis oder liefert frische Ware. Neulich zum Beispiel fand ein Schweizer Kunde grüne Borstenhirse im Heu. Das ist schlecht. Borstenhirse verursacht Entzündungen am Pferdegebiss. „Unser Heu ist ein Naturprodukt, kein Synthetikanbau“, sagt Doulière, „da kann sowas leider passieren.“

Das musste auch der Emir von Dubai lernen. Doulière erzählt, wie Mohammed bin Raschid al-Maktum ihn aus Frankreich einfliegen ließ, regelrecht herbeizitierte. Die Pferdepfleger des Emirs hatten im Crau-Heu kleine Knochen gefunden. „Da saß beim Mähen wohl ein Hase im Gras“, sagt Doulière. „Ich habe ihnen dann erklärt, was eine Prärie ist, dass da Wildtiere drin leben.“ Der Herrscher, der schon mal 500 Euro je Tonne Heu bezahlt, ließ sich besänftigen. Doulière bleibt Hoflieferant.

Ja, die Prärie lebt. Im Südteil ist die Crau zwar noch immer eine von Steinen übersäte Steppe. Dem antiken Dichter Aischylos zufolge wurde Herakles hier einst von den Ligurern bedrängt. Da ließ Zeus Steine herabregnen, um die Feinde des Herakles in die Flucht zu schlagen. Das ist die Legende. Geologisch betrachtet ist der viele Schotter der Überrest des früheren Deltas der Durance, die sich bis zur letzten Eiszeit hier ins Meer ergoss. Und auch diese Steinsteppe lebt.

Die Crau-Heuschrecke zum Beispiel, die nur hier vorkommt, ist überlebenswichtiges Nahrungsmittel für viele Vögel, etwa das Spießflughuhn. Beide, Schrecke und Flughuhn, sind vom Aussterben bedroht. Die letzten Vorkommen finden sich ausgerechnet auf dem Gelände einer Auto-Teststrecke, die BMW mitten in der Crau betreibt. Der Mensch nutzt den leeren Landstrich für so manches, was er nicht in seiner Nähe haben mag. Für den Militärflughafen Istres etwa, für eine Dynamitfabrik, für den Müllberg von Marseille. Auch für die Pipelines, von denen 2009 eine zerbarst; 46.000 Tonnen Erdreich waren verseucht. Dort, wo die Crau das Mittelmeer berührt, erheben sich die schmutzenden Schlote der Raffinerien von Fos-sur-Mer. Es wirkt fast wie ein Wunder, dass das Heu keine beunruhigende Giftbelastung aufweist, wie Messungen des unabhängigen Institut Ecocitoyen ergaben.

Seit 2001 ist ein kleiner Teil der Crau Naturschutzgebiet. Doch die Gefahr, die die Heubauern am meisten fürchten, hält das nicht auf: Um sie herum werden Autobahnen ausgebaut, und es entstehen immer neue Warenlager, weil sich hier die Wege vom Marseiller Hafen nach Spanien und nach Nordeuropa kreuzen. Der Flächenfraß geht vor allem zulasten der Heuwiesen. Lädiertes Land.

Doulière und der Heubauern-Verband sehen sich als Verteidiger dieses Landes. Dass man ihnen aber immer öfter vorwirft, ihre wasserreiche Landschaftspflege sei selbst eine Ökosünde, macht Doulière wütend. „Wir sind doch keine Verschwender“, sagt er.

Annick Mièvre sieht das etwas anders. Die Leiterin der staatlichen Wasserwirtschaftsagentur für den Raum Marseille findet, dass die Bauern zu viel aus der Durance entnehmen. Der Fluss versorgt nicht nur die Crau, sondern sichert das Leitungswasser für insgesamt 3,5 Millionen Menschen. „Die Ressource wird knapp“, warnt Mièvre. Das Ökosystem des Flusses drohe aus dem Gleichgewicht zu geraten. Die Klimamodelle für die Zeit bis 2065 sagen für das Gebiet der Durance deutlich weniger Schnee im Winter voraus und Niedrigstpegel im Sommer. „Die Losung lautet Wassersparen“, sagt Mièvre. Sie macht Druck, damit die Heuwirtschaft nur so viel aus dem Fluss abzweigt, wie sie wirklich braucht – zumal ein Großteil der Bewässerungsmenge ungenutzt abfließt. Die Wassergebühr hat die Agentur seit 2012 schon mehr als verdoppelt.

„Wir müssen die Aufnahme ins Unesco-Weltkulturerbe beantragen.“

Zuletzt hat der Heu-Verband zumindest darin eingewilligt, dass sein Anteil an einer Staudamm-Reserve am Oberlauf der Durance in den Sommermonaten zugunsten der Stromproduktion verringert wird. Ansonsten verweist er darauf, dass das Wiesenwasser zu Grundwasser versickert und so zur Versorgung der Bevölkerung beiträgt. Mièvre lässt das nicht gelten. „Es gibt effizientere Möglichkeiten der Trinkwasserversorgung.“

Trinkwasser, Stromerzeugung und auch der konkurrierende Obstbau – im Verteilungskampf um das Durance-Wasser stehen viele Interessen gegen das Heu für Rennpferde. Doulière aber glaubt zu wissen, wie seine Branche aus der Defensive kommt: „Wir müssen die Aufnahme ins Unesco-Weltkulturerbe beantragen“, sagt er. „Wir erhalten eine Kulturlandschaft und die Artenvielfalt.“ Außerdem, so rechnet er vor, bänden 4000 Hektar Heuwiese jährlich 65.000 Tonnen CO2. Soll ihm nur jemand mit dem Klimawandel kommen.

Sein Geschäft jedenfalls soll weiter wachsen. Wegen Corona hatte es etwas gelitten. Es gab weniger Pferderennen. Manche Trainer verfütterten deshalb öfter mal Billig-Heu. Aber jetzt zieht die Nachfrage wieder an. Doulière hat sich für zwei Millionen Euro eine Maschine aus den USA angeschafft, die das Heu maximal komprimiert und in kleine, dichte Ballen stückelt. „Das erleichtert den Export“, frohlockt er.

Im fernen Bochum sitzt Klaus Hart, der Importeur. Auch er denkt darüber nach, wie sich mit Crau-Heu noch mehr verdienen lässt. Seit Kurzem verkauft er es an Meerschweinchen-Besitzer. Meerschweinchen sind auch empfindliche Tiere. „Das läuft sehr gut an“, erzählt Hart. „Die Leute sind bereit, viel zu bezahlen.“ Sechs Euro verlangt er für ein Kilo Meerschweinchen-Heu aus der Crau. Macht hochgerechnet 6000 Euro je Tonne.

-----

Bildunterschrift:

Sattgrünes Gras gedeiht in der Crau, einem Landstrich zwischen Provence und Camargue. Das Heu wird von Rennpferd-Haltern weltweit geschätzt, auch der Traberchampion Timoko (Bild unten) wird damit ernährt, David Doulière (darunter) lebt davon. Aber das Idyll ist durch Umweltgefahren bedroht, wie durch diesen Pipeline-Bruch im Jahr 2009 (ganz unten).